Die gläserne Heimat. Fahimeh Farsaie

Die gläserne Heimat - Fahimeh Farsaie


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machten, brachte mich die Wut nahezu um den Verstand. Obwohl mir Hände und Füße gefesselt waren, kippte ich mitsamt der Pritsche um. Ich glaubte, tot zu sein. Eine Woche lang war ich wie tot, eine ganze Woche lang. Nur Schmerz und Gram, Abscheu und Wut riefen mich ins Leben zurück.

      Ich hatte nichts auszusagen … Ich wusste nichts, was ich hätte sagen können. Erst fünf Monate vorher hatte ich Hosseyn kennen gelernt. Er hatte zu mir gesagt: Du bist die Liebe für mich … die Liebe… Und ich hatte gesagt: Du bist mein Alles … An was ich mich erinnerte, waren diese zwei Sätze. Das konnte man doch nicht wiedergeben … Ich und eine Terroristengruppe?!

      (Sieh mal, Gol! Ich kann dich doch bei all meiner Arbeit nicht dauernd auf dem Arm herumtragen? Genügt es denn nicht, dass ich so viel mit dir rede? Nimm ein klein wenig Rücksicht auf Mama! Gleich ist’s Mittag, und ich hab’ noch nichts getan! Ist’s, denn schön, wenn die Beamten kommen und hier alles kunterbunt durcheinanderfliegt? Ist’s denn schön, wenn die bei sich denken, was für eine Schlampe deine Mama ist?! Setz dich hier hin und mampf deine Kartoffeln! Ich möchte dich ja gern auf dem Arm tragen, dich an meine Brust drücken und möchte, dass du mit deinen kleinen warmen Händchen mit mir spielst! … Schließlich bist du ja meine ganze Freude! Aber bei all der Arbeit, die mir aufgehalst ist … wie soll das gehen?! Guck dir dies an; das ist »Der Sommer«, Mama liebt dies Bild sehr. Ich bin auch auf solchen Feldern gewesen … mit diesen lebhaften, fröhlichen, wilden Farben bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hat auf solchen Feldern gearbeitet. Sie wurde auch so müde und kam so ins Schwitzen und trank auch so aus dem Milchkrug, den wir von zu Hause mitgebracht hatten! Sie nahm auch solche Sicheln wie diese zur Hand und schnitt mit einer Bewegung … pischsch… eine Unmenge Weizenhalme. Sie arbeitete soviel, damit ihr, wie sie sagte, leichter werde. Sie sagte immer: Ich genieße diese Erschöpfung! … Sieh mal die Kette von Vögeln: ein Halsband aus violetten Perlen für den wie ein Bräutigam blaugewandeten Himmel … Unser Verkaufsstand gefiel dir doch, nicht?)

      Arme voll weißer, roter, rosa Blumen nahm ich und stellte sie gebündelt in große Vasen. Noch war die klare Kühle des Morgens nicht gebrochen, da hatte ich schon den Boden vor meinem Verkaufsstand gefegt und mit Wasser besprengt und setzte mich und sah mir das Hin und Her der Passanten an. Nachdem sie mich entlassen hatten, beschloss ich, Blumen zu verkaufen. An der Ecke einer belebten Straße stellte ich einen Bretterverschlag auf, beschaffte mir auch einige wacklige Gestelle und ein paar Tonvasen. Drei Tage in der Woche ging ich aus dem Haus, schrieb auf einen der kleinen Zettel, die eigentlich Hosseyn als »Gedächtnis« dienten, »Blumen«. In Mußestunden schnitt er sich diese kleinen viereckigen Papiere zurecht, und schrieb die zwei Worte »In betreff« darauf. Das war sein Notizbuch. Er sagte oft: »Die kann man leicht vernichten.« Darin hatte er recht. Denn etliche Male, als ich hinter das »In betreff« geschrieben hatte »uns selbst«, hatte er gar nicht reagiert. Das geschah immer dann, wenn ich über seine Vaterschaftspflichten reden wollte, und, wenn ich keine ermutigenden Anzeichen sah, sogar über die Auflösung unserer Ehe. Ich war sicher, sobald er ihrer ansichtig wurde, den Kopf schüttelte und sie lächelnd zerriss. Wenn ich dann fragte: Warum nicht, sagte er nur: Ich liebe dich … und nochmals: lch liebe dich …, und er sagte so oft: Ich liebe dich, dass ich schließlich so tat, als ob diese Angelegenheit nicht existierte. Und ich zog die Nase kraus und wusste selbst nicht, ob aus Freude oder aus Ärger.

      (Ja doch, mein Töchterlein! … Weine nicht mehr! Möchtest du, dass ich mit dir spiele? Komm. Liebling, komm auf meinen Arm! Wenn doch dein Papa hier wäre! Dann würdest du nicht so viel durchmachen; ich kann doch nicht gleichzeitig beides sein! Manchmal möchte ich mich vor lauter Ratlosigkeit hinsetzen und flennen. Wieviel kann denn ein einzelner Mensch ertragen? Bei diesen Verhältnissen … Ich bitt’ dich, weine nicht! Sonst fang’ ich auch noch an zu heulen. Möchtest du vielleicht schlafen? Nein? Dann guck dir das an! Das ist »Der Herbst«. Sieh mal die Sonne; als ob sie erkaltet sei, erfroren; und diese kahlen, von der Kälte schwarz gewordenen Bäume! Sieh dir den Himmel an, wie finster er ist und traurig …)

      Am Abend, als wir aus dem Kino kamen und Hosseyn sagte, dass er an die Front müsse, war der Himmel auch so düster. Zwei Jahre waren wir nicht ins Kino gegangen, und ich zuckte bei seiner Aufforderung zusammen. Als ich fragte: »Wieso auf einmal?«, lachte er und strich auf einem der kleinen viereckigen Papiere das »In betreff« aus und schrieb mit großen Buchstaben »Kino« und sagte scherzend »Motor«. Ich zog die Nase kraus, band mein Kopftuch um und ging mit ihm aus der Wohnung, dieser Wohnung, die wir vom »Hilfswerk für die Unterdrückten« erhalten hatten und die wir, weil wir die Miete nicht bezahlt haben, räumen müssen.

      (Schön, Gol, mein kleiner Hoffnungsstrahl, gehn wir und machen Tee! Für die Beamten heben wir welchen auf. Warum sollen wir ihnen böse sein?)

      Ich sagte: »Schön, sehr schön … du musst ja wirklich gehen … und ich allein mit dem Kind und ohne Geld und ohne Arbeit … Ich werd schon irgendeinen Mist bauen!« Er lachte. Immer lachte er. Wie ein Kind, wie ein Schulkind in den Sommerferien lachte er.

      Er sagte: »Fängst du wieder damit an?!«

      Ich sagte: »Nein, ich hör’ damit auf.«

      Ich sagte nichts mehr. Ich wusste ja, dass er ging, wusste ja, dass er gehen musste. Aber ich wollte es nicht. Ganz entschieden wollte ich es nicht. Das Kind und die Mittellosigkeit und die Arbeitslosigkeit … all das waren nur Vorwände. Ihn selbst wollte ich, meinen Hosseyn, der den anderen gehörte.

      Er sagte: »Sie zahlen uns Sold … ich schick’ dir Geld!«

      Ich zog die Nase kraus und sagte: »Hach …«

      Im Dunkel nahm er meine Hand und sagte: »Wenn du dich einsam fühlst, kannst du ja, wenn du willst, zu meiner Mutter ziehen!«

      Ich begann, die Bäume zu zählen, die am Straßenrand ohne Furcht in den düsteren Himmel ragten. Schwarz und kahl.

      Ich sagte: »Hast du ’ne Ahnung!«

      Er sagte: »Dann findest du auch mehr Zeit zum Lesen!«

      Ich dachte bei mir: Zum Teufel mit dem Lesen! Und laut sagte ich: »Genug davon … du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

      Ich wartete darauf, dass er wie immer sagen würde: »Du bist sehr egoistisch.«

      Aber er sagte es nicht, sondern: »Nein, Sorgen mache ich mir nicht um dich. Ich weiß, dass du niemals in der Klemme sitzen bleibst … Nur …« Er lachte: »Ich werd’ mich nach dir sehnen … Du bist ja doch für mich die Liebe.«

      Warum nur führte ich mich so auf? Hosseyn ging doch fort, musste fortgehen!

      »Du bist mein Alles.«

      Mit dem Zählen der Bäume kam ich aus der Reihe.

      (Ja doch, mein Kleines, es ist jetzt Zeit zu gehen. Wenn wir uns zu spät aufmachen, ist die Milch alle … Was hast du da im Arm? Oh weh … »Der Winter«, gleich wirst du’s kaputtmachen … Du weißt doch, diese Bilder machen mein Leben aus! Dieser dicke Schnee auf den Hausdächern … diese schlanken, hohen Bäume … diese schwarzen, lärmenden Krähen … dieser Himmel voll dunkler Wolken … diese weiße, kalte, blendende Atmosphäre …)

      Das letzte Mal, als Hosseyn anrief, klang seine Stimme müde, müde lachte er. Er sagte: »Im Frühling bin ich in Teheran!«

      Ich sagte: »Hier hat’s geschneit … Aber wir haben genug Petroleum … Warum rufst du so selten an?«

      Und ich zog die Nase kraus.

      Er sagte: »Wir bereiten einen Angriff vor … Bestell Grüße an meine Mutter! Was schreiben denn die Zeitungen?«

      Ich sagte hastig: «Gol geht’s gut. Alles ist in Ordnung … Warum rufst du so selten an?«

      Er sagte: »Die Kniffe vom Maschinengewehr J-3 hab’ ich jetzt raus … Im Schützengraben singen wir Lieder … Was schreiben denn die Zeitungen?«

      Ich sagte: »Ich hab’ unsagbar viel Zeit … Das Geld ist angekommen … Warum rufst du so selten an?«

      Er sagte: »Hier fehlt’s uns an nichts. Die Kameraden sind großartig! … Was schreiben denn die Zeitungen?«


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