Fluchtpunkt Hollywood. Gundolf S. Freyermuth
ging, ohne jemand zu begegnen, der berühmt war«.
Draußen in den Vorstädten aber herrscht bereits die Gewalt. Nazis und Kommunisten liefern sich Saalschlachten, SA-Trupps überfallen wehrlose Passanten, weil sie »jüdisch aussehen«, jeden Tag gibt es irgendwo im Reich Schwerverletzte und Tote. Der uniformierte Mob schickt sich an, die Republik zu zerstören.
Den Sündenbock für die soziale Misere haben die völkischen Horden längst ausgeguckt: die »jüdische Weltverschwörung«. Was oder wer das sein soll, weiß keiner so recht. Doch das hindert ja nicht, den nächstbesten zu verprügeln, der daran beteiligt sein könnte, einen von 500 000 unter den 65 Millionen deutschen Bürgern, den Gemüsehändler an der Ecke mit dem dunklen Teint oder den Arzt mit dem jüdischen Namen zwei Straßen weiter.
Falkenberg findet die hasserfüllten Parolen der Nazis eher komisch, ihre rassistischen Ideen verschroben, ihr martialisches Gehabe lächerlich. »Worin ich mich ungemein getäuscht habe«, wie er an diesem Morgen auf dem Ku’damm am eigenen Leibe erfahren muss.
Plötzlich umringen ihn fünf Braunhemden. Sie haben den Spaziergänger als Juden erkannt. Der Nazi-Trupp ist mit Schlagstöcken aus dickem Malakka-Rohr bewaffnet.
»Warum haust du nicht ab nach Jerusalem«, schreit der uniformierte Anführer, ein bulliger Typ aus dem Bilderbuch der Brutalität. Seine Fahne, riecht Falkenberg sofort, hat weniger mit Politik als mit Alkohol zu tun.
Die Nazis, etwas jünger als ihr Opfer, beginnen auf Falkenberg einzuprügeln. Seine Hilferufe kümmern keinen der vielen Passanten. Ein Hieb trifft Falkenbergs Hut, er rollt auf die Straße, automatisch läuft Falkenberg hinterher.
»Das war mein Glück«, meint er später, »denn die Brüder blieben damals noch vom Damm fern, die trauten sich nicht vom Schatten der Bäume und Hauseingänge weg.«
Im selben Augenblick hält ein Taxi neben ihm. Der Fahrer öffnet den Schlag.
»Ick kenn dat schon. Wenn ick hier Jeschrei höre: Polizei, Polizei, dann weeß ick, dass wieder so 'n Ding läuft, und ick krieg' gleich 'ne Fuhre.«
Noch am selben Tag beschließt Paul Falkenberg, Deutschland zu verlassen. Der junge Filmcutter ist seit seiner Mitarbeit an Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder und Carl Dreyers Vampyr ein gefragter Mann. Anfang 1932 bietet sich ihm eine Gelegenheit, in Paris zu arbeiten. Die Berliner Wohnung behalten Falkenberg und seine Frau bei – bis Hitlers Machtübernahme alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zunichte macht.
Wenn zwölf Jahre später die Alliierten die deutsche Hauptstadt befreien werden, lebt dort keiner von Falkenbergs engsten Verwandten mehr. Er selbst kann es erst dreißig Jahre, nachdem er Berlin verlassen hat, über sich bringen, die Stadt seiner Geburt zu besuchen. Wohnen wird er nie wieder in Deutschland.
Die Tür der Wohnung in den New Yorker »Central Park Studios«, einem Altbau mit hohen Räumen in der 76. Straße West, öffnet ein kleiner gebückter Mann. Er steckt in einem viel zu weiten weißen Tropenanzug mit schmalen blauen Streifen. Dem schmächtigen Körper sieht man an, dass er das Kleidungsstück vor einer Weile noch auszufüllen vermochte. Aus dem jungen Hitler-Flüchtling ist, als ich ihn treffe, ein körperlich schwacher, aber geistig hellwacher Greis geworden.
Nicht ohne Misstrauen und mit einigem Widerwillen, das lässt er den Besucher aus Deutschland fühlen, führt Paul Falkenberg mich in den living room. Sich umzuschauen, bleibt keine Zeit. Der Gastgeber diktiert den Ablauf des Gesprächs.
»In meinem Leben ist nicht viel passiert«, sagt er mit einem keineswegs freundlichen Blick. »Ich habe nicht viel mitgemacht, gerade mal zwei Weltkriege, eine Revolution, eine Inflation, zwei Emigrationen, das ist alles.«
»Den Schritt in die Emigration haben Sie ein gutes Jahr vor den meisten Ihrer Leidensgenossen vollzogen«, frage ich, »war das nicht, gemessen an dem, was man damals wissen konnte, eine sehr heftige Reaktion auf ein isoliertes Ereignis?«
»Vielleicht habe ich es deshalb so stark empfunden«, sagt Falkenberg und schaut noch um einiges böser, »weil ich an so was nicht gewöhnt, nicht abgestumpft war. Die meisten haben damals in Deutschland derlei in der Schule oder sonst wo erlebt, und ich wusste, dass es das gibt. Aber persönlich habe ich nie zuvor, und übrigens auch nie danach, eine solche Erfahrung machen müssen.«
Falkenberg beugt sich vor und stützt sich dabei auf die geschnitzte Armlehne seines Stuhls. Spöttisch lächelnd erzählt er von den ersten Jahren seines Exils.
Die Nazis, das erkennt er bald, sitzen fest im Sattel, der Rückhalt in der Bevölkerung ist überwältigend. Wer nicht zu der Mehrheit gehört, die das barbarische Treiben billigt, schließt vor der alltäglichen Gewalt, vor politischem Mord und der systematischen Verfolgung der jüdischen Bürger, die Augen. Keinerlei Hoffnung besteht für die Flüchtlinge, in absehbarer Zeit zurückkehren zu können.
In den europäischen Exil-Ländern aber wird die Lage zunehmend prekärer. Das Dritte Reich weitet seinen Machtbereich konsequent aus. In immer mehr Staaten gelangen faschistische oder rechtsdiktatorische Regierungen an die Macht, und auch die wenigen verbleibenden Demokratien verschärfen aus Furcht vor Hitler-Deutschland die Restriktionen gegenüber den Emigranten. Als letzte Hoffnung erscheint am Horizont Amerika.
1938 treffen die Falkenbergs im Hafen von San Pedro an der amerikanischen Westküste ein. Drei Jahre verbringt das Paar in Hollywood, ohne dass Paul Falkenberg Arbeit findet. Kurz vor Pearl Harbour nimmt er schließlich ein Angebot aus New York an. Wenig später ist er Assistent des spanischen Filmregisseurs Luis Buñuel, ebenfalls ein Europa-Emigrant, der am Museum of Modern Art Unterschlupf gefunden hat.
Anders als im ewig sonnigen Kalifornien fühlt sich Falkenberg an der Ostküste sofort heimisch. Der Alltag verläuft in New York, der ersten Station so vieler Einwanderergenerationen, »europanäher«. Hier existieren die urbanen Treffpunkte, die die Ex-Berliner im zersiedelten Los Angeles so sehr vermissen. Und es gibt die Kneipen und Restaurants von Yorkville, mit Leberknödeln und Hackbraten, Wiener Schnitzeln und Königsberger Klopsen.
»War das etwas, was Sie vermisst haben?
»Ja, selbstverständlich. Man hat sich gefreut, die deutsche Küche wiederzufinden.«
»Haben Sie Lust, zum Lunch dorthin zu fahren?« schlage ich vor.
»Ja, warum nicht«, sagt Falkenberg und scheint durchaus erfreut.
In Yorkville, dem traditionellen deutschen Viertel, fanden einst die Freiheitskämpfer der 1848er Revolution Aufnahme, auf die Hitler-Flüchtlinge jedoch wartet eine gespenstische Szenerie: Hakenkreuze hängen in den Schaufenstern der Läden, und uniformierte SA-Leute, amerikanische Staatsbürger deutscher Abstammung, patrouillieren auf den Bürgersteigen. In den Kinos laufen die Filme von Goebbels’ Ufa im Original. Es gibt deutsche Theater und Bierkeller, in denen lederbehoste Buan Schuhplattler tanzen, und es gibt auch Partei-Krawalle und Antisemitismus. Die alten Yorkviller halten aggressiven Abstand zur neuen Welle der überwiegend jüdischen Emigranten, die sich in Washington Heights niederlassen, dem »Vierten Reich«, wie die Emigranten selbst frotzeln.
Doch Ende 1941, als Falkenberg nach New York kommt, ändert sich die Situation. Der Kriegseintritt der USA lässt die alteingesessenen Yorkviller eine radikale patriotische Wendung vollziehen: hin zu dem Land, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen.
»Waren Sie damals schon Amerikaner?«, frage ich, während das Taxi sich Meter für Meter durch den Mittagsverkehr vorwärts schiebt, von der 76. Straße West durch den Central Park zur 86. Straße Ost.
Falkenberg schüttelt den Kopf. »Nein, das wurde ich erst 1944.«
»Bekamen sie als Noch-Deutscher während des Krieges Probleme? »
»Nicht wirklich. Zwar musste ich als angeblich feindlicher Ausländer es der Polizei melden, wenn ich verreisen wollte. Wollte ich aber nicht.«
»Und im Alltag, wenn man Sie an Ihrem Akzent als Deutscher erkannte?«
»Ach, im Grunde spricht in New York kein Mensch richtig Englisch. Es ist eine Stadt für Einwanderer, und man hatte auch während des Krieges keinerlei Schwierigkeiten