Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden. Fahimeh Farsaie
stellte sich sofort auf meine Seite: »Lass das Kind, Abbas! Ist jetzt der geeignete Moment, um mit ihr über die deutsche Sprache zu diskutieren? Lass uns erst mal abwarten, was mit uns passiert! Wie lange müssen wir noch hier warten? Stecken sie uns nun ins Gefängnis? Wohin sind die Polizisten gegangen?«
Um die für mich unbegreiflichen Sorgen meiner Mutter zu verdrängen, begann ich, während ich auf die Spitzen meiner roten Schuhe starrte, die Wörter noch einmal zu wiederholen, in der Hoffnung, so schnell wie möglich aus dieser Sackgasse herauszukommen. Meine Großmutter, Mansureh Khanoom, macht es genauso, wenn sie eine Vereinbarung mit Gott trifft; dann spricht sie nämlich stundenlang Gebete auf Arabisch, ohne mit deren Bedeutung vertraut zu sein. Plötzlich stellte ich fest, dass sich meine Lippen bei »Ausweis«, »Schaufel« und »Ruhe« wie eine Knospe spitzten. Bisher musste ich immer, wenn Sima Khanoom mich hatte fotografieren wollen, »Hooloo« – Pfirsich – sagen, damit mein Mund sich wie eine Knospe formte, und jedes Mal sagte sie dann: »So siehst du auf dem Foto schöner aus. Hübsche Leute werden von allen geliebt. Deshalb sind sie immer gut gelaunt und nett. Ihre Wünsche gehen auch alle in Erfüllung.« Von jetzt an würden vielleicht alle meine Wünsche in Erfüllung gehen, wenn ich nur ausdrücklich um »Ruhe« bat!
Als der Abend dämmerte, nahmen die Polizisten das affenhafte Hin- und Herhüpfen meines Vaters als Unschuldsbeweis an, und wir durften die Wache verlassen. Auf dem Nachhauseweg beschwerte sich Abbas Agha über die komplizierten Regeln der deutschen Sprache und sagte am Schluss, dass deren harter Klang, den er aus Spielfilmen und aus Reden von Hitler, Himmler und Goebbels kannte, eine gewisse Antipathie in ihm hervorriefe. Meine Mutter, die wahrscheinlich am ersten Abend des Wiedersehens ihrem Mann nicht ständig widersprechen wollte, lenkte meine Aufmerksamkeit auf die endlosen Grünanlagen und prachtvoll mit Licht und bunten Reklamen eingerichteten Schaufenster. Ich hörte ihr staunend zu und nickte verwirrt.
Am Abend saßen wir zum ersten Mal nach langer Zeit in Abbas’ Einzimmer-Appartement zusammen und sahen zu dritt fern. Es wurden Nachrichten gesendet, die eine hübsche Sprecherin verlas. Mir fiel auf, dass die Sprecherin bei der Aussprache der Wörter ihre Lippen ebenfalls wie eine Knospe spitzte. Ihre Augen ähnelten denen von Sima Khanoom. Sie schien mir nicht nur hübsch zu sein, sondern auch nett. Denn sie lächelte viel. Wahrscheinlich war sie wunschlos glücklich. Plötzlich schlug mein Herz höher. Es kam mir vor, als sei ihre Sprache die Sprache der Schönheit und Zuneigung. An meine Mutter gewandt, die mich mit Koseworten anflehte, ins Klappbett zu steigen, das sie neben der Tür für mich eingerichtet hatte, sagte ich: »Unter einer Bedingung: ab morgen nur Deutsch sprechen.«
Mein Hurensohn-Baba, der es noch eiliger hatte als Sima Khanoom, mich schlafen zu sehen, und ihr permanent einredete: »Schick deine Tochter schlafen!«, küsste lachend meine Stirn und brummte: »Das ist unser Los, Kind. Jetzt müssen wir die Suppe auch auslöffeln, die wir uns eingebrockt haben!«
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