Die Poesie des Biers. Jürgen Roth
frischen Plastikbecher Bier, als das Programm umgeschaltet wurde. Nun sah man das englische Fernsehstudio, ich glaube, es war der Sender BBC. Dort hatten sich um einen ausgesprochen häßlich geformten Tisch und vor einer abstoßenden Kulisse drei Herren versammelt, ein Moderator und zwei sogenannte Experten, aus denen vor allem Gary Lineker hervorstach, dieser Mann, der einmal in die Welt gesetzt hatte, Fußball sei ein Spiel für zweiundzwanzig Leute, und am Ende gewinne immer Deutschland.
Die BBC zeigte ebenfalls Spielszenen, die BBC zeigte aber nicht das Halbfinalelfmeterschießen von 1990. Man hatte sich seitens BBC offenkundig dafür entschieden, weder das 1990er Halbfinale noch das 1970er Viertelfinale der englischen Mannschaft gegen das deutsche Team zu zeigen. Noch offenkundiger war die Tatsache, daß man gleichfalls das 1:3 aus dem Jahr 1972 nicht vorführen wollte. Im deutschen Programm hatte man es eben noch gesehen, und Netzer hatte ein paar wohlgeformte Sätze über diesen historischen Sieg auf der Insel gesagt, den ersten Sieg einer Mannschaft auf der Insel überhaupt seit Jahrzehnten. Statt dessen zeigte BBC naturgemäß ausschließlich Niederlagen der deutschen Mannschaft oder solche Spiele, die gegen sogenannte Fußballzwerge während der Qualifikation fast verloren worden waren oder knapp, mit äußersten Mühen hatten gewonnen werden können. Nach diesen Spielausschnitten kommentierte und analysierte Lineker das Auftreten der deutschen Mannschaft, und nach jedem Satz jubelte das Fernsehzelt, in dem wir hier saßen, frenetisch, ja, frenetisch, so sagt man.
Erbarmungslos, trocken deckte Lineker die Schwächen auf. Er entblößte die Deutschen sozusagen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, sondern spottete, verschmitzt lächelnd, richtiggehend gemein lächelnd und bisweilen scheppernd auflachend, und veralberte die tapsigen, ungelenken deutschen Abwehrspieler und die schwerfälligen Sturmtanks, vor allem Jancker. Jancker sei gar kein Fußballspieler, Jancker sei eine Art Panzer, hörte man ihn sagen, und an dieses Statement schloß sich augenblicklich ein Hoihoihoi! oder etwas ähnliches an.
Etwas belustigt schaute Herr Suppa zu den jungen Engländern hin, ja, er drehte sich sogar einmal um und betrachtete die mittlerweile zu hautengen Reihen zusammengeschlossene und -gepreßte Horde rotgesichtiger Briten in weißen, stellenweise feuchten, fast nassen T-Shirts. Manche trugen am Oberkörper auch einfach gar nichts. Es fehlte noch, sagte mein Bruder, daß sie die Hosen runterließen, und er nahm einen kräftigen Schluck Bier, ich folgte ihm darin.
Einen Tag zuvor, so meldete jetzt wieder das deutsche Programm, irgend jemand hatte umgeschaltet, einen Tag vor dem 1. September hatten in meiner Stadt, in Frankfurt am Main, etwa einhundertfünfzig oder sogar zweihundert sogenannte englische Fußballanhänger, sogenannte Fans, sogenannte Hooligans einen Angriff auf meine Stadt gestartet und die Innenstadt beinahe vollständig verwüstet. Wie als ob ich einen Zusammenhang erahnte oder beinahe bereits erkannte, erinnerte ich mich auch wieder an diese fürchterliche Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion, diese damals, am 29. Mai 1985, für fast vierzig Menschen tödliche und verheerende Europapokalendspielveranstaltung in Brüssel, in einer Stadt, in der ich damals lebte und in der ich, zu Hause vor dem Fernseher sitzend, die besagte höhnische Beleidigung und Herabsetzung durch den Arbeitskollegen meines Vaters hatte erleiden und erdulden müssen. Damals, in Brüssel, hatten englische Fußballanhänger eine gewaltige Schlägerei angezettelt, die in eine entsetzliche Gewaltorgie ausgeartet war, und nachdem die Toten geborgen waren, sperrte die Europäische Fußball-Union die englischen Klubmannschaften auf Jahre hinaus aus, ja, sie sperrte die gesamte Insel, ganz England, aus Europa, dem Europa des Fußballs, aus.
Belgien, England, so dämmerte mir hier in diesem belgischen Fernsehzelt unter und zwischen englischen Fußballfans, Belgien und England, hier besteht eine Verbindung, ein Zusammenhang zumal. Herr Suppa ahnte von all diesen größeren und gefährlichen Zusammenhängen nichts, er konnte nichts ahnen, er war gewissermaßen ahnungslos, vollkommen ahnungslos wie ein Kind, naiv, froh und ohne Arg, er hegte keinerlei Verdacht gegen diese hier in der erdrückendsten Überzahl aufhältigen Engländer. In völliger Ahnungslosigkeit trank Herr Suppa sein Bier und schüttete kraftvoll weitere Biere in sich hinein, denn diese Vorberichte dauerten schon sehr lang, so Suppa. Mein Bruder und ich taten es ihm gleich. In absoluter Friedfertigkeit tranken wir eine Fuhre Bier nach der anderen. Um an diese Bierfuhren heranzukommen, mußte jedoch in immer kürzer werdenden Abständen einer von uns drei biertrinkenden Gästen in diesem Fernsehzelt zum Ausschank, zum Tresen gehen. Dies war kein Gehen, es war ein Drücken, Schlängeln, ein Schieben, Stoßen und Schubsen, es war ein erster Vorgeschmack auf den Spießrutenlauf.
Wieder zurück an unserem Biertisch, glücklich und heil wieder an diesen Biertisch gelangt, meldete der Fernseher eine weitere Eskalation. Sogenannte Ausschreitungen hätten München, den Austragungsort der WM-Qualifikationsbegegnung Deutschland – England, erschüttert, zu schlimmen Vorfällen sei es gekommen, weil sich ein Großaufgebot an englischen Fußballfans, wie es hieß, die Hucke hatte vollaufen lassen. Immer wieder Prügeleien habe es gegeben, und man hoffe doch sehr, lautete es jetzt aus dem Fernseher, daß solche fürchterlichen Vorfälle beim Spiel ausblieben, mit Fußball habe das nichts zu tun, das sei hier immer noch ein Fußballspiel. Es seien die Unverbesserlichen, die sogenannten Fans, die dem Fußball schadeten. Man bedauere das zutiefst.
Er bedauere, daß das Bier schon wieder zur Neige gegangen sei, sagte mein Bruder und machte sich auf, um Nachschub zu organisieren, wie er sagte. Das sei recht so, erwiderte Herr Suppa in den anschwellenden Lärm hinein, denn das Spiel beginne gleich, endlich.
Mein Bruder kehrte zurück, als der Anpfiff zu diesem Spiel, zu dieser heiß erwarteten Schlacht ertönte. Die Spannung war eine erhebliche. Zunächst schrien die Engländer noch einmal kurz auf, nach wenigen Sekunden jedoch verfielen sie in eine konzentrierte, ich möchte fast sagen: eine kindliche, eine kindische Konzentrationshaltung. Sie schwiegen.
Der Ball lief rund durch die deutschen Reihen, das deutsche Mittelfeld machte Druck und drängte die Engländer tief in deren Hälfte hinein. Deisler, Ballack und so weiter. Es war das Selbstverständlichste, daß Jancker, dieser Stürmer, der gar kein Fußballspieler sei, wie ich mich erinnerte, zum 1:0 einschob, die Kugel ins Netz des englischen Keepers drosch, dessen Name mir zu unbedeutend erscheint, um ihn nennen zu müssen.
Ich sprang auf, rannte um den Biertisch herum und sank vor dem Fernseher auf die Knie, die Fäuste nach oben gestreckt. Ich rief einige kurze Sätze der Begeisterung, warf den jungen und den alten Engländern einen Blick der Freude zu und begab mich zurück an den Biertisch.
Es war ein schönes Tor, und es war ein Tor gegen England. England schwieg noch mehr. Dieses England hier in Belgien war ein einziges vielgesichtiges, entsetztes Häuflein Elend. Nun, wie konnte ich wissen, wie konnte ich ahnen, daß dies unser, mein Waterloo werden sollte. Nein, das konnte ich nicht. Kein Mensch konnte auch nur ahnen, was bald im Münchner Olympiastadion, in der Arena des Weltmeisters und Weltpokalsiegers, geschehen sollte, daß die höchste Niederlage seit siebzig Jahren zu gewahren sein würde, seit dem 0:6 1931 gegen Österreich.
Nein, nicht irgendeine Niederlage. Die höchste Niederlage seit siebzig Jahren. Vor allem seit dem großen Sieg der deutschen Elf 1954 im WM-Endspiel hatte es ein solches Debakel nicht mehr gegeben, ein Debakel nicht gegen Brasilien, Frankreich, Holland, was weiß ich, ein Debakel gegen England! Gegen England und auf eigenem Platz, zu Hause, so unterzugehen, das konnte niemand voraussehen. Wenn wir hier weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein erstklassiges Resultat erzielt, hatte Netzer 1972 zu Beckenbauer gesagt, vor dem Spiel in der Kabine des Wembley-Stadions. Bei uns herrscht die bitterste Stimmung, die ich je erlebt habe, sagte der geduschte Wörns nach dem Spiel. Jetzt müssen wir auch mal die Schattenseiten durchleben, sagte Bierhoff. Owen sagte: 5:1. Ich meine: 5:1! Vor dem Spiel habe ich mich gar nicht getraut zu sagen, wir gewinnen hier. Und jetzt: 5:1.
Es war eine ganz und gar unvorhersehbare Katastrophe. Die frohe Zeit endete für meinen Bruder, Herrn Suppa und mich fünf Minuten nach Jancker. Es wird einmal eine neue Zeitrechnung geben: fünf Minuten nach Jancker. Owen knallte zum Ausgleich ein. Owen exekutierte. Man spürte es. Man spürte augenblicklich die lähmende Ausweglosigkeit, die spätestens in der 23. Minute allzu deutlich, für alle Augen deutlich sichtbar, besonders