Das Rätsel Seele. Hans Goller

Das Rätsel Seele - Hans Goller


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Redeweise über das Seelische gehört auch das Sprechen darüber, dass Körper und Geist wechselseitig aufeinander einwirken. Die wissenschaftliche Untersuchung der körperlichen Seite des seelischen Erlebens erfolgt zurzeit sehr intensiv durch die Hirnforschung und die Neurowissenschaften (siehe Kapitel III). Die Beziehung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, ist Gegenstand der Leib-Seele-Debatte in der Philosophie (siehe Kapitel IV).

      Die Metaphern, die wir in der Rede über die Seele verwenden, erschließen uns überhaupt erst den Bereich des Seelischen. „Es ist daher unumgänglich, metaphorisch über das Seelische zu sprechen. Nur mittels dieser und allenfalls weiterer indirekter Ausdrucksweisen kann das Unfassbare sprachlich fassbar gemacht werden.“ (Di Franco 2009, 110) Dass wir Gefühlsregungen und Seelenzustände überhaupt in Sprache fassen können, verdanken wir den Metaphern.

      Das Seelische ist letztlich unbegreiflich. Trotzdem sprechen wir darüber, und unsere Rede über die Seele lässt sich auch darstellen. Beim Sprechen über die Seele verwenden wir indirekte und bildhafte Redensarten, mit deren Hilfe das Unfassbare für uns sprachlich fassbar wird. Das metaphorische Sprechen erschließt uns erst den Bereich des Seelischen. Die Seele selbst ist kein Gegenstand, der direkt beobachtet und erforscht werden kann. Seelisches äußert sich jedoch in körperlichen Erscheinungen, im Sprechen, im Verhalten und Handeln. Diese können Gegenstand psychologischer Forschungen sein (siehe Kapitel II).

      Wann tauchen die ersten Vorstellungen von einer Seele auf? Welche archäologischen Funde und Befunde weisen auf die Existenz derartiger Vorstellungen hin? Allgemein gelten Bestattungen und Grabbeigaben als Beleg für den Glauben an ein Jenseits und an die Existenz einer Seele. Religiöse Handlungen und Rituale sind jedoch schwer empirisch nachzuweisen, weil sie nicht notwendigerweise archäologische Relikte erzeugen (vgl. Lang 2012). Sorgfältig gebaute Gräber und reiche Grabbeigaben gelten vielfach als Hinweis auf Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Erste derartige Bestattungen datieren in die Zeit ab etwa 120.000 v. Chr. „Mit dem Jungpaläolithikum (ca. 35.000–10.000 v. Chr.) entwickelte sich dann eine differenzierte Behandlung von Toten, bei der die Körperbestattung mit Beigaben in sorgfältig hergerichteten Gräbern den Glauben an ein Jenseits erschließen lässt.“ (Lang 2012, 81) Noch vor rund hundert Jahren, so Amei Lang, wurde die Existenz paläolithischer Gräber vehement bestritten. Manche Experten waren der Meinung, die Menschen der Eiszeit hätten keinerlei religiöse Ideen und Gefühle gehabt und der Tod hätte ihnen nichts bedeutet. Es hätte auch noch keinen Glauben an die Existenz einer Seele gegeben. Die moderne Religionswissenschaft kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und spricht den mittel- und jungpaläolithischen Bestattungen ebenso wie den Höhlenmalereien einen religiösen Hintergrund ab (vgl. Lang 2012, 81).

      Wie lässt sich etwas Unsichtbares wie die Seele bildlich darstellen? Im Alten Ägypten gab es die Darstellung des Seelenvogels. Dieser Vogel war mit einem menschlichen Kopf ausgestattet, der dem Toten ähnlich sah. Der Seelenvogel war die bildliche Darstellung davon, was nach dem Tod eines Menschen als dessen Identität zu betrachten war (siehe Abb. 1). Aus dem Mittelalter sind Darstellungen bekannt, auf denen zu sehen ist, wie beim Eintreten des Todes einer Person ein kleines „Menschlein“ aus dem Mund entweicht (siehe Abb. 2). Die Seele stellte man sich vielfach auch als Tier vor, wobei vor allem Vögel als geflügelte Lebewesen die Seele repräsentierten. Der Schmetterling ist zum Beispiel ein frühes Sinnbild des seelischen Erlebens. „Vögel, Schmetterlinge und andere beflügelte Lebewesen drücken die Beweglichkeit und Lebendigkeit ‚beseelter‘ Organismen aus.“ (Hell 2009, 49) Ein frühes Symbol für die Seele ist auch der Hauch oder der Atem. Sowohl das hebräische Wort ruah (Ruach) als auch der griechische Ausdruck psyché bezeichnen den Atem.

      Abb. 1: Die Ba-Seele als Vogel mit Menschenkopf

      Abb. 2: Die Seele entweicht aus dem Mund eines Sterbenden (Holzschnitt von Jörg Nadler)

      Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm weist allerdings darauf hin, dass das Wort psyché beim griechischen Dichter Homer, im Gegensatz zum klassischen Griechisch, noch nicht die lebendige, empfindende Seele, sondern die Totenseele bezeichnet. Von der Wortherkunft kann psyché nicht auf „atmen“ zurückgeführt werden, denn das zugrunde liegende Tätigkeitswort heißt blasen, kalt machen. Der Ausdruck psyché ist als Lehnbildung aus dem Akkadischen zu verstehen und bedeutet: wehen, blasen, kalt machen. In seiner vorhomerischen Bedeutung ist psyché als „windartiger Totengeist“ zu verstehen. Diese Vorstellung wurde ursprünglich aus Mesopotamien übernommen. Erst später entwickelte sie sich über die „Schattenseele“ zur klassischen Seelenauffassung, in der die Seele teils das Organ der Empfindung, teils vom Körper abtrennbar ist (vgl. Mumm 2012, 181). Psyché bezeichnet in seiner ältesten Überlieferung bei Homer nicht die Atemseele, den atmenden oder lebenden Menschen, sondern stets nur die Schattenseele, den Totengeist, also das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er aufhört zu atmen. Nach mesopotamischer Vorstellung verlässt der Atem mit dem Tod den Körper als Wind. Der Atem wird vom Leichnam fortgeblasen und begibt sich in seiner windartigen Natur in die Unterwelt. „Im Atem kann das Individuum sich spüren und sich seiner Lebendigkeit versichern. Der letzte Atemzug im Leben wird nicht als etwas angesehen, das keine Selbstvergewisserung mehr zulässt, sondern als verselbstständigte Selbstempfindung, die dann als wenig machtvoller Windgeist fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) In Mesopotamien umfasste der Totengeist sowohl den Innenaspekt als auch den Außenaspekt der Seele. Bei der Übertragung ins Griechische entfiel mit dem Merkmal des kalten Hauchs der Innenaspekt. Die psyché hatte deshalb das Merkmal des verselbstständigten, kalt gewordenen Atems nicht mehr. Sie war nur noch das Schattenbild des Verstorbenen. In der weiteren griechischen Entwicklung wurde dieses Schattenbild dann wieder in das lebendige Individuum zurückgeholt. Damit bekam die Seele eine Doppelnatur: „Die Schattenseele wurde nach und nach als eine Instanz angesehen, die bereits im lebendigen Menschen tätig ist, und zwar als Organ der Empfindung; die Empfindung umgekehrt wurde damit als etwas gedeutet, das von eben dem Organ in uns ausgeht, das nach dem Tod fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) Die Literatur in der Zeit nach Homer schrieb der psyché im lebenden Menschen immer stärker die emotionalen und intellektuellen Eigenschaften sowie den Willen zu, die früher dem unbestatteten Körper zugedacht waren. Erst in relativ späterer Zeit lässt sich am griechischen Sprachgebrauch ablesen, dass das Wort psyché mit der Vorstellung verknüpft ist, der Mensch besitze einen Wesenskern, der unabhängig vom Körper zu denken ist, der als Träger seiner Lebenskraft, seines Empfindens und seines Bewusstseins gilt und der zudem sein religiös-moralisches Selbst darstellt (vgl. Marinković 2010, 314).

      Welche ursprünglichen Vorstellungen von der Seele finden sich in der Bibel? Peter Marinković fragt, ob in den Schriften des Alten Testamentes, insbesondere in deren griechischer Version, der Septuaginta, Ansätze zu finden sind, die auf einen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele hinweisen (vgl. Marinković 2012). Die Septuaginta ist die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die altgriechische Alltagssprache. Das zentrale Schlüsselwort für das Verständnis der Seele in der Hebräisch-Aramäischen Bibel ist nephesh. Dieses Wort ist mit einer Reihe von Bedeutungen verbunden: Lebensatem, Schlund, Rachen, Kehle, Atem oder atmendes Wesen, Verlangen, Begehren oder Lust, die Person als ganze, Leben, Lebendigkeit und Blut. In der Septuaginta wird das Wort nephesh mit dem Wort psyché übersetzt. An keiner Stelle der hebräisch-aramäischen Bibel bezeichnet nephesh einen körperlosen Teil des Lebewesens, der den Tod des Körpers überlebt. Darin finden sich ausschließlich Seelenkonzepte, die nephesh nicht vom Körper trennen. Im Buch Genesis heißt es: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen 2,7) Diese Stelle ist aufschlussreich für das Lebens- und Todesverständnis der hebräischen Bibel. Gott gibt dem Menschen das Leben, indem er ihn mit nephesh ausstattet und dadurch zu einem Lebewesen werden lässt. „Ein Mensch, der stirbt, ist gemäß den Texten der hebräischen Bibel voll und ganz tot.“ (Marinković 2012, 188)

      In der Septuaginta ist psyché der Hauptbegriff für „Seele“. In zirka 680 von 754 möglichen Fällen wird dort der hebräische


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