Die gläserne Heimat. Fahimeh Farsaie

Die gläserne Heimat - Fahimeh Farsaie


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auf ihren geschwollenen Füßen zur Toilette humpelte, wusste sie schon, dass durch den Türspalt eine sanfte Brise fächeln und den Duft ihrer Träume von einem bis zum Horizont gespannten Reisfeld verbreiten würde, von einem klaren Himmel, unter dessen Sonne sich die Haut allmählich kupfern färbte. Sie glaubte, dass auch die anderen Gefangenen den Duft ihrer Träume riechen und atmen konnten, der unsichtbar durch die Fugen der eisernen Türen in ihre Zellen drang. Sie roch deren Träume voller Hoffnungen, Ängste, Trauer, Geduld und Liebe, wenn sie sich nach den Vernehmungen an ihren Zellen vorbeischleppte, die Fäuste noch immer in unbändigem Hass geballt, der sie von nun an begleiten würde.

      Jetzt stand sie allein in der Mitte des quadratischen Gefängnishofes und fühlte, dass sich ihr Körper unter den viel zu weiten Kleidern in eine Bronzestatue verwandelt hatte, in der sich nur das Herz mit menschlichen Pulsschlägen rührte. Sie hörte, wie etwas in den Hof geworfen wurde, und sah einen dunkelgrünen Beutel niederfallen.

      »Hier! Deine Sachen! Unterschreib!«

      So schwer, kerzengerade und innerlich leer wie eine Statue ging sie auf ihn zu. Selbst als der Wind die Haut berührte, klang das metallisch. Während sie in der zinnoberroten Dämmerung ihre Hand ausstreckte, um den dunkelgrünen Beutel aufzunehmen, sah sie einen an der Brust verwundeten, zu Boden gestürzten Vogel, dessen Gefieder der Wind heftig durcheinander wirbelte. Die Frau näherte sich ihm und entdeckte im Schatten der hohen Wände Tausende verletzter Vögel, die sich vergeblich bemühten, sich vom Wind über die Mauer tragen zu lassen. Ihr Flattern klang wie das Rascheln tausender Blätter Papier.

      Plötzlich pochte ihr Herz in schwindelerregendem Rhythmus. Kräftig pulste das Blut ins Herz zurück, und die Schläge klangen wie Sturmgeläut.

      »Unsere Hoffnungen! Auf dem Scheiterhaufen!«

      »Geh nicht auf die Bücher zu …«

      Eine grobe Stimme befahl: »Nimm deinen Beutel und verschwinde! Du bist frei …«

      Die Frau kam von der Brücke ins Zimmer zurück. Als der Mann das Fenster schließen wollte, verließ sie den Raum.

      Ob er wohl damals das Sturmgeläut überhaupt hörte, dachte die Frau.

      Der Mann deckte sorgfältig den Tisch: Teller, Löffel, Gabel, Salz, Pfeffer, Brot, Salat, Zwiebeln, Zitrone, Soße, Bier … Auf einer Platte begrub er den kastanienbraunen Fisch unter einem Haufen lehmfarbiger Pommes frites. Aus dem Fischmaul floss Öl. Die Frau spürte ihre Einsamkeit und den Gestank des Fisches, als sie die Milch umrührte. Sie schluckte den Gram mit dem Getränk hinunter.

      »Wenn ein Elefant in die Diskothek geht …«, sang eine harte Stimme.

      »Ich werde ein Videogerät kaufen«, sagte der Mann.

      »Warum? Wir brauchen kein Video«, antwortete die Frau gleichgültig.

      »Ich brauch nicht bar zu bezahlen, nur ein paar neue Raten. Der Preis bleibt gleich … Also, selbst wenn wir es gar nicht brauchten, müssten wir es kaufen … Die Bedingungen sind so günstig …«, sagte der Mann und biss kräftig in eine Zwiebel. Seine Armbanduhr piepte drei Mal kurz.

      Die Frau nahm das Tablett und ging in die Küche. Sie fühlte den Fischgeruch in sich eindringen wie den Rauch einer Zigarette in die Augen, die Ohren, die Poren, spürte, wie er die Eingeweide erreichte, die Lungen, wie er durch die violetten Adern über ihrem Herzen kroch. Dann verwandelte er sie in einen grauen schuppigen Fisch, der mit toten Augen in seinem Gestank und in heißem Öl schwamm. Dann lag sie auf einem zerbrochenen Porzellanteller und wühlte eigentlich ohne Grund in den grauen Fugen des verfaulten Gehirns nach ihrer Vergangenheit. Die Frau nahm den Fisch, warf ihn in den Mülleimer und öffnete das Fenster. Sie genoss die frische Luft mit geschlossenen Augen und hörte eine Frau singen: »Meine Ruhe gib mir zurück …«

      Der Mann kam mit dem Telefon in der Hand in die Küche.

      »Nein … ich hab’s nicht gelesen und will es auch nicht lesen. Mir ist scheißegal, was im Iran oder irgendwo in aller Welt passiert … Ich will leben und hasse die Politik. Ich habe die Nase voll … Aus tausend Gründen und … Na …ja … ich hab alles verloren, was ich hatte. Und ich will nicht nochmal enttäuscht werden …«

      »Lass das Fenster offen«, sagte die Frau und verließ die Küche.

      Sie öffnete das Wohnzimmerfenster. Der Rhein sah aus wie der nasse Asphalt der Straße. Die Lichter der Schiffe schwammen in der traurigen Dämmerung im dichter werdenden Nebel und glänzten wie eisige Sterne.

      In einem Zimmer, in dem der Honig einer Frühlingsdämmerung sich allmählich in der Milch des Tages auflöste, beugte sich der Mann über das karierte Blatt und gestaltete die letzte Seite der Zeitung. Er maß die Spalten, zählte die Zeilen, setzte die Überschriften und Bilder, zog Linien zwischen den Spalten.

      Die Frau saß unruhig vor der Schreibmaschine und betrachtete den Mann, seine hellen Haare, die über die kupferfarbene Stirn hingen, seine trockenen Lippen, die unter dem dicken Schnurrbart klein erschienen, seine weißen Zähne, die auf die Unterlippe bissen, als er eine Linie zog. Sie war nervös und spürte, wie Diamantenspitzen der Angst ihr Herz durchbohrten. Sie kannte diese Angst, die ihren Körper erzittern ließ, die mit ihrer Knochenhand heftig gegen den Schädel hämmerte und die bitteren Erinnerungen an das Gefängnis weckte.

      Sie fürchtete sich immer wieder vor diesen harten Hieben und wünschte sich, so viel Kraft zu besitzen, um die Knochenhand in die eisernen Fäuste ihres Willens zu pressen und sie endgültig zu erdrücken.

      »Bist du bald fertig?« fragte die Frau. Der Mann richtete sich auf, sie sah sich in der grünen Wiese seiner Augen ganz verstört. Der Mann strich ihr liebevoll über die Haare.

      »Je nachdem …«, sagte er.

      »Du weißt, wir müssen pünktlich sein. Die Zeitung muss raus … Wir müssen weg …«, antwortete die Frau verwirrt.

      »Nicht unbedingt … Wir haben doch Zeit … Oder?«

      »Dann gehen wir aber nicht freiwillig. Dann werden wir abgeholt. Aber nicht zur Druckerei, sondern zum Ewin-Gefängnis. Dort sind alle, die wie du dachten …«

      Das Telefon klingelte. Der Mann hob den Hörer ab. Kaum, dass er sich gemeldet hatte, sprang er plötzlich auf: »Was? … Ach, ja! … ist schon klar … Wiederhören!«

      Plötzlich verlosch das Licht. Die Angst stach wie eine Nadelspitze in die Wirbelsäule. Alle Muskeln vibrierten. Die Frau dachte, jetzt hilft nur noch der Mut der Verzweiflung.

      »Ist das eine Falle?« fragte der Mann verwirrt und ging hastig auf das Fenster zu.

      »Draußen ist es dunkel … und Stau …«

      Er schloss die Fensterläden und zerriss die Manuskripte. Sie vernichtete die übriggebliebenen Dokumente in der Toilette. Als sie zurückkam, sah der Raum unverdächtig aus. Der Mann versteckte seine Notizen im Geheimfach des Telefontisches. Im Lichtstrahl der Taschenlampe wirkte sein Gesicht blass. Er richtete sich auf, küsste sie, gab ihr ihre Tasche und flüsterte: »Du gehst nach oben … Da ist ein Atelier … Bleib da, bis es schließt. Vielleicht ist der Strom zufälligerweise ausgefallen … Wie immer … Du nimmst die Zeitung mit … Versuch mal, mit den anderen Kontakt aufzunehmen … Jetzt … geh …geh.«

      Er küsste noch einmal ihre Lippen, ihren Hals, ihr Ohrläppchen … öffnete die Tür und schob sie hinaus. Die Frau spürte, dass die Furcht vor der Trennung wie eine Hand voll Kristallsplitter über ihren Körper geschüttet wurde, auf ihr Gesicht, in die Augen und sogar unter die Fußsohlen. Bei jeder Bewegung stach die Diamantspitze tiefer in ihre Seele und ließ die Muskeln erstarren. Ihr Herz war bei dem Mann zurückgeblieben. Sie spürte noch den Geschmack seiner Lippen. Sie sehnte sich nach seinem Geruch, seiner Stimme, seinem Körper. Sie glaubte, wenn sie bei ihm bliebe, würden sich die scharfkantigen Splitter in Perlen der Liebe, der Lust und des Friedens verwandeln.

      »Was geschehen muss, geschieht uns beiden …«

      Sie drehte sich um und ging zur Tür zurück.

      »Aber was wird dann aus der


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