Abengs Entscheidung. Philomène Atyame

Abengs Entscheidung - Philomène Atyame


Скачать книгу
Eingangstor dieses Erdteils stand ein Brett, auf dem zehn Buchstaben großgeschrieben und durchgestrichen waren: QUIDPROQUOS. Abeng enträtselte gerade das Wort, als sie von einem starken Strudel erfaßt wurde. Sie landete auf einem Platz voller Gerichtshöfe. Verblüfft fragte sie sich, wo sie war? ›Welche Welt hat so viele Gerichte? Ist es der Letzte Tag, den ich hier erlebe? Das Jüngste Gericht? Das letzte Ereignis der Apokalypse? Braucht Gott so viele Gerichte für die Menschheit? Ist der Mensch wirklich so schlecht?‹ fragte sie sich. Abeng wartete auf die Apokalypse, aber hier erschien kein Gott. Das Jüngste Gericht blieb aus. Wer kam dann auf den Gedanken, so viele Gerichte zu errichten? Wozu? Lebten in Abengs Traumwelt nur Menschen, die mit dem Gericht zu tun hatten? Waren die Helden ihrer Träume nur Angeklagte und Verurteilte? Was hatten die Menschen hier getan? Abeng wollte aus Neugier in eins der Gerichte hineindringen, als ein dunkelbrauner Wächter plötzlich erschien und sie fragte:

      ›Haben Sie Ärger mit einem Weißen?‹

      ›Nein. Wieso?‹ fragte Abeng.

      ›Sie sind dann am falschen Ort.‹

      ›Aber wieso? Warum? Ich verstehe Sie immer noch nicht.‹

      ›Es ist so, daß die Fälle, die hier gelöst werden, schwarz-weiß sind. Die Quidproquos, hier werden nur Quidproquos verhandelt.‹

      ›Quidproquos?‹

      ›Ja, die Richter hier haben nur mit Quidproquos zu tun. Alles andere kümmert sie nicht.‹

      ›Was ist jetzt Quidproquo?‹

      ›Ich nehme ein einfaches Beispiel. Für wen halten Sie mich? Für einen Schwarzen oder für einen Weißen?‹

      ›Selbstverständlich für einen Schwarzen.‹

      ›Hereingefallen! Ich bin nicht schwarz, ich bin auch nicht weiß. Ich bin braun. Mein Vater ist schwarz, meine Mutter weiß. Das war eben ein Quidproquo! Haben Sie jetzt verstanden?‹

      ›Ja. Nur, Sie sind so dunkel, daß kein Mensch darauf kommen würde, daß Sie Mischling sind.‹

      ›Wieder ein Quidproquo! Gnädige Frau, ich bin kein Mischling. Das Wort Mischling ist zu allgemein, es ist ein Sammelwort. Es steht nicht nur für jemanden aus einer schwarz-weißen Familie. Es steht auch für Menschen aus schwarz-gelben Familien, aus gelb-weißen Familien, aus rot-weißen Familien, aus gelb-roten Familien, aus schwarz-roten Familien und so weiter. Deswegen müssen Sie lernen, zu unterscheiden. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich braun bin. Und passen Sie auf! Das Wort Mischling ist hier verboten. Damit kann man Sie vor Gericht anklagen. Dann zahlen Sie eine Gebühr von fünfhunderttausend Francs. Ich muß Ihnen noch etwas erklären. In unserem Land reden Schwarze und Weiße immer und immer wieder aneinander vorbei. Sie verwechseln alles oder mißverstehen sich, weil sie sich nicht gut kennen. Wenn sie sich nicht mehr vertragen, kommen sie hierher. Die Richter verhandeln hier zwei Arten von Quidproquos: komische und tragische. Für die komischen, das heißt, für leichte Verwechslungen und Mißverständnisse, gibt es keine Haftstrafe. Gebühren werden aber bezahlt, und sie können manchmal sehr hoch sein! Für die tragischen Quidproquos, das heißt, für solche Verwechslungen, die zu Mordtaten führen – was Gott sei Dank selten geschieht – gibt es eine Strafe von fünf Jahren Haft. Es gibt keine härteren Strafen, weil man davon ausgeht, daß die Täter im Grunde Opfer ihres Unwissens sind. Hier erscheinen nur schwarz-weiße Paare, meist Ehepaare. Aber es gibt auch für einfarbige Fälle Gerichte wie das gegenüber. Dort werden selten Fälle wie Quidproquos verhandelt, aber oft vorsätzliche Verbrechen. Aus diesem Grund bekommen die Täter dort härtere Strafen.‹

      Als Abeng erwachte, war sie verwirrt, aber dann begeistert. Sie vergaß diesen Traum nie. Denn jedesmal, wenn sie Messina und Trousson in der Nachbarschaft begegnete, erinnerte sie sich an ihn. Sie glaubte, einem Traumpaar aus der Traumwelt zu begegnen, die sie schließlich den schwarz-weißen Erdteil nannte, weil es dort wie überall in der Welt Schwarze und Weiße gab.

      Seitdem beschäftigte Abeng ihr Traum. Immer wieder sagte sie zu sich: ›Ich werde Papa von meinem Traum erzählen. Ich werde auch Opa von diesem Traum erzählen. Ich werde Opa und Papa sagen, daß die Welt schöner wäre, wenn wir sie wie den schwarz-weißen Erdteil bewohnen würden. Aber kann ich Papa überzeugen? Kann Opa meinen Traum ernst nehmen? Beide sind viel älter als ich. Sie haben viel Erfahrung. Sie haben mehr Erfahrung als ich. Habe ich überhaupt Kraft genug für diesen Traum? Bin ich ihm gewachsen? Vielleicht, denn manchmal fühle ich mich richtig alt. Mein Kopf ist schon grau, selbst wenn man es mir nicht ansieht. Bald ist er weiß.‹

      Aber bringt das Alter manchmal Weisheit, so vergeht die Zeit mit unserer Lebenskraft. Deshalb empfindet der Mensch das Ticken der Uhr oft als einen Verlust und selten als einen Gewinn seines Lebens. Aber vielleicht müssen wir froh sein, daß die Zeit vergeht. Oh! Es kann schlimm werden, wenn sie zurückkehrt: als Erinnerung.

      Nicht grundlos sagte Abeng oft, daß ihr Kopf von Erinnerungen grau war. Denn wer ihre Geschichte kannte, verstand die Altersgefühle der jungen Frau. Allzu früh hatte Abengs Leben eine schwere Wende genommen, eine harte Wende für ein fröhliches und glückliches Kind, das Abeng in ihren ersten vier Lebensjahren war.

      Abeng kam in einem kleinen Dorf zur Welt. Das Krankenhaus lag dicht neben einem Gebüsch, in dem Raben gern auf Küken lauerten. Oft gackerte ein Huhn neben der alten Entbindungsstation, während ein Kind auf einem Bauch weinte. Mehrmals ereignete sich eine Doppelgeburt in dem kleinen Dorf, eine Doppelentbindung, die von dem Gackern der Hühner und den schrillen Stimmen der gebärenden Mütter verraten wurde. Das Geschrei war eine zusammengesetzte Elegie, eine Jeremiade, die das Leiden verkündete und einen Monat später von einem Psalm ersetzt wurde, der die neuen Lebewesen pries.

      Als Abeng Abschied vom warmen Mutterbauch nahm und sich voller Leben mit einem fröhlichen Schrei in dem herzlichen kleinen Dorf ankündigte, hieß ein lautes Vogelgeschrei nicht weit vom Geburtsort den Ankömmling willkommen. Ein Zufall, der später eine Bedeutung bekam. Denn die starke und gegenseitige Liebe, die sich zwischen Abeng und dem Geflügel entwickelte, war in dem kleinen Dorf eine ungewöhnliche Sache. Man sah die Hausvögel vor Freude hin und her rennen und jubeln, wenn sie die noch mit hoher Stimme gesungenen Lieder des kleinen Mädchens, das sie jeden Morgen und tagsüber mit Maiskörnern ernährte, hörten. Manchmal wagte Abeng die gefährlichsten Spiele mit ihnen, zum Beispiel Küken rauben und weglaufen. Nie begegnete sie Widerstand. Sie verbrachte fast den ganzen Tag, singend, mit dem Geflügel. Und gerade weil sie immer auf dem Hühnerhof mit lauter Stimme sang, wurde sie von den Dörflern zum Scherz ›das kleine Singvögelein‹ genannt. Erst nach der Geburt von Abessolo vergaß die Zweijährige die Vogelwelt. Tag und Nacht bewachte sie ihren kleinen Bruder, einen Säugling, den Abeng besonders liebte, wenn er in seiner Wiege schlief. Es war eine Früherscheinung von Muttergefühlen, die aber zwei Jahre später in dem kleinen Mädchen erloschen.

      Abeng sah ihre Mutter sterben. Sie war vier und die Mutter dreißig. Maria starb an einer schweren Geburt. Die Zwillinge! Oh! Abeng fragte sich, warum sie nicht gerettet wurden. Sie hatte die Zwillinge gesehen. Sie weinten nicht wie gewöhnliche Neugeborene. Kein Arzt hörte ihren ersten Schrei. Sie starben mit der Mutter. Aber die Ärzte waren nicht schuld. Allein der Tod war schuld. Die Mutter lag im Sarg mit zwei Säuglingen. Es war ein schreckliches Bild, eine furchtbare Erinnerung. Selbst wenn Abeng damals ein kleines Mädchen war: dieses Bild blieb klar in ihrem Kopf. Das Schlimme war, daß es in ihrem Kopf grau wurde.

      Abeng wußte, daß mit dem Tod ihrer Mutter viel in ihr verloren ging. Sie verlor die erste Liebe, die jedes kleine Kind braucht. Das Herz des kleinen Mädchens blieb kalt. Jahre später entschloß sich das junge Mädchen, das zu retten, was noch zu retten war: das Herz der erwachsenen, der reifen und der alten Frau.

      Abeng hatte viele junge Mädchen mit gebrochenen Herzen gekannt. Sie litten unter einer unglücklichen Liebe. Manche nahmen sich das Leben, weil sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnahmen, weil sie sich von endlosen grauen Wolken umhüllt fühlten. Einige überstanden den Schmerz. Kaum waren sie geheilt, sah man sie wieder einen Herzensbrecher empfangen. Wenn sie nicht mehr wußten, was die Liebe war, suchten sie sich einen Mann. Einige hatten Glück und fanden die Liebe in der Ehe wieder. Andere blieben aber mit einem Don Juan im schwarzen Erdteil. Dann wurde ihr Herz für immer schwer.


Скачать книгу