Halbierte Wirklichkeit. Hans-Dieter Mutschler
verfolgen, der über Jahrzehnte der führende Wissenschaftstheoretiker in Deutschland war. Stegmüller hinterließ ein gigantisches Werk, in dessen zweiter Auflage er vorsichtige pragmatische Retuschen anbrachte, aber nie so, dass er sich ernstlich auf Praxis, also z. B. auf das experimentelle Handeln oder auch auf die Moral eingelassen hätte. Die Lebenswelt blieb außen vor; die Theorie genügte sich selbst.
In dieser Tradition hatte man also wenig Interesse daran anzuerkennen, dass ein volles Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse nur möglich ist, wenn wir sie in die Lebenswelt zurückbinden, denn dies würde ja eine fundamentale pragmatische Relativierung bedeuten, woran bei solchen Autoren kein Interesse bestand. Es soll weiter unten im Kapitel über das Materie- und das Kausalprinzip gezeigt werden, was das praktisch bedeutet. Der Wissenschaftstheoretiker ist nämlich darauf festgelegt, auch das Materie- und Kausalprinzip allein aus der exakten Wissenschaft abzuleiten. Es wird sich aber zeigen, dass das ausgeschlossen ist. Was Materie und was Kausalität sind, wissen wir aus unserer praktischen Lebenswelt, nicht aus der Physik. Das bisher Gesagte betrifft allerdings nur den mainstream der Wissenschaftstheorie, die das Wort Theorie nicht umsonst im Namen trägt.
Anders ist es mit einer Minderheit von Wissenschaftstheoretikern, die sich wesentlich auf die Praxiskonstitution von Wissenschaft beziehen, die also die Wissenschaft an die Lebenswelt rückbinden. In Deutschland betrifft diese Minderheit vor allem die Erlanger Schule mit Autoren wie Paul Lorenzen, Friedrich Kambartel, Jürgen Mittelstrass oder Peter Janich. In dieser Schule wird der Akzent auf die Praxis gelegt und zwar auf beides, politisch-moralische und experimentell-technische Praxis. Insofern hat diese Schule ein großes Verdienst, denn die analytischen Wissenschaftstheoretiker haben gerne so getan, als finde Wissenschaft gleichsam im luftleeren Raum statt, so als wüchsen die Theorien auf den Bäumen. In der angelsächsischen Welt, die die wissenschaftstheoretische Diskussion dominiert, hat die Erlanger Schule Deutschlands kaum Spuren hinterlassen. Ein trauriges Beispiel für die auch sonst zu beobachtende Hegemonie der Angelsachsen. Wissenschaft folgt leider oft denselben Mustern wie der politisch-militärische Bereich. Wer die Macht hat, hat auch das Recht, so scheint es.
Peter Janich ist vielleicht der radikalste Konstruktivist der Erlanger Schule. Er geht aus von der „wahrheitsstiftenden Funktion des Handelns“ und fächert dies in Bezug auf technische Handlungsnormen hin auf, um im Sinn einer „Protophysik“ die Praxiskonstitution von Wissenschaft zu klären. Das ist zwar sehr viel, aber bei ihm ist es auch schon alles. Er anerkennt z. B. keine ontologischen Fragestellungen. So wendet er sich etwa dagegen, dass bei „den meisten Wissenschaftsphilosophen naturwissenschaftliche Theorien als Aussagensysteme mit Behauptungscharakter“ gelten. Die Rede über Naturgesetze gehört nach Janich zu einer „mythisierenden Überhöhungsliteratur“. Naturwissenschaften seien letztlich nichts anderes als technisches Know-how: „,Naturgesetze‘ sind demnach nur Aussagen über funktionierende Maschinen, ja sie können ohne Umformulierung auch als Konstruktionsanweisungen für Maschinen gelesen werden.“9
Dies ist nun sicher verkehrt. Welche Konstruktionsanweisungen enthalten die Wellenfunktion in der Quantentheorie oder die Maxwellgleichungen in der Elektrodynamik? Ist es nicht vielmehr umgekehrt so, dass keine physikalische Theorie ohne Umformulierung als Handlungsanweisung gelesen werden kann? Sonst hätte es z. B. keine 40 Jahre gebraucht, bis die Techniker gelernt hatten, aus Einsteins E = mc2 den Bau einer Atombombe herzuleiten. Die Spezielle Relativitätstheorie Einsteins enthält durchaus keine Anleitung zum Bau von Atombomben oder Atomkraftwerken und die klassische Elektrodynamik enthält keine Anleitungen zum Bau von Radios, Handys oder GPS-Systemen.
Wir haben also den betrüblichen Sachverhalt, dass die fundierende Rolle der lebensweltlichen Praxis in der Wissenschaftstheorie aus zwei Gründen falsch bestimmt wurde. Das eine Mal, indem der mainstream der Wissenschaftstheorie Lebenswelt durch Wissenschaft ersetzen wollte und das andere Mal, indem der Ansatz bei der technischen oder experimentellen Praxis die Ontologie ganz aus dem Blickfeld verdrängte. Auf diese Weise geriet die hier interessierende Überblendung von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Lebenswelt aus dem Blick.
Das Gesagte ist etwas holzschnittartig, aber es ist hier nicht der Ort, um auf die pragmatische Wende in der Wissenschaftstheorie einzugehen, denn die Situation ist inzwischen sehr komplex und verwickelt. Es scheint aber nicht der Fall, dass die Überlappung von Theorie und Praxis heute im Zentrum des Interesses stünde. Auch wenn Praxis in der Zwischenzeit deutlich höher gewichtet wird als zur Zeit Stegmüllers, führt dies doch gewöhnlich nicht dazu, unseren Seinsbegriff pluralistisch aufzufächern. Wir glauben nach wie vor, dass die Welt hauptamtlich aus Atomen, Molekülen oder Superstrings besteht und dass alles andere nichts ist als eine sekundäre Zusammenballung solcher Urelemente, und wenn wir menschliches Handeln und Erkennen als etwas Eigenständiges zulassen, dann glauben wir gewöhnlich nicht, dass dies etwas zur Sache beiträgt, also unser Seinsverständnis substanziell verändern sollte. Mensch und Welt sind indifferent gegeneinander. Sie sind sich so fremd wie der Bauer und die Großstadt. Letztlich leiden wir immer noch unter einer Spaltung zwischen Theorie und Praxis, Natur- und Sozialwissenschaften, Gesetz und Geschichte, Wissenschaft und Lebenswelt – so oft auch angekündigt wurde, diese Trennungen gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Wenn wir aber beides zulassen, die formalen Konstrukte der Wissenschaft, ihre Ermöglichung technischer Weltbewältigung und unsere konkrete Leiberfahrung als geschichtlich handelnder, psychosomatisch verfasster Wesen, dann fächert sich uns das Sein auf. Wir glauben nicht länger an einen monistischen Block genannt Welt, der geheimnislos anwest als ein selbsttragendes Konstrukt ohne jede Bedeutung. Erst so schließt sich uns der Reichtum der Erfahrung auf und erweckt Zweifel an der Lehre von der reinen Immanenz, die sich selbst organisiert. Zuvor ist aber ein weiter Weg zu gehen, denn die gegenwärtig dominierende Position ist verbreitet und will bedacht sein.
3. Die drei Säulen des Materialismus
Zusammenfassung
Der heutige Materialismus scheint auf drei Grundsätzen zu beruhen:
1) dem Materieprinzip,
2) dem Supervenienzprinzip und
3) dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt.
Dabei betrifft Prinzip 1) den seinshaften Grund aller Dinge, Prinzip 2) den statischen Aufbau, also das Verhältnis verschiedener Organisationsebenen und Prinzip 3) betrifft die Dynamik, also das Werden insgesamt.
Es kann im Folgenden gezeigt werden, dass alle drei Prinzipien entweder unbegründet sind oder doch zumindest nicht aus der Naturwissenschaft folgen. Das gilt z. B. schon für 1) das Materieprinzip. Allgemein wird angenommen, dass es aus der Physik ableitbar sei. Man kann aber leicht zeigen, dass der Begriff der Materie in keiner einzigen physikalischen Formel vorkommt, ja dort gar nicht vorkommen kann. Der diesbezügliche Sprachgebrauch in der Physik ist äußerst lasch. Die Physiker bezeichnen gern etwas habhaftere Größen wie Partikel oder Masse als Materie. Aber dass das ein uneigentlicher Sprachgebrauch ist, sieht man schon daran, dass dann Felder oder Lichtwellen etwas Geistiges sein müssten.
2) Das Supervenienzprinzip bringt die Intuition zum Ausdruck, dass die Welt von unten her getragen wird. Die Materie bestimmt also alle höheren Formen oder anders gewendet: Es kann niemals der Fall eintreten, dass die zugrundeliegende materielle Konfiguration mit sich identisch bleibt, die höheren Eigenschaften, wie Leben oder Bewusstsein, sich jedoch verändern. Die Basis bestimmt den Überbau – die Welt hält von unten her zusammen.
Die nähere Prüfung wird zeigen, dass das Supervenienzprinzip häufig verletzt ist, wenn es darum geht, das hierarchische Verhältnis zweier Ebenen zu beschreiben. So supervenieren z. B. die Eigenschaften von Lebewesen nicht auf ihren Genen oder es spricht auch alles dagegen, dass unser Geist auf dem Gehirn superveniert. Das Supervenienzprinzip ist also ein materialistisches Glaubensbekenntnis, kein Ergebnis der Wissenschaft.
Das ist auch 3) der Fall bei dem Prinzip von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Es bringt zum Ausdruck, dass ein materieller Weltzustand W1 notwendigerweise den nächsten materiellen Weltzustand