Die Poesie des Biers 2. Jürgen Roth

Die Poesie des Biers 2 - Jürgen Roth


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Rumpfgebirge durchstreift, die nachträgliche Korrespondenz wäre nicht zum Gründungsdokument der deutschen Romantik geworden.

      »Man nennt diese Gegend ›das bayerische Sibirien‹«, sagt der aus Hof stammende Theaterregisseur und -dramaturg Helmut Schödel. »Das Gefühlsleben der Menschen hat Frostbeulen, und ihre Sprache ist knapp, schroff und karg.«

      Die Wölfe kehren zurück, wird erzählt. Die Raubtiere benötigen dünnbesiedelte Habitate, und das Fichtelgebirge entvölkert sich seit Jahren geradezu. Eine Stadt wie Selb liegt gewissermaßen in Agonie, die Porzellanindustrie weithin am Boden. Ortskerne veröden und zerbröseln, Wunsiedel soll zu einer Stadt der Senioren werden. Vor dem Fall der Mauer kamen wenigstens noch die Westberliner und machten Urlaub. Auch vorbei.

      An der Autobahn hinter Bayreuth prangt ein Schild: »Genußregion Oberfranken – Land der Brauereien«. Kurz nach Bad Berneck, wo ein Getränkemarkt mit dem Slogan »Lust auf Durst?« verzweifelt um Kundschaft buhlt, kasteln uns Fichtenrigipswände ein. Über uns hetzen Wolkengewölle dahin und wieder daher.

      Bischofsgrün kauert im Holz. »Das Wetter war sehr trübe, und es regnete sogar etwas«, klagte Tieck. »Wir kamen in eine ziemlich uninteressante Gegend. Das Wetter ward immer unangenehmer; ein kalter, schneidender kleiner Regen trieb uns entgegen; ein feuchter Nebel stieg aus den Bergen und Wäldern auf.« Und jetzt schiebt sich der Nebel wie ein Schleier über den schummerigen Fichtelsee und eine einsame, herzergreifend stille Landschaft, deren herbe Schönheit, da müssen wir Tieck widersprechen, an manchen Ecken beinahe Züge von Amönität gewinnt.

      Eine Viertelstunde Fahrt gen Osten, durch einen undurchdringlichen Forst, nach Wunsiedel. Eine »gute, lichte Stadt« sei sein Geburtsort, meinte Jean Paul, Kollege Tieck hielt dafür: »Die Stadt ist klein. […] Sie hat ein sonderbares Aussehen«, während Reisegefährte Wakkenroder das unbestechliche Urteil fällte: »Die Straßen gehen bergauf, die Häuser sind ziemlich gut.«

      Die Straßen gehen auch wieder bergab, und einige Häuserzeilen im Zentrum, herausgeputzt, lakkiert, poliert, sind tatsächlich schön anzusehen. Doch die »Stadt der Brunnen«, die auf Grund der hiesigen Niederschlagsmengen keines künstlichen Zulaufs bedürfen, empfängt uns mit energisch verwitternden Häuserwänden, heruntergewirtschafteten hölzernen Fensterläden und Hoftoren, unlesbaren Wegweisern, graubraunen, geduckten, merkwürdig zusammengewürfelten Bauten, mit Geschäften mit Billigstangeboten und mit der stillgelegten Sechsämtertropfen-Manufaktur.

      Von der Gaststätte Schelter, eigentlich: Gaststätte Wiesental, in Wintersreuth war im Vorfeld die Kunde gegangen, von einer schlichten Bauern- und Brotzeitwirtschaft, wie es sie kaum mehr gebe. Ein Kleinod des Unprätentiösen sei die Schelter, früher ist sie geführt worden vom Schelters Gorch, vom Georg Schelter, heute regieren der Sohn, der Metzgermeister Rudi, und die alte Frau Schelter in der Küche, und im Schankraum hat die Anni das Sagen, Rudis Frau.

      Also wieder Richtung Osten, allerdings bloß ein paar Kilometer. Wintersreuth. Im Mai, im Juni, im Juli kann hier Winter sein. Felder und Wiesen ziehen sich wie Samt übers sanfte Tal. Bachbäume, Buschsäume, Obstbaumsolitäre vor Fichtenparavents, die naßglänzende Straße schlängelt sich durch übermütig sprießendes Grün, der Himmel ergraut in allen denkbaren Anthrazittönen, der Nebel schleicht umher.

      Neben dem unauffälligen Wirtshaus ein kleiner, ordentlich eingefeuchteter Biergarten mit Blick auf die mild geböschte Umgebung – und, inmitten einer Wiese, ein kniehoch hölzern eingezäunter Kräutergarten, ein Sinnbild für Franken. »Nichts will hier imponieren«, lobte der Reiseschriftsteller Horst Krüger Ende der siebziger Jahre Franken, »das andere, stille Deutschland«. Und wir schließen uns ihm an: »Ich bin jedesmal wieder erstaunt, daß es so etwas gibt: intakte Provinz, eine unzerstörte Region.«

      »Wos wollts ’n ihr?« Wenn jemand bodenständig freundlich, gutmütig forsch ist, dann die Anni Schelter. Aus dem ganzen Landkreis kommen sie hierher, Ärzte, Arbeiter, Angestellte. Dieses Elysium, heißt es, sei stets vollbesetzt. Zur Mittagszeit stehen die Leute Schlange, um an die konkurrenzlos günstigen Edelspeisen zu gelangen, abends bevölkern Wurstbrotesser, Plauderbedürftige, Dämmerschoppentrinker und andere Spezialkräfte die segensreiche Normalkneipe.

      »Do hast a Bea!« Es kann passieren, daß das Bier, wenn Anni es auf den Holztisch knallt, überschwappt. Das Interieur ist von jener Art, daß man es nicht zu beschreiben braucht – ehrwürdig, einfach. Warum verschwinden allerorten solche Lokalitäten? Warum werden sie von der Welt verschluckt? Warum muß alles, was eben nur scheinbar überkommen ist, weg? Zugesperrt, abgerissen werden? Im Namen des Fortschritts, der Walter Benjamin zufolge die Katastrophe ist, in der wir uns eingerichtet haben? Und die wir daher nicht mehr sehen?

      Von legendären Schlachtschüsseln, von Schweinernem auf höchstem Niveau, von seraphischer Sülze und gnadenreichem Büchsenfleisch, von Bratwürsten, die man vergolden möchte, von Stockfisch und vielem anderen geht die Rede – ohne Ausnahme im Familienbetrieb hergestellt. Wir bestellen die Spezialität des Hauses, angebratene Göttinger mit Sauerkraut, das hier durch die Beigabe von Kartoffelstärke zu einem deliziös cremigen Gericht gerät und uns wie ein synästhetisches Echo auf die zauberhaft spröde Gegend mit ihren Rundungen, Wiesenbuchten und Waldbögen dünkt.

      Nun will man nichts mehr – außer etliche redliche, gezapfte Biere von örtlichen Brauinstituten zu trinken und betört-belemmert den halb auf düsterfränkisch, halb auf oberpfälzisch geführten Debatten über Wagner-Inszenierungen in Bayreuth zu lauschen. Denn wie schrieb Jean Paul? »Sie sahen erfreut dem Freuen zu.«

      Ja, das ist es, das Jean Paulsche »Vollglück in der Beschränkung«, Schutz findend vor den Unbilden der Zeit, der Welt und des Wetters, in der Schelter in Wintersreuth.

      Das elektronische Huhn

      »Bayreuth trotz Bier und Gegend unaushaltbar.« Jean Pauls bekanntes Diktum gilt hier und heute, im Biergarten der Schloßgaststätte in der unter Markgräfin Wilhelmine mit allerhand Schnickschnack wie Grotten und Ruinentheater ausstaffierten Eremitage, in keiner Weise. Das Einnordungsbier mundet vorzüglich, das Essen auch, und man wähnt sich wahrlich in jenem »Vorhimmel«, den Jean Paul pries.

      Der von beinahe unermeßlicher Liebe zu den kleinen Leuten erfüllte poetische Enzyklopädist wollte ohne Bier nicht sein. Er kenne »keinen Gaumen-, nur Gehirnkitzel«, notierte er, »und steigt mir eine Sache nicht in den Kopf, so soll sie auch nicht in die Blase«.

      Bloß sehen, riechen, lauschen – dem leis’ knisternd in sich zusammensinkenden Bierschaum über einem rechtschaffen goldenen Flüssigkeitszylinder. Höheres, meint man zuweilen, gibt es kaum. Derweil erzählt die Kulturwissenschaftlerin und -managerin Karla Fohrbeck, die ein Büro in Jean Pauls letzter Wohnstätte unterhält, im »Schwabacher Haus« in der Friedrichstraße, den Antipreußen und Antimilitaristen par excellence habe »Disziplin überhaupt nicht interessiert«, und sie fügt hinzu: »Ich denke, er brauchte diesen Schwebezustand, den er durchs permanente Biertrinken erzeugte, um es hier auszuhalten.«

      Jean Paul labte sich am »Zaubergürtel« der Natur, am »so grün angestrichenen Präsentierteller von Gegend« und an den »wie schimmernden, aus dem Äther gesunknen« Baulichkeiten, und wahr bleibt, was Ludwig Börne in seiner Denkrede am 2. Dezember 1825 aussprach: »Er sang nicht in den Palästen der Großen, er scherzte nicht mit seiner Leier an den Tischen der Reichen. Er war der Dichter der Niedergeborenen, er war der Sänger der Armen«, und er verachtete die Indolenz des Adels.

      Gleichwohl litt er unter den »illiterarischen« Inhabitanten: »Bayreuth hat einen Fehler, daß zu viele Bayreuther darin wohnen.« Das hat man ihm offenbar verziehen. Jean Paul sei heute, sagt Karla Fohrbeck, eine der maßgeblichen Initiatoren des Ende 2012 fertiggestellten, rund zweihundert Kilometer langen Jean-Paul-Wegs von Joditz bei Hof bis zum Felsengarten Sanspareil im Kulmbacher Land, »die Corporate-Identity-Figur für Oberfranken«: »Sie nehmen ihn als einen der ihren wahr.«

      Für allerlei touristische Werbung hält Jean Paul mittlerweile her. Wird er dadurch wieder öfter gelesen, soll es so sein. Auf dem nach ihm benannten Wanderweg informieren Textstelen und -tafeln an hunderteinundsechzig Stationen über Leben und Werk. Die sich von Norden nach Südwesten durch Oberfranken


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