100.000 Tacken. Reiner Hänsch
Habbter euch denn nich inne Chewalt?“ Und dann war er bei Max. „Und warrum hat euer Gunge (Junge) denn so sckrrecklich lange, fiese fettige Haare. Ihr dürft ihm sowat nich’ durchchehen lass’n. Ihr seid nich strreng chenuch mit ihm! Der brrauch’ ab und zu ma wat hinter de Löffel, glaubich!“
Wir tranken verbissen den mitgebrachten Kaffee, aßen den mitgebrachten Kuchen und widersprachen dem alten Knacker, so gut es ging. Max stierte glücklicherweise in den alten Blaupunkt-Röhrenfernseher, der Onkel Günters schlecht gelüftetes Wohnzimmer beherrschte, und bekam nicht viel von seinem Geknöter mit, und ich konnte Steffi gerade noch zurückhalten, dem Alten direkt an die Gurgel zu gehen und ihn so schon etwas früher ins Jenseits zu befördern, weil sie nun wirklich kein bisschen dick war. Aber ihre Jeans waren tatsächlich etwas zerissen, doch das hat man ja jetzt so.
Ach, der Alte war einfach unmöglich. Und was ich bei meiner kleinen Zeitung als Redaktionsleiter verdiene, ging Onkel Günter nun wirklich überhaupt nichts an. Außerdem ist es genug und reicht wunderbar für uns alle. Wir kommen gut klar.
Sicher macht man sich in meinem Alter auch schon mal Gedanken um die sogenannte Altersvorsorge.
Phh. Schon das Wort …! Früher habe ich immer laut und rebellisch gelacht, wenn mein Vater mich ermahnt hat, an die Rente und den ganzen Quatsch zu denken. Lebensversicherungen, Bausparverträge, ja, ja, lass mich bloß in Ruhe damit … Aber heute … mit Familie … naja … ach komm, es läuft ja alles.
Wir waren jedenfalls nach etwa zwei Stunden Onkel-Günter-Beleidigungen immer heilfroh, wenn wir dann endlich wieder loskonnten.
„So, Onkel Günter, es reicht mal wieder! Tschüss! Wir müssen“, sagten wir dann, dachten aber: Wir ham die Schnauze mal wieder so richtig voll von dir, du altes Ekelpaket.
Er war eben alt und verknöchert. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, weil man in seiner Generation und in seinem Alter eben alt und verknöchert zu sein hatte. Aber er war trotzdem ein alter Ätzer. Da gab’s nichts dran zu beschönigen. Ein waschechter Kotzbrocken. Bis heute.
Vor etwa vier Wochen war er also gestorben, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Oder eben „Hätzinfack“, wie der Sauerländer gerne hinter vorgehaltener Hand und mit betroffenem Gesicht an den Nachbarn weiterklatscht. Nicht, dass man ihn vermisst hätte, aber nach drei Tagen fiel den Nachbarn auf, dass sie gar keinen Streit mehr mit dem alten Knacker hatten, weil er ja gar nicht mehr auftauchte. Und da hat man schließlich doch mal nach ihm gesehen, und es war zu spät. Tot – mit dem letzten, ganz ordentlichen Rentenbescheid in der Hand, saß er in seinem abgescheuerten Sessel vor dem laufenden Fernseher. Die Beerdigung fand sozusagen in aller Stille statt und war auch erwartungsgemäß spärlich besucht.
Und dann kam eines Tages dieser Brief vom Nachlassgericht, in dem man uns als Erben benannte.
Uns? Das kann doch nicht sein. Aber gut, er hatte keine anderen Verwandten mehr. Tante Emmi, seine Frau, war schon vor vielen Jahren gestorben, wahrscheinlich, damit sie endlich ihre Ruhe hatte vor dem alten Knöterich. Kinder hatten die beiden keine – et hat einfach nich geklappt, woll – und die Geschwister waren ja auch schon alle tot. Da bleiben nur noch wir, die kleine und im Großen und Ganzen recht fröhliche Familie Knippschild. Alex, Steffi und Max.
Ja, aber was sollte der olle Muffkopp denn schon zu vererben haben? Das kann ja wohl nichts Dolles sein, dachten wir so. Und heute kam dann die Bestätigung, dass wir tatsächlich auch Erben sind.
Das Schreiben des Gerichts vermeldete, dass sein Vermögen sich auf einige noch recht gut erhaltene Möbel, ein paar Bücher, Bilder, einen Kühlschrank, einen Blaupunkt-Röhrenfernseher … und ein Bankguthaben von 98.456,45 Euro beliefe. Und das alles gehöre jetzt uns!
Achtundneunzigtausend? Boah!
Was war Onkel Günter doch für ein wunderbarer Mensch! Gütig, weise, jesusgleich und ewiggut. Ich hab’s doch immer gewusst.
„Das gibt’s doch nicht!“, haucht Steffi leise und andachtsvoll, als sie das Schreiben des Nachlassgerichtes in den zitternden Händen hält.
„Lass mal sehn!“, meine ich nur und nehme ihr vorsichtig das Papier aus der Hand, damit auch ja keins von den schönen Worten, die sie eben noch so würdevoll vorgelesen hat, verrutscht oder herunterfällt. Ja, es scheint zu stimmen. Da steht in der für Menschen ja eigentlich gar nicht verständlichen Sprache der Ämter und Gerichte, dass das alles jetzt uns gehört. Wir sind plötzlich reich. Also, zumindest recht wohlhabend.
„Tatsächlich“, sage ich erstaunt und reiche ihr ziemlich aufgewühlt das schöne Schreiben zurück. „Da steht’s. Fast hunderttausend Tacken. Boah ey! Ich werd bekloppt!“
Ja, da entgleist einem schon mal das feine, gepflegte Hochdeutsch.
„So viel Geld hatte der alte Knaster noch auf der Kante?“, sagt Steffi und schüttelt noch mal den Kopf und sagt auch noch mal „Das gibt’s doch nicht!“ und auch noch mal „Boah ey!“.
„Was für Geld?“, fragt Max ganz nebenbei und sucht in erster Linie nach seinen neuen Sneakers, die gestern doch noch irgendwo waren.
„Opa Günters Geld!“, sage ich bedeutungsvoll, mit der angemessenen Würde, aber auch immer noch ehrlich erschrocken über die fantastische Höhe dieses überraschenden Nachlasses.
„Der hatte Geld?“, scheint auch Max nicht glauben zu wollen, denn angesehen hatte man das weder ihm noch seiner Wohnung. Und besonders freigiebig war er schon gar nicht. Ganz und gar nicht! Er hätte Max ruhig hier und da mal einen Zehner oder auch mal mehr in die Hand drücken können, wie gute Opas oder Großonkels das nun mal so machen. „Hier! Brauch keiner sehn“, sagen diese Opas dann üblicherweise, so wie ich es immer von meiner Oma gehört habe, die mir so oft heimlich was zugesteckt hat, damit die anderen Vettern und Cousinen es nicht bemerkten und möglicherweise neidisch wurden, weil ich nun mal der Lieblingsenkel meiner guten Oma war. Aber nee, für Opa Günter kam so was nicht in Frage.
„Der Gunge brrauch kein Geld. Dat verprrasselt der doch sons bloß für Killefit un Kokoloorres!“
Und jetzt können wir also alles gemeinsam verprasseln. Wirklich? Ja, scheint wohl so zu sein. Für Killefit un Kokolores!
„Wie viel Geld hatte der denn?“, fragt Max noch, aber dann hat er seine Sneakers im Flur entdeckt, da, wo all unsere Schuhe in Reih und Glied stehen und wo seine liebe Mutter sie wahrscheinlich gestern Abend tief seufzend deponiert hat und wo er sie natürlich nicht vermuten konnte. Seine Frage hat er schon wieder vergessen.
Steffi und ich verbringen einen ganz besonderen Abend in an- und verdächtiger Stille, und jeder macht wohl so ganz für sich ein paar geheime Pläne, was man mit dem Onkel-Günter-Geld wohl alles so anfangen könne. Ab und zu sehen wir uns an und schütteln fassungslos die Köpfe.
Das gibt’s doch nicht!
Wir fühlen uns wie die Gewinner in einem Fernsehquiz, haben aber noch nicht einmal eine einzige Frage richtig beantwortet. Ob Steffi sich wohl schon mit den Reichen und Schönen auf Sylt exotische Cocktails schlürfen sieht? Ach nein, das glaube ich eigentlich eher nicht. Vielleicht denkt sie an den kurzfristigen Besuch einiger edler Boutiquen, um die sie sonst immer seufzend einen größeren Bogen macht. Eine Super-Hitech-Küche mit Induktionsherd wäre sicher auch nicht schlecht, wer weiß, vielleicht ein neues Schlafzimmer und ein Bett mit Bocksprungmatratzen, oder wie die jetzt heißen, und bei denen ich auch keine Ahnung habe, was man außer Schlafen sonst noch darauf macht. Und ich will auch nicht wissen, warum die so heißen.
Ich selbst denke ganz kurz mal an ein neues Auto mit jeder Menge elektronischem Schickschnack innendrin, tollen Felgen und roten Bremssätteln … und an eine schöne weite Reise. Im letzten Jahr waren wir in Thailand, auf Ko Samui, das war schön und aufregend. Warum also nicht dieses Jahr noch weiter, noch exotischer? Hm, mal sehen. Die Kohle hätten wir ja jetzt. Obwohl dann natürlich schon wieder ein ganzer Batzen von dem schönen Geld abgeknabbert wäre. Hoho. Vorsicht, Dagobert! Bring es lieber in den Geldspeicher!
Vielleicht sollte man es anlegen. Genau. Das ist