Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville

Der Islamische Staat - Thomas Flichy De La Neuville


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von Sprengsätzen, sogar der Überfall auf Mosul, der im Mai 2014 im syrischen Rakka geplant wurde – der im Entstehen begriffene Islamische Staat konnte sich keine besseren Bedingungen erhoffen, um zu wachsen und sich im Kampf zu erproben.

      Mehr noch, unzählige kleine Gruppen – die einen syrisch-laizistisch, die anderen dschihadistisch und mit hohem Ausländeranteil – machten sich das Ungeschick des Westens und die militärische Hilfe der USA und Europas für die Rebellen gegen das Assad-Regime zunutze, um in den Besitz der zuhauf verteilten leichten Waffen zu gelangen (Sturmgewehre, Granaten, Panzerabwehrraketen usw.).26 Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle der USA bei der Militärausbildung syrischer Rebellen, von denen die meisten inzwischen dem IS dienen: Mindestens 200 Soldaten der Freien Syrischen Armee erhielten Anfang 2013 eine amerikanische Militärausbildung in Jordanien.27

      Nach 2012 hörte Syrien faktisch auf zu existieren. Die Freie Syrische Armee war mit den dschihadistischen Gruppierungen völlig überfordert, das Zweckbündnis zerbrach.28 Die loyalen Regimetruppen kontrollieren Damaskus und die Westhälfte des Landes; der Norden und der Osten hingegen sowie einige Widerstandsnester an der jordanischen Grenze sind ihnen völlig entglitten. Doch Präsident al-Assad beherrscht die Kunst der politischen und medialen Manipulation. So soll er zu Beginn des Aufstands inhaftierte Salafisten freigelassen haben, um die Stimmung anzuheizen und die Protestbewegung wegen angeblicher Verbindungen zu al-Qaida zu diffamieren.29

      In Syrien sind insbesondere folgende Rebellengruppen auszumachen:

      – Die Partei der Demokratischen Union (PYD) der sunnitischen Kurden, die für eine Autonomie der hauptsächlich von Kurden bewohnten Gebiete im Norden Syriens kämpfen. Seitdem die Grenze zwischen Syrien und Irak faktisch nicht mehr existiert, arbeitet die PYD Hand in Hand mit den Kurden aus dem irakischen Kurdistan zusammen, was von der Türkei, die eine Autonomie der kurdischen Minderheit auf ihrem Staatsgebiet strikt ablehnt, als Bedrohung empfunden werden kann. Die türkischen Finanzhilfen für die syrische Rebellion sind natürlich auch mit der kurdischen Frage verbunden.

      – Die salafistische Islamische Front mit sehr vielen Anhängern will die Scharia im Land einführen. Sie wird vermutlich von Saudi-Arabien unterstützt.

      – Die Jabhat an-Nusra („Siegesfront“) mit 10.000 bis 20.000 Kämpfern.30

      Die letztgenannte Gruppierung war ursprünglich ein bewaffneter Arm der militanten Organisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien, der im Januar 2012 auf Betreiben von Aiman az-Zawahiri und damit al-Qaida gegründet wurde, um die Alawiten-Herrschaft zu beenden und das Land Sham, also die Levante bzw. Großsyrien (Syrien und Libanon) zurückzuerobern. Jabhat an-Nusra wurde dem Kommando von Abu Muhammad al-Jaulani, einem Gefolgsmann von Abu Bakr al-Baghdadi, unterstellt. Damit kooperierte ISIS auf syrischer Seite mit an-Nusra und auf irakischer Seite mit al-Qaida.

      In Syrien zielten beide Gruppierungen auf die Befolgung der Scharia in den Nahost-Ländern insbesondere durch die Auslöschung des Schiitentums, langfristig auch durch Angriffe auf die USA und den Westen. Aufgrund interner Streitigkeiten, vor allem aber aufgrund der persönlichen Ambitionen al-Baghdadis entfernte sich Jabhat an-Nusra immer mehr von ISIS und im Mai 2014 kam es schließlich zum Bruch. Ihr Anführer schwor daraufhin Zawahiri (al-Qaida) Gefolgschaftstreue. Die Nusra-Front, die seit August 2011 in Syrien präsent ist, konnte sich durch den Aufbau von Verwaltungsstrukturen in den Städten, die Sicherung von Ölreserven und die Einrichtung von Hilfsdiensten das Wohlwollen der Bevölkerung sichern; sie findet einen starken Rückhalt bei den Ortsansässigen, die sich durch das Alawiten-Regime im Stich gelassen fühlen. Die eigenmächtige Proklamierung des grenzüberschreitenden Islamischen Kalifats durch al-Baghdadi stellte allerdings die Machtsphäre der Nusra-Front in Syrien in Frage, und es kam zu Kämpfen zwischen den ehemaligen Verbündeten. Al-Jaulani näherte sich daraufhin az-Zawahiri an, schloss sich dem Terrornetzwerk al-Qaida an und sicherte sich so finanzielle Hilfe sowie eine größere Glaubwürdigkeit und Autonomie. Letztlich beruht der Gegensatz zwischen Da‘ish und der Nusra-Front, die durch al-Qaida gestützt wird, auf persönlichen wie auf doktrinären Rivalitäten.

      Trotz der siegreichen Einnahme von Rakka durch ISIS im März 2013 ist es seit Januar 2013 in Syrien vermehrt zu Zusammenstößen zwischen beiden Gruppierungen gekommen,31 insbesondere in den Erdölgebieten und rund um die ostsyrische Stadt Deir ez-Zor. Diese Gefechte haben auch mit der unterschiedlichen Zusammensetzung der Organisationen zu tun. Während Jabhat an-Nusra sich hauptsächlich aus Syrern rekrutiert, die früher auf Seiten der Freien Syrischen Armee kämpften, bevor sie sich der reicheren, besser organisierten und vor allem stärker religiös ausgerichteten Nusra-Bewegung anschlossen, stammen die IS-Kämpfer fast ausschließlich aus dem nichtsyrischen Ausland: Über 70 Prozent der Mitglieder der bewaffneten Gruppen von Da‘ish in Syrien kommen aus dem Irak, aus Somalia und sogar aus Europa.32 Im Unterschied zu an-Nusra hat ISIS mehrfach seine Ablehnung gegenüber militärischer Hilfe durch Ungläubige im Kampf gegen Assad erklärt. Die Bekämpfung der Nusra-Front brachte dem IS keine Vorteile, zwischen 2013 und 2014 verlor er im Osten Syriens – mit Ausnahme der Stadt Rakka – sogar an Boden. Doch die militärischen Erfolge des IS im Sommer 2014 brachten der Organisation Aufwind: Hunderte Nusra-Kämpfer zogen es vor, zur dynamischeren Konkurrenzorganisation zu wechseln.33

      Auf irakischer Seite war 2011 ein katastrophales Jahr für die dortige Al-Qaida-Zelle AQAH (Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel), da sie in den pausenlosen Angriffen der amerikanischen und irakischen Truppen fast vollständig zerrieben wurde. Doch ab 2012 konnte sich die Organisation, begünstigt durch Fehlentscheidungen des irakischen Ministerpräsidenten und den Rückzug der USA, wieder neu formieren. Zwischen 2012 und 2013 war nicht Da‘ish, sondern AQAH die aktivste Bewegung im Irak. Die Gruppierung war für ein Dutzend Anschläge pro Monat mit insgesamt tausend Opfern verantwortlich. Schiitische Wohnviertel in Bagdad, aber auch küstennahe Gebiete im Süden des Landes waren besonders betroffen – dazu war al-Baghdadi nicht in der Lage. Dennoch begann ISIS mit der eigenständigen Planung von Terrorkampagnen und setzte sich zunehmend über die operativen Weisungen von al-Qaida hinweg. Im Juli 2012 startete Da‘ish die Operation „Grenzvernichtung“. Am 21. Juli gelang es, das berüchtigte Bagdader Abu-Ghuraib-Gefängnis zu stürmen und 500 Insassen zu befreien. Im August 2013 startete AQAH eine eigene, ebenso mörderische Kampagne mit dem Namen „Soldatenmähen“, wohl um ihr Zerstörungspotenzial zu betonen.34

      Diese Vorgänge in Syrien und im Irak führten schließlich dazu, dass die schwer greifbare Organisation, die für den 11. September verantwortlich ist, alle Verbindungen zu Da‘ish abbrach. Al-Baghdadi und seine Gruppierung agierten ihr zu eigenständig. Und mit der einseitigen Proklamierung des Islamischen Kalifats im Irak wurde diese Eigenständigkeit zu offensichtlich.

       „Dass ISIS gekommen ist, hat mehr mit lokalen Interessen als mit einem Glaubenskrieg zu tun.“

      Ein Turkmene aus Taze35

      Unter den irakischen Stämmen, deren Gebiete unter der Kontrolle des IS stehen, herrschen große Uneinigkeit und genereller politischer Opportunismus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die syrisch-irakische Grenze durch das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 zwar geschlossen, trotzdem verkehrten die Bewohner der Grenzregionen des Libanon, Syriens und Nordiraks weiterhin miteinander, aber nicht nur wegen ihr gemeinsamen Erdöl-Interessen (die IPC, die Öl-Pipeline von Kirkuk nach Tripolis, führt durch alle drei Länder), sondern vor allem aufgrund ihrer Verbundenheit als Araber und Sunniten. In Syrien schlossen sich viele Baath-Offiziere der Freien Syrischen Armee an und sahen sich dann im Kampf gegen das schiitisch-alawitische Assad-Regime zu einer Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppierungen gezwungen, genauso wie ihre irakischen Baath-Kollegen, die sich im Kampf gegen die schiitische Regierung in Bagdad Da‘ish anschlossen. Offenbar arbeiteten die alten Kader der irakischen Baath-Partei mit IS-Leuten zusammen, um die Autonomie des sunnitischen Gebiets zu sichern, und zwar mit der stillschweigenden Zustimmung von Masud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die Einnahme von Mosul im Juni 2014 durch den IS soll die Folge dieser opportunistischen Zusammenarbeit gewesen sein.36 Abu Abdul Rahman al-Bidawi, der derzeitige Leiter der Militäroperationen


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