Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville
ersten wirklich großen Stadt – Falludscha zählt mehr als 300.000 Einwohner.
Obwohl die irakische Armee mit Material aus den USA unterstützt wurde (Drohnen, Aufklärungsgerät, Helikopter), waren ihre Soldaten längst nicht so motiviert und kampferprobt wie die zum Äußersten entschlossenen ISIS-Kämpfer.47 Zwar misslang der Vorstoß der Dschihadisten auf Ramadi im Januar 2014, Falludscha aber blieb in ihren Händen. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich aufgrund der Erfolge immer mehr Dschihadisten der Gruppierung an, die inzwischen zu regelrechten Militäroffensiven mit schweren Waffen, Pick-ups und sogar Panzern, die sie in Syrien und an irakischen Armeestandorten erbeutet hatte, in der Lage war. Nur über Fluggerät verfügten sie noch nicht. Da‘ish hatte ihre Kapazitäten vervielfacht, ihre Kämpfer konnten nun an mehreren Fronten gleichzeitig angreifen.
Im Juni 2014 waren Ramadi und Samarra für einige Tage fest in ISIS-Hand und Mosul war unmittelbar bedroht. Vom 6. bis 10. Juni wurde die Großstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern sukzessive erobert und mit ihr auch die ganze Provinz Ninive. Die Regierungstruppen räumten offenbar kampflos das Feld, vermutlich auch deswegen, weil die meisten Soldaten Schiiten waren. Die sunnitischen Offiziere hingegen überließen ISIS schlicht die taktische Initiative. Ein schwerer Anschlag mit einem Tanklastwagen gegen das Hauptquartier in Mosul lähmte die Streitkräfte und vereitelte ihre Pläne für einen Gegenangriff. Von Panik ergriffen floh eine halbe Million Zivilisten Richtung Norden in der Hoffnung, in Kurdistan Unterschlupf zu finden.48
Der Vorstoß der Dschihadisten im sunnitischen Landesteil verlief völlig problemlos, da die Stämme sich ihnen massiv – teils offen, teils stillschweigend – anschlossen.49 Ab Juni fiel eine Stadt nach der anderen in die Hände der ISIS-Kämpfer: die Raffineriestadt Baidschi, Tal Afar, Al-Awja und Tikrit, wo offenbar 1.700 Schiiten hingerichtet wurden. Allerdings leistete Samarra noch Widerstand, außerdem mussten Muatassam und Ischaqi wieder aufgeben werden. Am 13. Juni machten sich die Peschmerga – die Soldaten Kurdistans – die Auflösung der Regierungstruppen zunutze und übernahmen die Kontrolle über Kirkuk. Die Zentralregierung in Bagdad musste Russland und die USA um Hilfe bitten. Letztere ließen es bei Luftschlägen bewenden und schickten Spezialeinheiten zum Schutz der bedrohten amerikanischen Interessen. Freilich setzten die Übergriffe der irakischen Armee der Einheit des Landes mehr zu als die militärischen Niederlagen: Offenbar wurden im Juni 2014 in Hilla (Provinz Babil) hunderte Gefangene getötet. Unterdessen setzte sich der Vormarsch der Dschihadisten weiter fort: Rawa und Rutba fielen, dann Qaim und Rabia, zwei strategisch wichtige Grenzstädte zu Syrien. Damit konnte Da‘ish sich zwischen beiden Ländern frei bewegen. Am 29. Juni 2014 vollzog die ISIS-Bewegung dann ihre symbolische Verwandlung: Das Kalifat wurde ausgerufen, die Organisation und ihr Territorium erhielten den Namen Islamischer Staat. Al-Baghdadi forderte daraufhin seine Gefolgsleute auf, „bis nach Bagdad zu robben“, sich also bis nach Bagdad vorzukämpfen und die Hauptstadt einzunehmen.
Obwohl der Vormarsch ins Stocken geriet, blieb Da‘ish noch den ganzen Juli über Herr der Lage. Am 8. Juli fiel ein Chemiewaffenlager in die Hände der IS-Miliz. Bagdad war jetzt nur noch 50 Kilometer entfernt. Eine neue Welle von anti-schiitischen Anschlägen erschütterte die Hauptstadt und ihre Vororte. Im Zuge ihres Angriffs auf Jurf al-Sakhr Ende Juli versuchten die Islamisten die Hauptstadt einzukreisen, um sie vom schiitischen Süden und damit von den Nachschubbasen in Kerbela und Basra abzuschneiden. Im August endete der erfolgreiche Vormarsch des IS in Richtung Südirak.
Am 17. Juni 2014 hatte Ajatollah Ali al-Sistani, der höchste Würdenträger der Schiiten im Irak, dazu aufgerufen, sich den Dschihadisten in den Weg zu stellen, woraufhin sich (laut AFP und IRIB) zahlreiche Freiwillige begeistert den konfessionellen Milizen anschlossen. Teile von Tikrit wurden befreit. An den Außenrändern der sunnitischen Gebiete konnte der IS nicht mehr mit der Unterstützung der Stämme rechnen, im Gegenteil, bei jedem Schritt trafen die Kämpfer auf den Widerstand der Milizen und der irakischen Armee. Die Hauptstadt Bagdad mit ihrer mehrheitlich schiitischen Bevölkerung war nicht zu Fall zu bringen. Der IS musste die Hoffnung auf die weitläufigen Erdölfelder der Hauptstadt, die er so dringend brauchte, um seine Finanzierung langfristig zu sichern, aufgeben.50
Da es kein Weiterkommen im Süden gab, und das offenbar endgültig, änderte Da‘ish Anfang August die Taktik und ging an der Nordgrenze wieder in die Offensive. Der Kampf richtete sich gegen die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die zunächst in Zumar und Sindjar geschlagen wurden.51 Dann fielen die Städte Karamlesch und Karakosch mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung. In diesen Landstrichen, die jetzt wie in einem Schraubstock zwischen den sunnitischen Gebieten, die unter der Kontrolle des IS standen, und der Autonomen Region Kurdistan eingeklemmt waren, lebten Teile der christlichen und jesidischen Minderheiten des Landes. Mehr als 30.000 Menschen, hauptsächlich Jesiden, flüchteten aus Kocho und Sindjar in die umliegenden Berge und saßen plötzlich in der Falle, ohne jede Hilfe, ohne Wasser, von Tod und – besonders für die Frauen – Verschleppung bedroht.52 Tausende Familien schleppten sich unter der sengenden Sonne in die von den Peschmerga kontrollierten Gebieten – der glühende Hass auf die „Teufelsanbeter“ drohte in einem Massaker enden. Am 6. August flüchteten mehr als 100.000 Zivilisten, hauptsächlich Christen, aus Karakosch und Umgebung; nur die Alten, die nicht mehr laufen konnten, blieben zurück. Am selben Tag wurde durch eine kurdische Gegenoffensive, die von kurdischen Kämpfern aus der Türkei und Syrien unterstützt wurde, zwar eine Bresche geschlagen, doch der Flüchtlingsstrom nach Kurdistan ebbte nicht ab. Viele waren gezwungen, ihre Autos stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Die Regierung in Bagdad bat um Hilfe, woraufhin die USA beschlossen, mit Luftschlägen gegen die Dschihadisten vorzugehen. Schon bald konnten die Kurden, nach etwa 180 US-Luftangriffen, den Mosul-Staudamm sowie einige kleinere Ortschaften südlich von Erbil zurückerobern. Ende August war ein Zurückweichen der Dschihadisten im Norden zu verzeichnen. In Zentralirak wurde die über mehrere Wochen belagerte Kleinstadt Amerli befreit.
Ab September verloren die Militäroperationen am Boden an Intensität und alle Parteien verharrten in ihren Stellungen. Die Luftschläge der USA (und bald auch der französischen Luftwaffe) zielten diesseits und jenseits der syrisch-irakischen Grenze auf die georteten Kommandozentralen, Verkehrswege, Erdöl-Förderanlagen und Anführer des IS. Über etwaige „Kollateralschäden“, die womöglich schlechte Presse nach sich gezogen hätten, drang nichts an die Öffentlichkeit.53 Am 11. September kündigte der US-Außenminister in der saudischen Hafenstadt Dschidda die Bildung einer Koalition aus 25 Ländern zur Bekämpfung des IS an. Die US-Luftschläge gingen unterdessen weiter, obwohl klar war, dass sie wenig Wirkung zeigten, solange die Dschihadisten sich jederzeit unter die Stadtbevölkerung mischen konnten. Aber nicht nur das, am 19. September beispielsweise brachten die Dschihadisten, nachdem zwei französische Kampfflugzeuge vom Typ Rafale einen IS-Logistikstandort im Umland von Mosul zerstört hatten, 60 kurdische Dörfer in Nordost-Syrien in der Nähe der Stadt Ain al-Arab (Kobane) unter ihre Kontrolle, was tausende Kurden zur Flucht in die Türkei trieb.54 Schon jetzt war der Erfolg der Luftschläge zweifelhaft.55 Zwischen Oktober und November wurde die Stadt Kobane, aus der die meisten Bewohner geflohen waren, regelrecht belagert. Obwohl die Amerikaner Druck machten, lehnte die Türkei eine Beteiligung am Kampf um die Befreiung der syrischen Stadt ab, und der IS setzte, ungeachtet der kurdischen Verstärkung, die Kämpfe vor Ort fort. Mehr noch, als die USA ab 23. September auch die IS-kontrollierten Gebiete in Syrien angriffen, insbesondere Rakka, löste diese Ausweitung der Luftschläge über Irak hinaus heftige Reaktionen seitens China, Iran und Russland aus, für die eine Einmischung in Syrien und eine Bedrohung des Assad-Regimes indiskutabel sind.56
Vom 8. August bis 6. Oktober wurden mindestens 250 Luftangriffe im Irak und 90 in Syrien geflogen. Allein ein Drittel dieser Operationen trafen Stadtviertel in Erbil, Amerli und Bagdad, also Städte, von denen man behauptete, dass sie von Da‘ish verschont geblieben waren. Am 2. und 3. Oktober kam es südlich von Kirkuk zu heftigen Gefechten zwischen IS-Kämpfern und der kurdischen Peschmerga. Die Stadt Hit südlich von Haditha geriet am 5. Oktober – von den Medien völlig unbeachtet – unter die Kontrolle des IS. Seit Mitte Oktober hält der Angriff des IS auf das Sindjar-Gebirge, der Heimat der Jesiden, an; außerdem konnte er seine Stellungen 40 Kilometer westlich von Bagdad festigen. Ramadi, die letzte regierungstreue Stadt der Provinz Anbar, und die Al-Asad-Luftwaffenbasis nahe Hit drohen ebenfalls unter die Kontrolle