Reform oder Blockade. Andreas Zumach
bei der Lieferung, sachgerechten Lagerung und Verteilung der Impfstoffe sowie eventuelle Finanzierungsprobleme noch gar nicht berücksichtigt.
Oder die armen Länder wären abhängig von Präparaten wie dem von Russland seit Ende 2020 international angebotenen Impfstoff »Sputnik V«. Anfängliche Bedenken gegen den Impfstoff wegen zunächst unzureichender Testverfahren konnten zwar ausgeräumt werden, allerdings hatte Sputnik V von der Zulassungsbehörde der EU bis Ende Januar 2021 noch keine Freigabe erhalten.
Wie viele Menschen müssen weltweit geimpft werden?
Aber wie viele Menschen müssen überhaupt geimpft werden? Das hat ein zweites Forscherteam um Wei Wang von der Fudan-Universität in China untersucht. Dabei gingen sie von drei Gruppen aus, die besonders dringend geimpft werden müssen: Angehörige sogenannter »systemrelevanter Berufe« im Gesundheitssystem und anderen Bereichen, Risikogruppen wie Alte und Vorerkrankte und die Menschen, die besonders leicht zu Multiplikatoren der Infektion werden können, weil sie, wie zum Beispiel Lehrer, täglich für viele Stunden auf engem Raum mit vielen anderen Menschen zusammenkommen.
Ausgehend von diesen Auswahlkriterien, kommen die Wissenschaftler in ihrer Mitte Dezember 2020 veröffentlichten Studie auf eine prioritär zu impfende Zielgruppe von 5,2 Milliarden Menschen. Rechnet man diejenigen ab, die bereits eine Corona-Infektion hinter sich haben, bleiben noch 4,78 Milliarden Personen übrig. Diese sind aber global nicht gleich verteilt. Der größte Teil lebt in Asien, rund 2,8 Milliarden vordringlich zu Impfende. Europa und Amerika folgen mit je 700 Millionen, und in Afrika gehören 500 Millionen zur priorisierten Zielgruppe.
Doch vielen ärmeren Ländern, in denen die große Mehrheit dieser vordringlich zu impfenden Menschen leben, fehlen die Mittel, um genügend Impfstoff zu kaufen. Vor allem die neuartigen mRNA-Vakzine von Biontech/Pfizer und von Moderna, die unter allen bislang bekannten Impfstoffen mit 94- bis 96-prozentiger Effektivität die wirkungsvollsten sind, kosten 37 bis 79 US-Dollar pro doppelte Dosis, sind also sehr teuer. Bis auf Brasilien und Indonesien hatte bis Dezember 2020 kein Land mit mittleren und geringen Einkommen Vorbestellungen für Impfstoffe getätigt. Doch diese Staaten vertreten 85 Prozent der Weltbevölkerung.
Die COVAX Facility der WHO erhielt von den 190 beteiligten Staaten bis Ende 2020 nur rund fünf Milliarden US-Dollar. Lediglich 500 Millionen US-Dollar dieser Summe kamen von der EU, die sich zugleich für über 25 Milliarden US-Dollar Impfdosen zum Schutz der eigenen Bevölkerung sicherte. Um die angestrebten zwei Milliarden Impfstoffdosen bis Ende 2021 zur Verfügung stellen zu können, würde die COVAX Facility 2021 weitere 6,8 Milliarden US-Dollar benötigen. Dabei sollen 800 Millionen US-Dollar in Forschung und Entwicklung fließen, 4,6 Milliarden in die Bereitstellung von Impfstoffen für ärmere Länder und 1,4 Milliarden in die Lieferunterstützung.
»Diese Pandemie ist erst zu Ende, wenn sie für alle zu Ende ist«
Bei den Maßnahmen im Rahmen der »globalen Impfstrategie gegen die Corona-Pandemie«, deren Existenz seit der WHO-Generalversammlung im Mai 2020 vor allem von westlichen Regierungen behauptet wird, gab es nach Feststellung der Wissenschaftler der Johns-Hopkins-Universität zumindest bis Anfang 2021 »erhebliche Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage einerseits und dem medizinisch-ökonomisch Notwendigen andererseits«. Die Probleme bei der Verteilung, der Zulieferung und dem Zugang bestimmten, »wie effektiv diese Impfungen den Verlauf der Corona-Pandemie beeinflussen können«.
Das egoistische Verhalten, das die reichen Industriestaaten zumindest bis Anfang 2021 demonstrierten, stieß auf deutliche Kritik selbst bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der die 37 am weitesten entwickelten Industriestaaten der Erde angehören. »Einige Länder haben viel zu viel Impfstoff, andere haben gar nichts«, monierte Generalsekretär Angel Gurría Mitte Dezember 2020. »Warum denken wir nicht an die fünf Milliarden Menschen in ärmeren Ländern?«
Gurría, der vor seiner Funktion als OECD-Generalsekretär Außen- und Finanzminister in Mexiko war, forderte eine »gerechtere Verteilung« der Impfstoffe. »Das wäre klug für alle. Denn dieses Virus wird erst besiegt sein, wenn es überall auf der Welt besiegt ist.« Ähnlich äußerte sich die Nichtregierungsorganisation Medico International, die sich seit Jahrzehnten für eine global gerechtere und von wirtschaftlichen Profitinteressen unabhängigere Gesundheitspolitik engagiert. »Die Corona-Pandemie ist erst zu Ende, wenn sie für alle zu Ende ist«, erklärt Medico-Sprecherin Anne Jung Anfang Januar 2021 in einem Interview mit der Berliner tageszeitung (taz).
Doch Plädoyers für eine global solidarische und auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse kluge Politik gingen Anfang 2021 zumindest in einigen EU-Staaten weitgehend in einem Chor nationalegoistischer Stimmen unter. Das lag auch daran, dass die Infektions- und Todeszahlen in der zweiten Corona-Welle ab Oktober 2020 wieder deutlich angestiegen waren. Trotz mehrfach verschärfter Lockdown-Maßnahmen war bis Mitte März 2021 keine relevante Entspannung absehbar. Und bei den ab Ende Dezember 2020 angelaufenen Impfmaßnahmen hatte es zahlreiche Pannen gegeben. Vor diesem Hintergrund gerieten selbst die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und anderer Staaten, die wesentlich mitverantwortlich sind für das unsolidarische Verhalten der EU gegenüber ärmeren Ländern, innenpolitisch in die Kritik, sie hätten sich noch nicht nationalegoistisch genug verhalten, weil sie nicht schnell genug eine ausreichende Zahl von Impfdosen für die eigenen Bürger beschafft hätten. Wirtschaftsliberale Parteien und Politiker, die in der Vergangenheit die Vergabe von Lizenen für die Produktion preiswerter Generika zur Versorgung von Menschen in armen Ländern immer grundsätzlich als »Eingriff in den freien Markt« abgelehnt hatten, forderten auf einmal, einheimische Pharmaunternehmen zur Vergabe von Lizenzen für die Herstellung ihres Corona-Impfstoffs an andere Unternehmen zu verpflichten, um so die Gesamtproduktion zu erhöhen zwecks Versorgung der einheimischen Bevölkerung.
Profitiert das Klima von der Corona-Pandemie?
Die Corona-Pandemie hat die Herausforderung der globalen Erwärmung 2020 in den Schatten gestellt. Zugleich hatte die Pandemie einen positiven Effekt auf den Klimawandel, zumindest kurzfristig. Wegen der Maßnahmen und Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie gingen Industrieproduktion, Handelsverkehr, Flugreisen und auch die Nutzung von Autos erheblich zurück. In der Folge sank auch der weltweite Ausstoß von fossilem Kohlendioxid im Vergleich zum Vorjahr um 2,4 Milliarden Tonnen auf 34 Milliarden Tonnen – oder um den Rekordwert von 7 Prozent. Für den größten Teil des Rückgangs war der Transportsektor verantwortlich. Die Emissionen aus dem Straßen- und Luftverkehr lagen im Dezember 2020 noch um bis zu 40 Prozent unter dem Niveau des Vorjahrs.
Besonders groß war der Rückgang in den Industriestaaten. Spitzenreiter waren die USA und die EU mit einem Minus von 12 beziehungsweise 11 Prozent. Auf Platz drei bei den stärksten Emissionsrückgängen landete Indien mit einem Minus von 9 Prozent. China als einer der größten Emittenten von fossilem CO2 weltweit verzeichnete dagegen nur einen Rückgang um 1,7 Prozent. Damit die Zahlen im Pariser Klimaabkommen erreicht werden, müsste der globale Ausstoß von fossilem CO2 zwischen 2020 und 2030 jedes Jahr um zwei Milliarden Tonnen zurückgehen.
Die große Frage ist, ob die positive Entwicklung des Corona-Jahres 2020 anhält. Oder ob sich wieder ein Negativtrend entwickelt, so wie das nach dem zeitweisen Rückgang der fossilen CO2-Emissionen infolge der globalen Finanz- und Bankenkrise 2007/08 der Fall war. Nach einem vorübergehenden Rückgang stiegen die Emissionen, als es der Wirtschaft wieder besser ging, allein 2010 um 5 Prozent an. Die weitere Entwicklung in den nächsten Jahren wird sehr davon abhängen, ob die billionenschweren staatlichen Corona-Hilfen und -Subventionen, die allein in den USA und in der EU beschlossen und zum Teil bereits ausgezahlt wurden, zu einer Wiederaufnahme und Fortsetzung von bislang üblichen klima-und umweltschädlichen Produktionsweisen und Mobilitätsverhalten führen. Oder ob die große, historische Chance dieser Pandemie für eine ökologische Transformation hin zu nachhaltigen, energieeffizienteren und damit klima- und umweltfreundlicheren Formen von Produktion, Handel und Mobilität genutzt wird.