Reform oder Blockade. Andreas Zumach
Die Corona-Pandemie hat die schon lange bestehenden Unzulänglichkeiten vieler nationaler Gesundheitssysteme, die Krise der globalen Gesundheitspolitik und den Reformbedarf der für diese Politik zuständigen UNO-Organisation WHO verschärft. Zugleich wurden diese Probleme wie nie zuvor einer breiten Weltöffentlichkeit deutlich. Darin liegt zumindest die Chance auf grundlegende Veränderungen und Verbesserungen, die über den – vielleicht gelingenden – Sieg über das Corona-Virus hinausgehen. Gesundheitsversorgung ist ein öffentliches, für alle Menschen erschwingliches Gemeingut und keine an Profitlogik orientierte Ware. Es geht darum, die Weltgesundheitsorganisation durch politische, strukturelle und finanzielle Reformen in ihrer Handlungsfähigkeit und ihre Unabhängigkeit von Pharmakonzernen zu stärken.
Die Ebola-Epidemie als Warnsignal
Die gravierenden Defizite globaler und nationaler Gesundheitspolitiken wurden bereits 2014 durch den bis dato schwersten Ausbruch einer Ebola-Epidemie seit Entdeckung dieses heimtückischen Virus im Jahr 1976 sehr deutlich. Bis Ende Januar 2015 erkrankten vor allem in den drei westafrikanischen Staaten Sierra Leone, Liberia und Guinea fast 23’000 Menschen an Ebola; 9200 dieser infizierten Personen starben.
Die Epidemie führte zu massiven Rückschlägen für die Volkswirtschaften dieser drei Staaten, die sich nach schweren inneren Unruhen und Bürgerkriegen gerade erst wieder einigermaßen stabilisiert hatten. Das Entwicklungsprogramm der UNO (United Nations Development Programme, UNDP) bezifferte Mitte Oktober 2014 die wirtschaftlichen Folgen für die Haushalte seit Ausbruch von Ebola im März des Jahres. Laut UNDP sank in Guinea das Einkommen im Schnitt bereits um 12,7 Prozent, in Sierra Leone um 29,7 Prozent und in Liberia um 35 Prozent. In Sierra Leones Seuchengebieten lagen ein halbes Jahr nach Ausbruch von Ebola bereits 40 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe brach; in Liberia waren es außerhalb der Hauptstadt Monrovia sogar 60 Prozent. Ernten wurden nicht eingeholt, lokale Märkte geschlossen. Und es gab einen dramatischen Preisanstieg, beim Grundnahrungsmittel Maniok in Monrovia um 150 Prozent.
Im Laufe des Jahres 2015 stieg die Zahl der Hungernden in Liberia, Sierra Leone und Guinea nach Angaben des für die internationale Nahrungsmittelhilfe zuständigen Welternährungsprogramms der UNO (World Food Programme, WFP) von 2,3 Millionen Menschen auf über drei Millionen. Erst mit der langsamen Eindämmung der Ebola-Epidemie in den folgenden Jahren sank auch die Zahl der Hungernden wieder. Ende 2019 galt Ebola als überwunden. Doch Anfang 2021 wurden in Guinea und in der Demokratischen Republik Kongo neue Ebola-Fälle registriert. Die WHO warnte vor einer Ausbreitung auf die Nachbarländer.
Das Versagen der Weltgesundheitsorganisation
Dass die Ebola-Epidemie im Jahr 2014 außer Kontrolle geriet und so viele Opfer forderte, lasteten viele Gesundheitsexperten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf an. Mit über 7000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Genfer Zentrale sowie in 150 Länder- und Regionalbüros ist die WHO die größte der achtzehn Sonderorganisationen des UNO-Systems. Ihr Budget ist das zweitgrößte nach dem regulären Haushalt der UNO. Gegründet wurde die WHO 1948. Mit Ausnahme Liechtensteins gehören ihr sämtliche UNO-Mitgliedstaaten an. Die Schweiz trat der WHO bereits Jahrzehnte vor der Aufnahme des Landes in die UNO im Jahre 2002 bei.
Laut ihrem Gründungsauftrag soll die WHO internationale Gesundheitsfragen koordinieren und Regierungen der Mitgliedstaaten beim Ausbau ihrer öffentlichen Gesundheits- und Fürsorgedienste beraten und unterstützen. Insbesondere soll die WHO globale Krankheiten ausrotten, und dies nicht zuletzt, indem sie die Normen für medizinische Ausbildung und wissenschaftliche Forschung sowie für das öffentliche Gesundheitswesen aufstellt und die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Normen unterstützt.
Doch gemessen an diesem Auftrag, habe die WHO in der aktuellen Ebola-Krise versagt, monierten die Kritiker. Die WHO habe den Ernst der Lage zu spät erkannt, zu spät Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung der Ebola-Epidemie zu verhindern, und die Koordination internationaler Hilfskampagnen nur zögerlich initiiert.
Zu den schärfsten Kritikern gehörte die internationale Nichtregierungsorganisation Médecins Sans Frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen), die selbst rund 20’000 Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in die von Ebola am meisten betroffenen drei westafrikanischen Staaten entsandte. Bereits im März 2014 wies MSF die WHO darauf hin, dass sich seit Dezember 2013 das Ebola-Virus in Guinea unkontrolliert ausbreite. Schon damals warnte die Organisation vor einer »Epidemie nie dagewesenen Ausmaßes«. Doch die WHO spielte die Gefahr zunächst herunter.
Erst Monate nach Ausbruch der Krankheit, als sich auch in Guineas Nachbarländern Sierra Leone und Liberia immer mehr Menschen mit dem Ebola-Virus infiziert hatten, nahm die WHO endlich ihre Verantwortung wahr. Am 8. August 2014 rief WHO-Generaldirektorin Margaret Chan wegen der Ebola-Epidemie den Internationalen Gesundheitsnotstand aus.
»Wir sind frustriert, weil wir seit Monaten mit der WHO darüber reden, dass mehr gemacht werden muss. Und diese Sachen passieren nicht, obwohl wir seit Monaten darauf hinweisen, dass es passieren muss«, äußerte der Geschäftsführer der deutschen MSF-Sektion, Florian Westphal, im September 2014 in einem Interview mit dem deutschen ARD-Fernsehen seine Enttäuschung über die Zurückhaltung der WHO.
»Ungeachtet von Anforderungen durch Ärzte ohne Grenzen, ist die WHO nicht vor Juli aufgewacht«, kritisierte auch der belgische Mikrobiologe Peter Piot, der das Ebola-Virus 1976 im damaligen Zaire mit entdeckte, das Versagen der Weltgesundheitsorganisation.
Selbst ehemalige Angestellte der WHO übten öffentlich Kritik an der viel zu späten Reaktion der WHO. Petra Dickmann, einstige Mitarbeiterin des Robert Koch-Instituts im Zentrum für Biologische Sicherheit der WHO, erklärte im September 2014 gegenüber dem deutschen ARD-Fernsehen: »Ärzte ohne Grenzen sind vor Ort und haben viel Erfahrung vor Ort. Die haben lange gesagt: Hier passiert etwas, was nicht normal ist. Das ist etwas, was wir vorher nicht erlebt haben. Die haben lange schon die Trommel geschlagen. Wir haben ihnen zu spät zugehört. Und ich denke, dass die internationale Gemeinschaft und auch die Weltgesundheitsorganisation sehr spät darauf reagiert hat.« Darüber hinaus kritisierte Dickmann, dass die Weltgesundheitsorganisation, statt das Personal in den betroffenen Ländern aufzustocken, sogar »relativ zügig wieder Personal abgezogen« habe. »Und das war mit Sicherheit ein Fehler.«
Auch bereits in der Zeit vor dem Ebola-Ausbruch wurden den zuständigen WHO-Regionalbüros in Afrika zahlreiche Stellen gestrichen, die Teams verkleinert.
Die Genfer WHO-Zentrale und ihre Generaldirektorin Chan reagierten bis Anfang 2015 nicht auf diese konkreten Kritikpunkte. Stattdessen versuchte man, die Flucht nach vorn zu ergreifen. Nachdem die WHO im August 2014 mit mehrmonatiger Verspätung endlich den internationalen medizinischen Notstand ausgerufen hatte, erklärte ihr Sprecher Pieter Desloovere: »Ich denke nicht, dass wir mit dem Finger aufeinander zeigen sollten: Wer hat zu spät reagiert, wer hat schon reagiert, wer nicht? Ich denke wirklich, wir sollten jetzt nach vorne schauen, darauf, was jetzt passieren kann, um die Epidemie einzudämmen.«
Erst Ende Januar 2015 räumte Generaldirektorin Chan erstmals zumindest einige Versäumnisse ein. Die WHO müsse ihr »Krisenmanagement verbessern«, erklärte Chan auf einer Sitzung des Exekutivrats der WHO in der Genfer Zentrale. Die Verfahren zur Rekrutierung von Einsatzkräften bei einem Ausbruch von Seuchen seien »zu langsam«. Darüber hinaus sollten sich alle Staaten intensiver auf solche Krisen vorbereiten und Spezialteams als Teil ihres Gesundheitssystems aufbauen. »Ich dränge darauf, dass wir die Ebola-Krise als eine Gelegenheit nutzen, unsere Systeme zu stärken«, betonte Chan. Zugleich behauptete die Generaldirektorin, die von ihr geführte WHO habe bei der Bekämpfung von Ebola »die Trendwende geschafft und das Schlimmste verhindert«.
Corona-Schlagabtausch zwischen USA, WHO und China
Auch nach Beginn der Corona-Pandemie, die nach bisherigem Stand der Erkenntnis im November 2019 auf einem Markt im chinesischen Wuhan ausbrach, wurde die WHO zunächst heftig kritisiert. Schärfster Kritiker war der damalige US-Präsident Donald Trump. Er warf der WHO vor, sie sei eine »Marionette« Chinas.