Anschwellendes Geschwätz. Jürgen Roth
Alltag adelt; zuungunsten des herrschenden Remmidemmis. Deshalb könnten, ohne gleich den Talar überzustreifen, die Exegeten vielleicht ausnahmsweise die Klappe halten. »Ich hab’ so einiges gesehen. Ich wollte zu meiner Mutter und ein paar Nächte bei ihr in der Wohnung bleiben. Aber als ich oben am Treppenabsatz ankam, guckte ich, und sie saß auf dem Sofa und küßte einen Mann. Es war Sommer. Die Tür stand offen. Der Fernseher lief. Das ist eine von den Sachen, die ich gesehen hab’«, beginnt Mr. Coffee und Mr. Fixit. Und darin liegt nicht nur eine Welt, sondern die Poetologie des Genauguckers Carver.
»Ich dachte einen Moment lang an die Welt außerhalb meines Hauses, und dann dachte ich gar nichts mehr, außer daß ich nun wirklich schlafen mußte«, schließt Ich konnte die kleinsten Dinge erkennen. Oder heimelt uns die wohlige Leere, die wohlige Wahrheit einer solchen Passage noch zarter an? »Er fuhr schneller durch die Straßen, als er hätte fahren sollen. Bisher war es ein gutes Leben gewesen. Er hatte Arbeit gehabt, war Vater geworden, hatte eine Familie. Der Mann war glücklich und zufrieden gewesen. Aber jetzt hatte er Angst und wollte ein Bad.«
Von deutschem Mund zu Mund
Daß es zum fünfundsiebzigsten Geburtstag eines nominell großen, nämlich nobelpreisprämierten Schriftstellers wie Günter Grass großspurige Ernstelfeuilletons regnet, ist standesgemäß. Daß aber renommierte Literaturbetrachter wie Wolfgang Thierse, Heinz Rudolf Kunze oder Otto Schily ihre Glückwunschadressen im virtuellen Gästebuch von Spiegel Online hinterlegen, statt dem Jubilar einfach privat zu gratulieren und es damit gut sein zu lassen, ist schon eher zum Lachen; wenn nicht ein erlesener Beleg für die maß- und nahtlose Eitelkeit der hiesigen Hochrepräsentanten, deren salbungsvolle Elogen gar die staatstragenden Episteln des Gepriesenen übertrumpfen, die in nicht abreißender Regelmäßigkeit über des Landes Lage Gericht halten.
Während der noch halbwegs befugte Fritz J. Raddatz eine Grass-spezifisch gedrechselte, mimetische Annäherung schnitzt und den Danziger belobigt für dessen »Schädeldecke«, die »sich öffnete für die Phantasie eines wortmächtigen Gaukelspiels, darin wir uns alle erkennen mochten in bucklichter Verzagtheit wie kühn scheiterndem Lebensentwurf«, hat Egon Bahr geringere Schwierigkeiten mit der gaukelhaften Grammatik und stellt klar: »Alle politischen Beurteilungsunterschiede schrumpfen gegenüber Deinem nachhaltigen Engagement für das Land und die Gesellschaft.«
Wo es keine Unterschiede mehr gibt, nimmt man Partei für eine Partei – Partei für einen, der seit Heinrich Bölls Tod die kulturbetriebliche Planstelle des ideellen deutschen Gesamtbedenkenträgers innehat und – so die völlig bedenkenlos verstreuten Worthülsen der Gratulanten – »streitbar« und »provozierend« zum Besten des Landes gewirkt habe und weiter wirken möge.
Ja, »streitbar«, meint die TV-Politologin Sabine Christiansen, sei Grass stets »geblieben«, trotz aller »Verunglimpfungen«. Grass ist zwar seit langem der weltweit geachtetste und am wenigsten geächtete Gegenwartsdichter, überschüttet mit sämtlichen erhältlichen Akademie-, Industrie- und Politikstiftungspreisen, doch wer dem Mythos vom »Unbequemen«, den Grass womöglich selbst frühzeitig lancierte, aufsitzt, quasselt eben fort, was einem so einfällt, wenn man keinen Einfall hat.
»In kichernder Selbstgewißheit den Sisyphus und seinen herunterrollenden Stein beobachtend, den er uns ins Gewissen polterte«: Das schreibt Raddatz, ohne daß ihn das Grammatikgewissen zwickt, über die standhafte Haltung des Lübeckers, und der Nationalrocker Heinz Rudolf Kunze poltert, Grass grotesk als »selbstverständlichen Verbündeten auf der Seite von Jimi Hendrix, von Bob Dylan, von den Stones« ehrend, der Gustav Mahler oder doch eher Dieter Bohlen der deutschen Literatur sei zudem der zweite – ja, wer oder was? Soll’n wir’s sagen? »Ja, sagen wir es ruhig: Thomas Mann.« Sagt Kunze.
Grass ist, gaukelt uns die Grußkolonne dem F. C. Delius zufolge vor, daneben allerdings ein »Koch« und »Skatspieler«, dessen »nimmermüder Geist«, versichert nun Bundesinnenminister Schily, ihn »den Stein des Sisyphos noch oft nach oben wälzen« läßt – und das, obwohl Grass laut Bundestagspräsident Thierse neben den Berufen des »Lyrikers und Dramatikers, Bildhauers und Malers« noch den fünften des »Literatur-Nobelpreisträgers« ausüben muß. Sabine Christiansens Zählung kommt derweil bloß auf vier Berufe. Der vierte sei, und da stimmt die Richtung wieder, »Ihre Berufung [...] des engagierten Bürgers«, der, um Bernhard Schlink vorlesen und -treten zu lassen, »beeindruckend und verpflichtend dafür steht, daß der Politik ein Gewissen schlagen muß«.
Wem die Geburtstagsstunde schlägt, dem schlagen diejenigen auf die Schulter, die man sich verdient hat – der Hans Geißendörfer z. B., der bekennt, Grass »vorbehaltlos zu lieben«; die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer, die messerscharf schließt: »Ist doch des Schriftstellers Tat vor allem das Wort. So viel festgestellte Wirklichkeit und vorausgesehene Wahrheit gab es selten in Deutschlands Prosa«; oder der Otto Schily, der den deutschen Prosamann Grass tätschelt, weil er »das Schicksal der Vertriebenen neu ins öffentliche Bewußtsein gerückt« und der deutschen Kunst gegen das entsetzlich zersetzende Gekrittel der Kritischen Theorie wieder eine deutsche Stimme gegeben habe: »Sie [brechen] mit dem geschriebenen Wort Verkrustungen der Erinnerung auf. Adornos Verdikt zum Trotz haben Sie nach Krieg und Holocaust eine eigene Sprache für Lyrik, Drama, Epos gewonnen und auch die Mundart in ihr Recht gesetzt.«
Die deutsche Mundart gratuliert zwar nicht, aber sie spricht via Klaus Wagenbach, Walter Kempowski oder Manfred Stolpe in vielerlei Zungen, die immer nur das eine zu belegen vermögen: Dank dem Vaterlandssänger Günter Grass! Dem Bundestagspräsidenten sei daher das parteiübergreifende Jubelschlußwort erteilt: »Ohne Dein unbestechliches kritisches politisches Engagement gerade auch durch Dein künstlerisches Wirken wäre Deutschlands Kulturlandschaft ein ganzes Stück ärmer.« Nämlich eine weite, dürre Steppe, in der durch Grass, Grass und noch mal Grass nichts als phraseologische Sumpfblüten ins Kraut schießen.
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