Halbierte Wirklichkeit. Hans-Dieter Mutschler
weil es unsere Lebenstauglichkeit erhöht.
Man könnte solche Beispiele beliebig vermehren und sie scheinen die Konsequenz nahezulegen, dass Naturwissenschaft der Platzhalter der Wahrheit über unsere Welt ist und dass wir uns von ihr besser beraten lassen sollten, während unsere praktisch-lebensweltlichen Überzeugungen eher wie atavistische Restbestände der Evolution sind, die wir endlich hinter uns lassen sollten. Ein differenzierterer Blick zeigt aber, dass es so einfach nicht ist. Wären nämlich unsere praktischen Überzeugungen alle falsch, dann wäre völlig unverständlich, wie wir überlebt haben konnten. Ein Wesen, das sich in Bezug auf seine praktischen Überzeugungen ständig irrt, stirbt aus. Von daher lassen sich die genannten Beispiele gegen den Strich bürsten und enthalten dann eine ganz andere Lehre, was das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt anbelangt:
1) Für unsere praktische Existenz ist es völlig irrelevant, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder anders herum. Deshalb spielt ein Irrtum auf diesem Niveau im Praktischen keine Rolle. Für uns sind z. B. auch die makro- und mikroskopischen Verhältnisse ganz unverständlich oder kontraintuitiv, deshalb sind Relativitäts- und Quantentheorie mit ihren Zeitdilatationen, Längenkontraktionen und verschränkten Systemen so schwer begreiflich. Niemand bestreitet, dass diese Theorien Wahrheit enthalten, aber es ist eine Wahrheit, die unsere praktische Existenz nicht weiter berührt und genau deshalb schadet uns auch ein Irrtum diesbezüglich nicht.
Das heißt: Die Dignität unserer Lebenswelt wird durch solche Entdeckungen in keiner Weise in Frage gestellt, noch sind wir gezwungen, von unseren praktischen Überzeugungen her die Wissenschaft zu kritisieren. Das ist aber bei den folgenden Beispielen anders. Hier haben unsere lebensweltlichen Intuitionen sogar eine ganz eigenständige Bedeutung, die sich im Grenzfall kritisch gegen die Wissenschaft richten darf.
2) Die These, dass ein bewegter Körper, auf den keine Kraft mehr ausgeübt wird, zum Stillstand kommt, ist Teil der Physik des Aristoteles. Man hat sie im Gefolge der Newton’schen Revolution für überholt erklärt, aber im Grunde beschreibt sie unsere Erfahrung zutreffend, denn die zeiträumlichen Bewegungen unserer Lebenswelt sind immer mit Reibung verbunden, so dass ein Körper zum Stillstand kommt, wenn keine Kraft mehr auf ihn wirkt. Gerade die Newtonsche Physik bestätigt unsere lebensweltlichen Intuitionen. Wir haben hier ein Beispiel vor uns, das für unsere praktische Existenz höchst belangvoll ist. Würden wir uns in solchen Zusammenhängen täuschen, dann wäre die These von der Ersetzbarkeit der Lebenswelt durch die Wissenschaft plausibel, aber nur dann.
3) Das substanzielle Denken, das letztlich auf Aristoteles zurückgeht, wurde seit dem Ausgang des Mittelalters als oberflächlich hingestellt. Im 20. Jahrhundert schrieb der Philosoph Ernst Cassirer das Buch „Vom Substanz- zum Funktionsbegriff“, in dem er die These vertrat, das Substanzdenken sei durch die wissenschaftliche Aufklärung überholt und durch den Funktionsbegriff zu ersetzen. Er bezog diese These nicht nur auf den Übergang von der Aristotelischen zur Newton’schen Physik, sondern auf die Kultur als Ganze. Unser gesamtes Denken habe einen Bruch vollzogen, weg vom Substanziellen zum Funktionalen und dies sei ein nicht zu leugnender Fortschritt, ein irreversibler Sprung der Gesamtkultur, hinter den wir nicht zurückfallen dürften.
In der Tat löst sich dem Physiker, je weiter seine Wissenschaft fortschreitet, die materielle Substanz in reines Werden oder in rein relationale Strukturen auf. Der Stoff der Wirklichkeit scheinen jetzt substratlose Ereignisse zu sein, und was wir im Alltag als feste Substanzen wahrnehmen, sind in dieser Sichtweise nichts als Bündel von Ereignissen, die sich zufällig zusammenballen, so wie Wassermoleküle in der Luft, die zufällige Wolkenformationen bilden, ohne dass wir deshalb glauben würden, dass Wolken im eigentlichen Sinne existieren. Sie sind nichts als Moleküle, keine Substanzen eigenen Rechts. Es ist aber fraglich, ob wir die regionale Ontologie der Physik verallgemeinern dürfen, um sie auf den Mesokosmos, geschweige denn auf die gesamte Kultur zu übertragen. Wenn ein Physiker ein Experiment durchführt, betrachtet er sein Messgerät nicht als ein Bündel von Ereignissen, sondern als eine feste Substanz, die er im Lauf seiner Manipulationen wiedererkennt. So ist es auch mit den Substanzen, mit denen wir im Alltag beständig umgehen. Die Bündeltheorie kann nicht erklären, wie wir es fertig bringen, einen Gegenstand, der sich verändert hat, als denselben wiederzuerkennen, denn wenn dieser Gegenstand sich verändert hat, dann müsste nach der Bündeltheorie zumindest ein Ereignis verloren gegangen oder ersetzt worden sein. Aber dann wäre das Bündel nicht mehr dasselbe, denn es ist ja nur als die Summe bestimmter Ereignisse definiert und das hat weiter zur Folge, dass auch der Wissenschaftler sich selbst nicht mehr als identische Person wiederfinden könnte, wenn auch nur ein Haar von seinem Haupte fiele oder eine einzige Hautschuppe sich von ihm abgelöst hätte.
Weil es sich so verhält, haben Philosophen der natürlichen Sprache die alte Aristotelische Substanzontologie reformuliert, also Philosophen von Peter Strawson bis Jonathan Lowe. Sie bestehen darauf, dass unsere Sprache mit ihrem Verständigungspotenzial zusammenbrechen würde, wenn wir auf die Substanzkategorie verzichten würden. Es wäre dann nicht nur so, dass der Physiker sein experimentelles Handeln nicht mehr verstehen könnte, sondern die Kompetenz, sinnvolle Sätze über die Welt zu äußern, würde insgesamt außer Kraft gesetzt und unsere soziale Welt mit ihren Identitätsunterstellungen würde zusammenbrechen.
4) Es gibt in der Tat im Gehirn kein lokalisierbares Aktionszentrum als einen materiell identifizierbaren Ort des Ich, also kein Ich-Modul. Aber warum haben wir das eigentlich erwartet? Gibt es die Zeitmessung in der Uhr? Wenn wir eine mechanische Uhr zerlegen, dann finden wir Zahnräder, Achsen, eine Unruh, eine Feder usw., aber wir finden kein Zentrum, denn Uhren haben kein solches Zentrum. Hindert dies, dass sie dem einheitlichen Zweck der Zeitmessung dienen? Oder können wir die Musikübertragung in den Teilen eines Radios, die Informationsverarbeitung in den elektronischen Bauteilen eines Computers finden oder das Fahren in einem Fahrrad? Niemand würde auf die Idee kommen, sie dort zu suchen. Aber warum erwarten wir dann, ein Ich im Gehirn zu finden? Die suggestive Plausibilität dieses Gedankens rührt daher, dass wir die Wahrheit des Materialismus bereits unterstellt haben. Wenn der Materialismus wahr ist, dann muss sich das Ich im Gehirn finden und wenn es sich dort nicht findet, dann gibt es eben kein Ich. Aber der Neurowissenschaftler sollte die Wahrheit des Materialismus nicht voraussetzen, sondern beweisen, für den Fall, dass seine Wissenschaft der richtige Ort für solche Beweise ist.
Die Materialisten unter den Neurowissenschaftlern, wie z. B. Gerhard Roth oder Wolf Singer, kennen nur die Alternative Materialismus – Substanzendualismus. Der Substanzendualismus setzt eine vom Leib abgetrennte Geistsubstanz voraus. Diese Lehre, die von Plato begründet und von Descartes erneuert wurde, zieht sehr ernste Einwände auf sich. Z. B. spricht unsere gesamte psychophysische Erfahrung dagegen, die Kausalwirkungen in beide Richtungen kennt. Wenn ich zu viel Alkohol getrunken habe, werde ich müde, wenn ich ein optimistischer Mensch bin, stärkt das mein Immunsystem. Solche Wechselwirkungen in beide Richtungen sind auf dem Hintergrund des Substanzendualismus schwer verständlich.
Aber die Alternative dazu ist nicht der materialistische Monismus, weil es noch eine weitere, viel zu wenig beachtete Alternative gibt: Die Seele kann sehr wohl fest mit dem Leib verbunden und dennoch verschieden von ihm sein, denn eine Unterscheidung ist noch keine Trennung! Wenn ich z. B. körperlichen von seelischem Schmerz unterscheide, dann habe ich nicht behauptet, dass beide ganz unabhängig voneinander vorkommen. Ich behaupte nur, dass sie kategorial verschieden sind. Eine solche Auffassung der menschlichen Seele hat Aristoteles vertreten, dieser geniale Theoretiker der Lebenswelt, der auch heute noch lesenswert ist, weil sich nämlich unsere Lebenswelt seit dem Griechentum nicht radikal verändert hat, während unsere wissenschaftlichen Auffassungen ganz andere geworden sind. Man erkennt dies, wenn man solche Bücher liest wie Aristoteles’ Kosmologie oder auch seine Ethik. Aristoteles’ Kosmologie ist uns derart fremd, dass wir Mühe haben zu verstehen, von was er überhaupt redet. Liest man hingegen seine Bücher zur Ethik, dann ist uns prinzipiell alles verstehbar, auch ohne jeden klugen Kommentar.
Wir haben also nach wie vor Veranlassung, die Aristotelische Konzeption einer Vermittlung von Geist und Materie ernst zu nehmen, denn sie bewährt sich seit über 2000 Jahren. Unsere lebensweltliche Erfahrung widerspricht auch heute noch sowohl dem Substanzendualismus als auch dem Materialismus. Niemand erfährt sich als aufgespalten in eine geistige und in eine davon unabhängige materielle Substanz,