Rubine im Zwielicht. Dieter Jandt
daher, sich wieder auf den Mord an der Schwebebahn zu konzentrieren. Was drei Tage zuvor im 11. Stock des Mercuria-Hotels passiert war, interessierte also im Grunde niemanden so recht, auch nicht Derintop, der hatte ohnehin sein festes Bild. Er wusste, dass sein Bruder und Lochner sich in dieser Nacht über einem Tavla-Spiel gegenübersaßen und um hohe Einsätze spielten. Er hatte Hakan ja selbst zum Hotel gefahren und wusste, dass Lochner bereits oben auf ihn wartete.
Lochner gab sich betont gelangweilt und schaute, während Hakan Derintop die Steine zu einem neuen Spiel auf das Feld setzte, aus dem großen Fenster, das beinahe die gesamte Wand einnahm. Unten blinkten die Reklametafeln des neuen Einkaufscenters, einige wenige Autos fuhren über die breite Allee, der angrenzende Busbahnhof war bereits leer.
»Was hältst du davon, erst mal ne Nase nachzulegen«, nuschelte Lochner und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzen, Gel-getränkten Haare. Die beiden spielten schon seit Stunden. »Man will ja auf Zack bleiben, was, Alter?« Lochner lächelte Hakan wie ein Messer an; dünne Lippen, seine Augen waren kalt. Dabei waren die Pupillen auffallend groß, Lochner wippte ständig mit einem Bein, Übermotorik, unausgelastet.
»Warum nicht, es läuft ja sowieso gerade bestens für mich«, lachte Hakan, der in dem großen, schwarzen Ledersessel verloren wirkte. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein schmächtiger junger Mann, kränklich aussehend, mit Rändern unter den Augen. Seine Pupillen waren ebenfalls geweitet, was einen maskenhaften Kontrast ergab. Hakan war der erklärte Schützling seines Bruders. Der hatte ihn mit den Worten verabschiedet: »Pass auf dich auf. Lochner ist eine Ratte. Und wenn er komisch wird, du weißt, wo dein Handy ist, ja?« Hakan war wie ein Dandy gekleidet. Er trug ein violettes Seidenhemd, eine weiße Leinenhose mit Bügelfalte. Der schwere Gürtel mit dem bronzefarbenen Büffelkopf als Verschluss wirkte, als sei er von seinem Bruder geliehen. Die Jacke hatte er an einen Kleiderhaken nahe der Tür gehängt. Ein Umschlag schaute aus der Innentasche hervor.
Lochner ging rüber zu dem breiten Tisch, der vor dem Fenster stand. Unten jagte ein Polizeiauto mit Blaulicht über die Bundesstraße, das Martinshorn war hier oben kaum zu hören. Lochner warf einen 200-Euro-Schein auf den Tisch und zog ein kleines, weißes Papier heran, das geöffnet vor ihm lag. Er griff zu einer Rasierklinge und begann mit feingliedrigen Fingern, das Kokain auf dem Papier zu tackern. In kurzen Abständen zog er – beinahe verächtlich – Luft durch die Nase, was wie eine unfeine Marotte wirkte, tatsächlich aber das Erkennungsmal eines ›altgedienten‹ Koksers war, dem man nichts mehr vormachen konnte. Vielleicht gab es da ja in irgendeinem Schleimhautwinkel noch einen winzigen Krümel, der sich, zwischen Härchen verhakt, bislang geweigert hatte, in die Blutbahn abzudriften.
»Und du glaubst also, du hättest schon gewonnen?« nuschelte er über die Schulter hinweg. »Du weißt ja, wenn wir hier nicht alles weggeputzt haben, einschließlich des Wodkas, ist überhaupt nichts entschieden. Außerdem taue ich erst immer in den frühen Morgenstunden auf. Das weißt du doch. Beim letzten Mal hattest du anfangs auch Oberwasser, und dann: niente.« Lochner schabte das Pulver erneut zu einem Haufen, zog ihn wieder mit der Klinge zu einer Leine auseinander und tackerte weiter.
»Ja, aber da ging es nur um Peanuts. Ich gehe hier mit deinen Hunderttausend raus, das kannst du mir glauben. Letztens habe ich diesen Orhan, diesen Lakai von Sa
»Kannst es nicht erwarten? Was? Kitzelt‘s in der Nase? Mach dich doch nützlich. Schenke Wodka nach, Orangensaft dazu, randvoll alles, wie man es bei euch in der Türkei gewohnt ist. Wegen mir klingle unten an, wie das mit ein paar frischen Orangenscheiben aussieht. Das Zimmer geht sowieso auf deinen Namen, ich hab das so angeleiert. Sag einfach Derintop, dann wissen die Bescheid.«
»Das Restaurant hat doch längst geschlossen.«
Lochner kicherte vornübergebeugt. Es war eher ein Kichern durch die Nase, und ein paar Kokain-Krümel rutschten über die Tischplatte. »Hakan, wie wir ihn kennen. Immer bescheiden. Ich sag dir, so kommst du zu nichts. Du musst aus den Leuten rausholen, was nur geht, sonst kriegst du am Ende gar nichts. Soll dieser Nachtheini an der Rezeption doch zusehen, wo er die Orangen herkriegt.« Hakan hatte inzwischen die beiden sechseckigen Gläser, die neben dem Spielbrett auf dem Tisch standen, gefüllt – fast bis zum Rand. Er hörte jetzt, wie Lochner mit einem kurzen, heftigen Zug Kokain durch den Geldschein einsog. Hakan sprang auf und stellte sich neben Lochner.
»Ich hab dir auch gleich eine Line langgezogen. Wenn du sowas machst, sieht das immer aus wie ein Schlachtfeld. Wahrscheinlich zu gierig.« Hakan griff nach dem Geldschein, der zusammengerollt auf dem Tisch lag, aber Lochner kam ihm zuvor: »Ja, wer wird denn gleich! Immer auch an die Hygiene denken. Als hätte er nicht selbst genügend Scheine.« Hakan ging schnell hinüber zum Spieltisch und zog einen Schein von seinem Geldstapel. Lochner folgte ihm, griff nach dem Glas, trank einen kleinen Schluck und lümmelte sich in den Ledersessel. Er hörte, wie Hakan zurückging und hinter ihm mit einem tiefen Zug das Kokain einsog, die Luft möglichst lange anhielt, als würde er es inhalieren, und dann wieder ausatmete.
»So, komm, keine Zeit verlieren. Jetzt kommt die Wende.« Lochner baute die dunklen Steine in seinem Homeboard auf. Die beiden spielten weitere Stunden, setzten mit raschen Bewegungen ihre Steine auf dem Brett, Lochner tat das mit gesteigerter Arroganz, dem es nichts auszumachen schien, dass Hakans Geldstapel wuchs. Die Flasche Wodka wurde leer. Hakan zeigte einen irren Glanz in den Augen. Die Abstände, in denen die beiden Kokain schnupften, wurden geringer.
»So kommen wir nicht weiter.« Lochner warf sich in seinem Sessel zurück. Aus seiner schwarzen Herrentasche, die neben ihm auf dem Beistelltisch lag, zog er eine Einwegspritze hervor, eine gelbe Plastikflasche Zitronensaft, ein weiteres Briefchen, in dem vermutlich weiteres Pulver steckte. »Hast du schonmal was von nem Cocktail gehört?« Hakan schüttelte den Kopf und starrte beinahe ehrfürchtig auf das Papier. »Nein? Koks und Heroin, die geilste Mischung, die dir jemals untergekommen ist. Sag ich dir.«
»Ja, aber spritzen?«
»Anders bringt‘s das nicht. Das Zeug muss direkt ab ins Blut. Das eine wie das andere. Und zwar gleichzeitig. Wenn du das erst über die Nase nacheinander einnimmst, oh Mann, it takes ages. Nein, das muss gleichzeitig ankommen. Hier.« Lochner hielt die Spritze hoch und schnipste mit dem Zeigefinger dagegen, als sei sie schon gefüllt. »Mach dir keine Sorgen, ich richte alles an. Du kannst ja in der Zeit den Nachtwächter beschäftigen. Frag ihn, wo der Wodka bleibt.«
Lochner ging wieder zum großen Tisch am Fenster. Es war kaum Verkehr auf der breiten Straße unter ihm.
»Mensch, Lochner, es ist halb fünf. Da gibt es nichts mehr.«
Hakan blieb auf seinem Stuhl sitzen und beobachtete, wie Lochner das Kokain auf einen Esslöffel gab, Wasser darüber träufelte und Zitronensaft. Dann hielt er die Flamme des Feuerzeugs unter den Esslöffel und kochte das Kokain auf. Die Unterseite des Löffels wurde schwarz. Er zog die Flüssigkeit mit der Spritze auf, legte sie beiseite und trocknete den Löffel mit einem Ende des Vorhanges. Seine Bewegungen waren flink und sicher. Er nahm ein zweites Briefchen, faltete es auseinander und tackerte das Heroin mit der Rasierklinge klein. Dann schabte er es mit der Klinge auf den Löffel. Dieselbe Prozedur wie mit dem Kokain. Lochner zog auch diese Flüssigkeit in die Spritze, hielt sie vor das Gesicht und schnippte mit dem Zeigefinger dagegen, um Luftbläschen aufsteigen zu lassen.
»Was ist? Ärmel hoch.«
»Beide?«
Lochner kicherte. »Quatsch. Kriegst wohl nie genug, was? Hat überhaupt keine Ahnung, der Mann. Wie viele Spritzen siehst du hier in meiner Hand. Zwei?« Lochner dirigierte Hakan hinüber zum breiten Bett, auf dem eine schwere, weiße Tagesdecke ausgebreitet lag. »Mach es dir gemütlich. Ich zeige dir jetzt, wie das geht. Zuerst