Fünfzehn Hunde. Andre Alexis
befanden sich die beiden Götter nicht weit entfernt von der Tierklinik in Shaw. Unbemerkt betraten sie den Ort und fanden Hunde, zumeist Haustiere, die von ihren Besitzern aus dem unterschiedlichen Gründen über Nacht dort untergebracht worden waren. Hunde also.
Soll ich ihnen ihr Gedächtnis lassen?, fragte Apollo.
Ja, sagte Hermes.
Und da verlieh der Gott des Lichts den fünfzehn Hunden, die sich in dem Zwinger hinter der Klinik befanden, »menschliche Intelligenz«.
Irgendwann um Mitternacht hielt Rosie, eine Schäferhündin, die gerade ihre Vagina leckte, inne und fragte sich, wie lange sie wohl an diesem Ort bleiben müsse. Und dann fragte sie sich, was mit ihrem letzten Wurf geschehen war. Es erschien ihr äußerst unfair, mit so viel Mühsal Welpen zu bekommen und sie dann aus den Augen zu verlieren.
Rosie stand auf, um etwas Wasser zu trinken und an den harten Pellets zu schnüffeln, die man ihr zum Fressen gegeben hatte. Mit der Nase an dem Futter in dem flachen Napf herumstupsend, entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, dass der Napf nicht wie gewöhnlich dunkel war, sondern vielmehr eine seltsame Färbung hatte. Sie ähnelte dem Pink von Kaugummi, aber da Rosie diese Farbe nie zuvor gesehen hatte, erschien sie ihr schön. Bis zum Ende ihres Lebens gefiel ihr keine Farbe besser.
In der Zelle nebenan träumte ein grauer Neapolitanischer Mastiff namens Atticus von einem weiten Feld, auf dem es zu seinem Entzücken von kleinen pelzigen Tieren wimmelte. Tausende von ihnen – Ratten, Katzen, Kaninchen und Eichhörnchen – bewegten sich über das Gras wie der Saum eines Kleides, das weggezogen wird, gerade außerhalb seiner Reichweite. Dies war Atticus’ Lieblingstraum, eine nicht nachlassende Freude, die immer damit endete, dass er glücklich ein zappelndes Lebewesen zurück zu seinem geliebten Herrchen brachte. Sein Herrchen nahm das Ding, schlug es gegen einen Stein, führte dann seine Hand über Atticus’ Nacken und sagte seinen Namen. Immer endete dieser Traum so, immer. Aber diesmal nicht. In dieser Nacht, als er in den Nacken einer dieser Kreaturen biss, kam es Atticus in den Sinn, dass das Lebewesen Schmerz verspüren musste. Der Gedanke – klar und unerhört – weckte ihn aus dem Schlaf.
Andere Hunde in dem Zwinger wachten auf, aufgeschreckt von seltsamen Träumen oder dem plötzlichen Bewusstsein einer unbestimmbaren Veränderung in ihrer Umgebung. Diejenigen, die nicht geschlafen hatten – es ist immer ungewohnt, weg von zu Hause zu schlafen –, erhoben sich und gingen leise zu der Tür ihrer Zelle, um zu sehen, wer den Ort betreten hatte. Zuerst nahm jeder von ihnen an, dass seine neuentdeckte Vorstellung einzigartig war. Nur allmählich wurde es ihnen klar, dass sie nun alle in dieser seltsamen Welt lebten.
Ein schwarzer Pudel namens Majnoun bellte leise. Er schaute nachdenklich auf Rosies Käfig, der seinem gegenüberlag. Und zufällig fiel sein Blick auf das Schloss: eine längliche Schlaufe, die an einem Riegel befestigt war. Sie lag zwischen zwei Stücken aus Metall und hielt den Riegel sicher an seinem Platz. Die Vorrichtung war einfach, elegant und effektiv. Doch um die Tür zu öffnen, musste man nur die Schlaufe anheben und den Riegel zurückschieben. Genau das tat Majnoun, indem er sich auf die Hinterbeine stellte und eine Pfote durch das Käfiggitter schob. Er brauchte einige Versuche, denn es war gar nicht so einfach, aber nach einer Weile war das Schloss entriegelt, und er stieß die Tür auf.
Obwohl die meisten Hunde verstanden, wie Majnoun seine Zelle geöffnet hatte, waren nicht alle fähig, das Gleiche zu tun. Es gab verschiedene Gründe dafür. Frick und Frack, zwei einjährige Labradore, die am nächsten Tag kastriert werden sollten, waren zu jung und ungeduldig. Die kleineren Hunde – ein schokoladenfarbener Zwergpudel namens Athena, ein Schnauzer namens Dougie, ein Beagle namens Benjy – wussten, dass sie körperlich nicht in der Lage waren, den Riegel zu erreichen, und winselten frustriert, bis ihre Zellen für sie geöffnet wurden. Die älteren Hunde, insbesondere ein Labradoodle namens Agatha, waren zu müde und verwirrt, um klar zu denken, und zögerten, die Freiheit zu wählen, selbst nachdem die Türen ihrer Zellen offen standen.
Natürlich besaßen die Hunde bereits eine gemeinsame Sprache. Sie war auf das Wesentliche reduziert, eine Sprache, in der vor allem der soziale Status und physische Bedürfnisse von Bedeutung waren. Alle Hunde verstanden die entscheidenden Ausdrücke und Gedanken: »Vergib mir«, »Ich werde dich beißen«, »Ich bin hungrig«. Nun, da ihnen das Primatendenken auferlegt worden war, änderte sich auch die Sprache, in der die Hunde zueinander und zu sich selbst sprachen. Zum Beispiel kannten sie zuvor nicht das Wort »Tür«. Nun verstanden sie, dass »Tür« ein Ding war, das sich von dem Verlangen nach Freiheit unterschied, dass »Tür« unabhängig von Hunden existierte. Seltsamerweise stammte das Wort für »Tür« in der neuen Sprache der Hunde nicht von den Türen zu ihren Zellen, sondern vielmehr von der Hintertür zu der Tierklinik. Diese Tür, groß und grün, ließ sich öffnen, indem eine Metallstange in der Mitte zur Seite geschoben wurde. Diese Metallstange verursachte beim Öffnen einen starken, nachhallenden Knall. Seit jener Nacht kamen die Hunde überein, dass das Wort für »Tür« ein Klick (Zunge gegen Vordergaumen), gefolgt von einem Seufzer, sein sollte.
Zu sagen, die Hunde seien verwirrt gewesen, wäre eine Untertreibung. Wenn sie »verwirrt« waren, als die Bewusstseinsveränderung über sie kam, in welchem Zustand befanden sie sich, als sie die Klinik durch die Hintertür verließen und auf die Shaw Street sahen? Ein Chaos aus Lärm und Gerüchen überfiel sie, dessen Bedeutung nun eine Wichtigkeit für sie hatte wie nie zuvor. Plötzlich verstanden sie, dass sie frei und zugleich hilflos waren.
Wo waren sie? Wer sollte sie anführen?
Für drei der Hunde endete die seltsame Episode bereits an dieser Stelle. Agatha, die an ständigen schrecklichen Schmerzen litt und in der Klinik war, um eingeschläfert zu werden, hielt es für sinnlos, mit den anderen weiterzugehen. Sie hatte ein gutes Leben gelebt, drei Würfe gehabt und so all den Respekt bekommen, den sie von den Hündinnen erwartete, die sie auf Spaziergängen mit ihrem Frauchen traf. Sie wollte nicht Teil einer Welt sein, in der ihr Frauchen keine Rolle spielte. Sie legte sich vor der Tür der Klinik und ließ die anderen wissen, dass sie nicht weglaufen werde. Sie wusste nicht, dass diese Entscheidung ihren Tod bedeutete. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihr Frauchen sie verlassen hatte und sie dem Tod allein ins Auge sehen musste. Am schlimmsten war, dass die Klinikangestellten, die sie am nächsten Morgen zusammen mit den Mischlingen Ronaldinho und Lydia entdeckten, nicht freundlich waren. Sie ließen ihren Frust an Agatha aus und taten ihr weh, als sie zu dem Silbertisch gebracht wurde, wo sie eingeschläfert werden sollte. Einer der Männer schlug sie, als sie den Kopf hob, um ihn zu beißen. Sobald Agatha den Tisch sah, wusste sie, dass ihr Ende gekommen war, und ihre letzten Momente verbrachte sie mit der nutzlosen Anstrengung, ihren Wunsch mitzuteilen, dass sie ihr Frauchen sehen wollte. In ihrer Verwirrung bellte Agatha heiser wieder und wieder das Wort für »Hunger«, bis ihr Geist ihren Körper verlassen hatte.
Wenn Ronaldinho und Lydia auch länger lebten als Agatha, war ihr Ende fast genauso unglücklich. Beide waren in der Tierklinik wegen leichter Beschwerden. Beide wurden heimgeschickt zu dankbaren Besitzern. Und in beiden Fällen vergiftete ihre neue Denkweise, was (zumindest in ihrer Erinnerung) ein idyllisch und relativ langes Leben gewesen war. Ronaldinho lebte bei einer Familie, die ihn liebte, aber nach seiner Rückkehr aus der Klinik begann er zu bemerken, wie herablassend sie ihm gegenüber war. Trotz des spürbaren Beweises, dass Ronaldinho sich verändert hatte, behandelte die Familie ihn immer nur wie ein Spielzeug. Er lernte ihre Sprache. Er saß, stand, stellte sich tot, rollte herum oder bettelte, bevor die Befehle auch nur ausgesprochen waren. Er schaffte es, den Herd abzustellen, wenn der Kessel pfiff. Und einmal, als in seiner Gegenwart behauptet wurde, dass Hunde nicht bis zwanzig zählen könnten, starrte er die Person an, die das gesagt hatte, und bellte – ironisch, verbittert – zwanzig Mal. Niemand nahm es wahr oder zeigte Interesse. Schlimmer noch: Vielleicht weil die Familie vermutete, Ronaldinho sei »nicht mehr der Alte«, mied sie ihn eher, streichelte ihm flüchtig den Rücken oder Kopf, gewissermaßen in Erinnerung an den Hund, der er einmal gewesen war. Er starb desillusioniert und verbittert.
Lydia erging es schlechter. Eine Kreuzung zwischen einem Whippet (ihre Mutter) und einem Weimaraner, war sie immer schon ein nervöses Wesen. Die Gabe der menschlichen Intelligenz machte sie noch nervöser. Auch sie lernte die Sprache ihrer Besitzer, tat oder antizipierte genau, was immer von ihr gewollt wurde. Die Herablassung