Das Rätsel Seele. Hans Goller

Das Rätsel Seele - Hans Goller


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Unkörperliche und Einmalige des Menschen. Die Gefühle lokalisieren wir in der Seele, die Gedanken hingegen verorten wir im Geist. Als Ersatz für „Geist“ verwenden wir gelegentlich auch den Ausdruck „Kopf“. Beispielsweise wenn wir sagen, dass wir etwas „im Kopf nicht aushalten“ oder dass wir uns über etwas „den Kopf zerbrechen“. „Den Geist lokalisieren wir im Kopf, genauer gesagt im Gehirn, und je mehr wir über die Funktionsweisen des Gehirns erfahren, desto mehr neigen wir dazu, den Geist mit dem Gehirn zu identifizieren. Ob Geist letztlich genau und nur Gehirn ist, spielt in unserem Alltag nur eine unwesentliche Rolle.“ (Di Franco 2009, 21) Mühelos unterscheiden wir zwischen geistigem „Kopfzerbrechen“ und körperlichen „Kopfschmerzen“, zwischen der bloßen Vorstellung eines körperlichen Schmerzes und dem tatsächlich empfundenen Schmerz. Die Gedanken selbst empfinden wir nicht als körperlich. „Den Prozess der geistigen Bewusstwerdung dessen, was in unserer Seele vor sich geht, nennen wir ‚Selbstbetrachtung‘, ‚Innenschau‘ oder ‚Introspektion‘. Daran ist für uns gewöhnlich nichts Wunderliches.“ (Di Franco 2009, 23)

      Im Alltag unterscheiden wir ohne Schwierigkeiten zwischen seelischen und körperlichen Empfindungen. Sträuben sich uns etwa vor Entsetzen die Haare, kommen wir nicht auf die Idee, uns wärmer anzuziehen, sehr wohl aber dann, wenn wir eine Gänsehaut haben, weil wir frieren. Ebenso wenig verwechseln wir den traurigen Kloß im Hals mit erkältungsbedingten Halsschmerzen. Seelisches zeigt sich in körperlichen Regungen. Di Franco fragt: „Wie könnte es überhaupt wahrgenommen und empfunden werden, wenn es sich in keiner Weise äußern würde, und wie anders, wenn nicht körperlich, könnte es sich äußern? Worin genau unterscheiden sich letztlich seelische und körperliche Empfindungen?“ (Di Franco 2009, 28) Unser Sprechen über seelische und körperliche Empfindungen legt einen engen Zusammenhang zwischen beiden nahe. Diesen Zusammenhang bringen wir ausdrücklich zur Sprache, wenn wir sagen, dass unsere seelischen Regungen zu bestimmten körperlichen Zuständen führen, dass sie sich darin zeigen oder ausdrücken. Wir fühlen zum Beispiel Zorn und Wut in uns „hochsteigen“, wir „kochen“ oder „schäumen“ vor Wut, das Gesicht fleckt sich rot, wir sind „wutentbrannt“. „Beispielsweise äußert sich Verliebtheit, ein seelischer Zustand, in beschleunigtem Herzschlag, Zittern, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und Ähnlichem, jedenfalls Körperlichem. Ebenso sinnvoll können wir sagen: ‚Ich habe einen Kloß im Hals, weil ich traurig bin‘.“ (Di Franco 2009, 28)

      Im Gegensatz zu Temperaturen, Farben und Klängen scheinen Gefühle, wie auch die Seele selbst, völlig innerlich, von außen nicht sichtbar und nur der erlebenden Person selbst zugänglich zu sein. „Kein anderer kann je meine eigenen Gefühle empfinden. Ebenso wenig kann ich die Gefühle eines anderen haben. Ich kann zwar mit jemandem fühlen. Ich kann mit ihm traurig sein oder Mitleid haben und mich für ihn freuen oder seine Freude teilen. Ich empfinde dann aber nicht seine Gefühle, seine Freude oder seine Trauer, sondern nur mein eigenes Mitgefühl.“ (Di Franco 2009, 31) Unsere seelischen Empfindungen können wir natürlich anderen mitteilen, indem wir darüber sprechen. Äußerungen über die eigene seelische Befindlichkeit beginnen wir typischerweise mit den Worten „ich fühle mich“ und ergänzen sie durch Eigenschaftswörter, die diesen Zustand näher charakterisieren. Zum Beispiel: Ich fühle mich beschwingt, gedrückt, leer, voller Angst oder ausgeglichen. In unserem Sprechen über seelische Regungen zeigt sich eine Abgrenzung und gleichzeitige Verknüpfung von Seele und Körper, von seelischen und körperlichen Zuständen. Gefühle äußern sich körperlich: vor Scham erröten, vor Angst zittern, vor Furcht erstarren. Wir äußern unsere Gefühle sprachlich und nichtsprachlich im Tonfall der Stimme, in Gestik und Mimik. Erstaunlicherweise verwenden wir beim Sprechen über Seelisches dieselben oder ähnliche Ausdrücke wie in der Rede über Körperliches. Wenn wir unser Inneres als hart oder weich, als hell oder dunkel, als leicht oder schwer und als kalt oder warm bezeichnen, dann reden wir über die Seele wie über einen Gegenstand mit handfesten Eigenschaften. Wir bezeichnen uns als gespalten und entzweit, als zerrissen oder hin- und hergerissen, als schwankend oder ausgeglichen, als gequält, gepeinigt und getrieben. Wir fühlen uns abgestumpft oder sind unbelastet. Wir zittern innerlich, wir können beben, bewegt, erregt und erschüttert sein (vgl. Di Franco 2009, 38–39). Über die Seele sprechen wir außerdem wie über einen Raum. Diesen inneren Raum bestimmen wir näher als tief, als leer oder erfüllt oder als ausgebrannt. Die Augen, die wir auch „Fenster zur Seele“ nennen, eröffnen uns einen Blick in das Innere eines Menschen. Über die Seele sprechen wir zudem wie über ein tiefes und weites Gewässer. Wir nennen die Seele unergründlich und abgründig wie einen geheimnisvollen See oder das Meer. Wir sind der Ansicht, dass stille Wasser tief gründen. Der Ausdruck „Seele“ geht höchstwahrscheinlich auf den Ausdruck „See“ zurück. Als Erklärung für diese Wortherkunft wird in der Literatur auf die alte germanische Vorstellung verwiesen, derzufolge die Seelen der Ungeborenen und Toten im Wasser wohnten.

      Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm fragt, was wir in der Alltagssprache mit dem Wort „Seele“ bezeichnen. Eine Analyse der Eintragungen des Wortes „Seele“ im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache zeigt, dass wir mit diesem Wort in erster Linie den Gesamtbereich des Empfindens und Erlebens, vorwiegend der Gefühlsregungen, bezeichnen. Unsere Rede von der Seele meint zudem einen besonderen Intensitätsgrad des Erlebens. Das belegen Redewendungen wie: „Ihrem Gesang fehlt die Seele“; „etwas lastet mir schwer auf der Seele“; „jemanden in tiefster Seele hassen“; „in tiefster Seele ergriffen sein“. „Seele“ bezeichnet hier nicht den Ort, an dem Wahrnehmungen und Empfindungen stattfinden, sondern den Intensitätsgrad des Erlebens. „Mit Seele musizieren heißt, nicht nur schöne Töne zu produzieren, sondern die eigenen Gefühle rückhaltlos hineinzulegen; aus tiefster Seele hassen bezeichnet einen mit größter Intensität und Vollständigkeit gehegten Hass.“ (Mumm 2012, 182) In der Rede von der Seele geht es um etwas, das für uns eine persönliche Bedeutung und Wichtigkeit hat, um die Intensität der Beziehung zu unseren Mitmenschen und zur Welt.

      Darauf aufbauend, so Mumm, wird die Seele in der alltäglichen Rede zu einer Instanz verfestigt. „Die Seele eines Kindes ist keine einzelne intensive Empfindung, sondern der Inbegriff des Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, den man einem Kind zutraut. In der Wendung Seele von Mensch bezeichnet Seele ebenfalls die Totalität eines Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, allerdings nur in Bezug auf solche Menschen, denen man besonders viel Gutmütigkeit und Einfühlungsvermögen zutraut.“ (Mumm 2012, 182)

      Wir verfügen über eine Fülle von Redewendungen, um über die Zustände und Regungen unserer Seele zu sprechen. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Seele nichts Körperliches ist und folglich weder körperliche Eigenschaften noch Zustände haben kann. „Wie also ist es zu verstehen, wenn wir unsere Seele als ‚tief‘ oder ‚leicht‘ bezeichnen, wenn wir sagen, dass sie ‚bebt‘, ‚zittert‘, ‚spaltet‘ und ‚reißt‘? Wie soll etwas beben, das nicht körperlich ist? Wie kann es zittern und gespalten sein?“ (Di Franco 2009, 41) Alle diese Äußerungen meinen wir in einem übertragenen Sinn. Wir verwenden Bilder und Metaphern, um über die Seele zu sprechen.

      Obwohl wir mit „Seele“ etwas Innerliches und Unkörperliches meinen, schreiben wir ihr körperliche Eigenschaften zu, etwa wenn wir sagen: Die Seele ist tief, sie ist abgründig und birgt viele Gefühle. Damit machen wir die Seele zu einem Gegenstand, zu einer Art Behälter für Gefühle. Diese Äußerung ist nur sinnvoll, wenn wir sie nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn meinen. Mit Ausdrücken für Körperliches beschreiben wir etwas Unkörperliches. Über seelische Zustände sprechen wir vorwiegend in Metaphern. Der Ausdruck „Metapher“ bedeutet, dass ein Satz oder ein Ausdruck nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, also bildhaft, gemeint ist. Wenn es darum geht, etwas zu benennen und zu beschreiben, für das es in der Sprache auf Anhieb keine geeigneten Ausdrücke gibt, dann scheinen Metaphern ein besonders geeignetes Mittel der Rede zu sein. Di Franco betont wiederholt, dass wir gar nicht anders können, als in Metaphern über die Seele zu reden. Die Seele entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung in Raum und Zeit. Sie ist weder fassbar noch körperlich. Die Analyse der Metaphern der Seele zeigt, dass die Rede über das Seelische die Rede über das Körperliche voraussetzt. „Das Seelische


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