Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville

Der Islamische Staat - Thomas Flichy De La Neuville


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aber wurde einfach zu Tode getrampelt.“

      Al-Dhahabi (zeitgenössischer Historiker aus Damaskus, 1274–1348)1

      Am 10. Februar 1258 fiel Bagdad nach zweiwöchiger Belagerung in die Hände der Mongolen. Die Stadt wurde systematisch geplündert und ein Teil der Bevölkerung getötet. Nachdem Hülägü, der Enkel Dschingis Khans, in die „Runde Stadt“ mit ihren prunkvollen Palästen eingezogen war und die schwarze Flagge der Kalifendynastie der Abbasiden nicht mehr über der bezwungenen Stadt wehte, gab sich der letzte Kalif al-Mustasim mit seinen Söhnen in die Hand des Siegers. Er hoffte wohl darauf, dass dieser Milde walten lassen würde. Man führte ihn allein in ein Zelt und verlangte von ihm, die Verstecke mit den sagenhaften Schätzen des Kalifats preiszugeben. Doch anschließend wurde al-Mustasim in einen Sack eingenäht und von mongolischen Pferden zu Tode getrampelt.

      Das Ende des letzten Abbasidenkalifen nährte den Traum, eines Tages Rache zu nehmen an den mongolischen, persischen und christlichen Heeren, die die Kalifenstadt eingenommen hatten, und wieder einen Herrscher einzusetzen, der mächtiger sein würde als Hülägü. Dieser Traum, der unter ethnisch-religiösen, arabischen und sunnitischen Vorzeichen stand, war lange Zeit in Vergessenheit geraten. In ihm manifestiert sich jedoch eine Wunschvorstellung, ohne die man die weltlichen Ziele des fundamentalistischen Islam nicht hinreichend verstehen kann. Sowohl al-Qaida als auch der „Islamische Staat“2 berufen sich darauf. Gleichzeitig verweist dieser historische Rückgriff auf einen wichtigen Punkt: Die Entstehung des Islamischen Staates, der Gegenstand dieses Buches ist, ausschließlich unter den Gesichtspunkten Ökonomie und aktueller Weltlage zu verstehen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch falsch. Die Erneuerung des Kalifats stellt sich vor allem als die Verwirklichung eines alten Traumes dar, und es besteht kein Zweifel, dass die Wiederbelebung der Bezeichnung „Kalif“ einem emotionalen Donnerschlag gleichkam, der dem Westen gänzlich entging. Niemand weiß, ob Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der dschihadistischsalafistischen Terrororganisation Islamischer Staat, schon morgen seine Befehle mit dem Siegel des Propheten Mohammed zeichnet. Das Schwert des letzten Kalifen hat er jedenfalls wiedergefunden, jenes Schwert, dessen Hülägü nicht habhaft werden konnte, weil es sich im Wunsch nach Rache der Besiegten verborgen hatte. Das unvermittelte Erscheinen der Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) und deren Ausrufung eines „Islamischen Kalifats“ im Juni 2014 ist nicht bloß eine Episode am Rande.2 Es stellt für dessen Anhängerschaft einen Gründungsmoment dar und ist insgesamt für die Geopolitik des Nahen Ostens und darüber hinaus ein einschneidendes Ereignis. Die politische und die religiöse Landkarte vom Euphrat bis zum Mittelmeer wurden neu gezeichnet – mit weitreichenden Auswirkungen für die arabische Welt und, wie wir spätestens seit den Anschlägen der jüngsten Zeit wissen, auch für den Westen, der zunehmend als Kampfgebiet des islamischen Terrors gesehen werden muss.

      Wie bedenklich die aktuelle Lage ist, soll dieses Buch zeigen. Es ist Ergebnis der Zusammenarbeit eines Historikers und eines Geopolitologen. Ihr Anliegen ist es, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Sachlage bis Anfang 2015 wiederzugeben, einige Schlüssel zum Verständnis der dramatischen Ereignisse des Jahres 2014 zu liefern und zu untersuchen, was der Islamische Staat ist, wo er herkommt, was er vorhat und wie es um seine Zukunft beschieden ist.

      Die Entstehung des Islamischen Staates

      Das Islamische Kalifat ist nicht aus dem Nichts entstanden, im Gegenteil: Es lassen sich viele Bezüge aus der Frühzeit des Islam finden. Der damit verbundene Konflikt muss deshalb in einem historischen Kontext gesehen werden. Seine Entstehung ist darüber hinaus einer ganzen Reihe von klar auszumachenden Faktoren geschuldet, die schließlich zur Implosion Syriens, dann auch des Irak geführt haben. Tatsächlich ist der Islamische Staat (IS) aus dem Zusammenbruch dieser beiden Staaten hervorgegangen, aber auch weitere Faktoren spielten eine Rolle: die früheren willkürlichen Grenzziehungen britischer Besatzer, die laizistischen Bestrebungen der Baath-Partei, der seit Jahrhunderten schwelende Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, die Irak-Kriege, das politische Eingreifen des Westens, insbesondere der USA in jüngster Zeit. Dass es in diesem Gebiet immer auch um Öl und wirtschaftlichen Einfluss geht, macht das Phänomen IS um so brisanter.

      Schon unter Saddam Hussein war der Irak von auseinanderdriftenden ethnisch-religiösen Kräften zerrissen: die sunnitischen Kurden im Norden (28 % der Bevölkerung), die schiitischen Araber im Süden, die landesweit größte Gruppierung (49 %), und die überwiegend regimetreuen sunnitischen Araber im Zentrum (17 %), von denen jene in Tikrit besonders privilegiert waren. Unter dem Sunniten Saddam Hussein waren die Schiiten, denen eine zu große Nähe zum schiitischen Regime in Iran nachgesagt wurde, in der Position der Unterdrückten, denen auch die Pilgerfahrt nach Kerbela untersagt war. Zu diesen Zerwürfnissen unter den Muslimen kam im Norden noch die Präsenz von Minderheiten hinzu, die auf den Schutz des Regimes zählen konnten, solange sie sich unterordneten: assyrische Christen, Chaldäer, Katholiken, Jesiden3, Turkmenen4 und sogar einige Juden. Für die IS-Eiferer ist der Irak eine Brutstätte von Ungläubigen, die der Wahrheit zugeführt, vertrieben oder getötet werden müssen. Das erklärt die brutalen Vertreibungen bei ihrem Einmarsch im Juni 2014 in Mosul, dem Zentrum der irakischen Christen.

      Der Irak ist aber auch ein Mosaik aus arabischen Stämmen, die sich in der Nachfolge eines ruhmreichen Ahnherrn sehen, der zur Zeit des Propheten bzw. seiner engsten Gefährten gelebt haben soll. Die Stammesstrukturen gehen zurück auf die Mesopotamische Zeit und haben alle Invasionen überdauert. Ihr strukturgebender Charakter ist sehr real, viel stärker als der laizistische oder demokratische Staat. Trotz aller Wirren ist der Stammesverband nach wie vor das stärkste Bindeglied der irakischen Gesellschaft. Im Übrigen stützten sich die Briten beim Aufbau ihres Verwaltungssystems der Indirect Rule auf die Stämme, indem sie die Wasserverteilung und die Gebietskontrolle auf die Shaikhs, die Stammesführer, übertrugen. Die Stammeszugehörigkeit hat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung verloren, dennoch hat die Gruppe für den Einzelnen große Bedeutung, vor allem in Krisenzeiten werden die traditionellen Solidarnetzwerke reaktiviert. So waren die Takriti, denen Saddam Hussein angehörte, für ihren Zusammenhalt und ihre gegenseitige Unterstützung bekannt. Saddam versuchte die Macht der Stammesfürsten zu schwächen, änderte seine Politik jedoch nach dem verlorenen Golfkrieg 1991. Die sunnitischen Strukturen erlebten daraufhin eine regelrechte Renaissance.5

      Obwohl die irakische Gesellschaft sich als eine religiöse begriff, konnte sich nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei 1968 ein gewisser Laizismus entwickeln. Diese politische Bewegung sozialistischer Prägung propagierte einen glühenden Nationalismus im Namen des Wiederaufbaus der arabischen Einheit. Die Länder Syrien und Irak wurden von der Baath-Bewegung regiert: Ab 1979 war Syrien fest in der Hand der Familie al-Assad, der Irak im Griff von Saddam Hussein. Letzterer instrumentalisierte die Baath-Partei und die Erdöleinnahmen zugunsten seines Klans und der Sunniten. Als Reaktion auf das Baath-Projekt, das sich laizistisch gab, um das Völkergemisch zusammenzuhalten, wurde die schiitische Mehrheit immer gläubiger, ja fundamentalistisch. Die Anhängerschaft des Islamischen Staates präsentiert das Kalifat nunmehr als die Wiederkehr eines Sunnismus, der Laizismus und Baathismus abgestreift hat und sich daher mit dem religiösen Eifer der irakischen Schiiten messen kann.

      Diese Vorstellung hat zweifellos viele Sunniten, die nach 2003, als im Irak die schiitische Mehrheit die Macht übernahm, einen Bedeutungsverlust hinnehmen mussten, für extremistische Positionen empfänglich gemacht. Die gesamte Region ist geprägt von den allgegenwärtigen Moscheen, von muslimischer Geschichte und muslimischen Symbolen, eine ständige Mahnung an die Bewohner, ihren religiösen Verpflichtungen nachzukommen, der sich auch die nicht ganz so eifrigen Gläubigen und die Religionsfernen nicht entziehen können. Die Bekehrung zum Rigorismus erscheint unter diesen Umständen wie eine Rückkehr zur Frömmigkeit, die eine Vergebung der Sünden und den Sieg für die Sache Gottes, die viel zu lange vernachlässigt wurde, ermöglicht.6

      Ethnisch-religiöse Situation im Irak

      Der


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