Fluchtpunkt Hollywood. Gundolf S. Freyermuth
deutschsprachige Reklameschilder. Sie werben für ein »Wurst Haus«, ein »Bremen House« oder für die »Kleine Konditorei«, den berühmten Emigrantentreff, der in zahllosen Memoiren und Exil-Romanen erwähnt wird. Von dem alten Yorkville scheint nicht mehr viel übrig. Die germanische Enklave verliert ständig an Boden. Ihre Kundschaft stirbt schlicht aus.
Falkenberg sieht sich kurz um.
»Ich war schon lange nicht mehr hier.«
Das Lokal, das wir nach einigem Zögern betreten, bietet eine Mischung aus vergilbtem Dreißiger-Jahre-Look und Altentagesstätte. Gemütliche Tristesse, triste Gemütlichkeit. Die Speisekarte ist zweisprachig und offeriert ausschließlich »Hausmannskost«.
Mitten in Manhattan, in Sichtweite der Skyscraper, wirkt die urdeutsche Umgebung geradezu unheimlich unzeitig, gespenstisch alt. Wie sonst nur in der DDR ist hier das Vorkriegsreich konserviert. Es ist, als stiegen wir in die Verliese einer Vergangenheit, deren Reize und Schrecken ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern kenne.
»Was war das für ein Gefühl, wenn Sie in den Nachrichten gehört haben, Berlin, Ihre Geburtsstadt, die Stadt Ihrer Jugend, wird angegriffen, zerbombt?«
»Wissen Sie, man war emotional so involviert, dass man ....« Zum ersten Mal fehlen Falkenberg für Sekunden die Worte. »Also«, sagt er mit einem Ruck, »man hatte einfach keine rationalen Attitüden mehr. Es war so, dass man am liebsten... Jeder hätte gern ein Maschinengewehr genommen und wär' durch deutsche Straßen und hätte ein paar Leute niedergeknallt. Wir wussten eben doch ...«
Die Kellnerin kommt, gewandet in eine Mischung aus Dirndl und Krankenschwesterntracht, und nimmt die Bestellungen auf. Falkenberg scheint froh über die Unterbrechung.
»Mein Schwager wurde im KZ Oranienburg ermordet«, fährt er dann fort, wie um die Wut zu erklären, die nach so langer Zeit eben wieder in ihm aufgestiegen ist, »und meine Mutter haben sie 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Mein Vater war ja schon tot.«
Fast sagt er es erleichtert. Sein leerer Blick sieht mich nicht, und doch spüre ich ihn wie ein Gewicht auf meinem Körper.
»Meine Mutter«, sagt er schließlich, »konnte dann 1944 freigekauft werden – 1000 Dollar pro Jude.«
Es klingt bitter, fast verzweifelt. Die Schmach dieses Menschenhandels ist unvergessen.
»Wiedergesehen habe ich sie nie«, sagt Paul Falkenberg. »Sie hatte schon das Billett. Aber in der Nacht vor der Abreise traf sie der Schlag.«
Das soßenschwere Essen wird serviert. Aus dem halbdunklen Innenraum des Restaurants heraus wirken die Häuserfronten und der Verkehr draußen vor den Fensterscheiben wie Kulissen in einer amerikanischen TV-Serie. Die Wagen rollen lautlos, als sei der Ton ausgefallen. Deutschland ist unendlich weit weg, das macht das Sprechen leichter. Diese Entfernung, die wohltuende Distanz, war es wohl auch, die so viele Emigranten nach dem Krieg, nach dem Ende von Terror, KZs und Massenmord, in den USA bleiben ließ.
»Da kann ich Ihnen noch eine dieser traurigen Exil-Geschichten erzählen«, beginnt Paul Falkenberg, nachdem er eine Weile schweigend gegessen hat. »Als die Nachricht vom Tode meiner Mutter kam, war gerade Lotte Andor bei uns, auch eine Emigrantin, und Lotte brach in Tränen aus. Ich sage: Lotte, was weinst du? Du hast meine Mutter doch gar nicht gekannt? Da sagt sie: Wieso ich weine? Weil du weißt, wo deine Mutter begraben ist, und ich weiß es von meiner nicht.«
Mein Blick fällt auf eine dürre alte Frau, die vollkommen regungslos an einem der Tische im hinteren Teil des Lokals sitzt und unentwegt zu uns herüberschaut, als könne sie das Gespräch verstehen. Unwillkürlich senke ich meine Stimme.
»Haben Sie ...«
»Die Briefe«, spricht Falkenberg gedankenverloren vor sich hin, »die mir meine Eltern in der Nazizeit geschrieben haben, liegen in der Germania Judaica in Köln. Ich habe sie denen gegeben, weil ich nicht in der Lage bin, sie noch einmal zu lesen. Ich kann es einfach nicht, es ist ...«
Er hält inne und folgt meinen Augen. So sehen wir beide auf die dürre alte Frau, die in diesem Augenblick wie ein nasser, wenn auch sehr leerer Sack vom Stuhl rutscht. Fast geräuschlos schlägt sie auf dem Boden auf und bleibt regungslos liegen. Zwei Kellnerinnen gehen ruhig auf sie zu, heben sie an den Armen hoch und schleifen sie durch die Tischreihen zum Ausgang.
Als die Bedienung vorbeikommt, fragen wir, was passiert sei.
»Te Lady«, erklärt die Kellnerin mit einer kühlen Stimme, die sich seltsam zu ihrem schweren süddeutschen Tonfall ausnimmt, »hat too much Cocktails getrunken.«
Da taucht sie wieder auf aus den Schrecken der europäischen Vergangenheit, die ganz rauhe, aber ganz normale amerikanische Gegenwart: »Mind your own business!« Jeder kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, und die bestehen bei den anderen Gästen im wesentlichen darin, möglichst viel Essen möglichst schnell zu verschlingen. Und vor allem: Keine Probleme, Mann!
Falkenberg grinst. »Darf ich Ihnen sonst noch etwas Unangenehmes erzählen?«
»Ja«, sage ich. »Haben Sie nach dem Krieg einmal überlegt, zurückzukehren nach Deutschland?«
»Nein, keinen Augenblick.«
Falkenberg schaut empört, und ich erinnere mich, ein wenig beschämt über die Selbstverständlichkeit meiner Frage, an die leichenstarrenden KZ-Filme, an die hohe Kunst der Verdrängung, die mein vernaziter Klassenlehrer in den sechziger Jahren »Vergangenheitsbewältigung« nannte und ebenso scheinheilig wie ungern in zwei, drei Schulstunden durchexerzierte.
»Man diskutierte natürlich, ob man zurückgehen sollte. Einige hatten ja auch seltsame Schwierigkeiten hier«, sagt Falkenberg und grinst wieder. »Sehen Sie, das letzte Mal, als ich Günther Anders traf, musste ich mit ihm zum FBI wegen seiner Einbürgerung. Ich sollte über ihn Auskunft geben, also erzählte ich: Zuletzt hat Mr. Anders geschrieben über Kafka als Warner. Da fragten die mich: ›So, so, wer ist ein Warner, wer ist dieser Kafka?‹ Und da waren all die langen Gänge und vielen Büros in dem Gebäude, und ich dachte: ›Das ist Kafka.‹ Aber wie sollte man nun dem FBI erklären, wer Kafka war und wovor er gewarnt hat?«
Noch heute kann man Falkenberg die diebische Freude an seinem damaligen Auftritt ansehen.
»Na, und so ging der Anders dann eben zurück« fährt er fort, »aber für mich, für die meisten kam das alles nicht in Frage.«
Wenn ein anderes Land als die USA zur Debatte gestanden hätte, dann Israel. Mehrere Male arbeitet Falkenberg, der sich nach Kriegsende als Produzent von Dokumentarfilmen selbständig macht, im Auftrag der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen im neuen jüdischen Staat.
»Wann haben Sie zum ersten Mal wieder Deutschland besucht?«
»1954 war ich in Köln, aus Israel kommend. Meine Frau wollte ihre Schwägerin in Berlin besuchen, ihr Bruder wurde ja im KZ ermordet.«
Paul Falkenberg schaut mich an. Es ist keine Gedächtnisschwäche. Sein Kopf funktioniert hervorragend. Er weiß, dass er den Mord an seinem Schwager zum zweiten Mal erwähnt. Er gedenkt nicht, mir – und sich – das zu ersparen.
»Und ich habe zu meiner Frau gesagt, ich kann es nicht«, erzählt er weiter, »ich kann mich nicht dazu überwinden, nach Berlin zu gehen. Sie ist dann hin, und wir trafen uns in Paris wieder und fielen uns in die Arme und sagten: ›Gott sei dank, dass wir nicht in Deutschland sind.‹ Aber das war nicht mehr ein Gefühl des sinnlosen Hasses, das war Fremdheit.«
Die grellen Reklamen, die Menschen aller Hautfarben, die englischen Laute, die durch die offenen Seitenfenster hereindringen, alles wirkt nach der Zeitreise ins grauenerregende deutsche Vorkriegs-Reich wohltuend exotisch. Wir fahren im Taxi von Yorkville zurück zu den »Central Park Studios«.
»Später besuchten Sie dann Berlin?« frage ich.
Falkenberg schaut weg, hinaus in die Jogger-Sommer-Eiscreme-Szenerie des Central Park. Nach einer Weile antwortet er.
»Ja, zuerst 1961.«
»Wie