Hausgemeinschaft mit dem Tod. Franziska Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod - Franziska Steinhauer


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müssen. Unerklärliche Gewalt und Grausamkeit. So, als sei man schicksalhaft ausgeliefert. Vielleicht wissen sie ja nicht, dass sie damit den Täter im Grunde zum willenlosen Opfer des Bösen machen – praktisch unschuldig schuldig.« Und damit auch vor Gericht nicht schuldfähig, setzte er verbittert in Gedanken hinzu.

      Eriksberg. Ein schöner Stadtteil. Zumindest für die, die in den Häuserzeilen wohnten, deren Fenster den Blick auf den Hafen freigaben. Bunte, moderne Fassade, halbhohe Wohnblocks. Meeresfeeling zum Frühstück auf dem Balkon. Die Mieter in den dahinterliegenden Häusern hatten weniger Glück. Sie rochen zwar das Meer, was mal mehr, mal weniger angenehm sein mochte, aber konnten es nicht sehen.

      »Hoffentlich kriegen wir den Kerl schnell!«, murmelte er über der dampfenden Flüssigkeit, trat ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus.

      Es regnete.

      Schon wieder. Oder etwa immer noch?

      Wenig später sprang er auf den Beifahrersitz eines Familienvans und Lars brauste los.

      »Britta und Ole kommen ins Büro und recherchieren den Hintergrund der Familie«, erklärte Sven. »Oft gibt es in diesen Fällen ein privates Motiv. Bernt hört sich am Tatort um. Es geht nicht immer um Missbrauch oder Vergewaltigung«, setzte er hinzu und fragte sich, ob er damit nicht in erster Linie sich selbst beruhigen wollte.

      Lars grunzte nur unwillig.

      »Ärger?«

      »Der Kleine hat ein bisschen Fieber und quengelt.«

      Dann schwieg er.

      Stierte durch die Scheibe auf die nasse Straße.

      Der Scheibenwischer quietsche.

      Trotz der frühen Stunde hatten sich schon viele Schaulustige hinter der polizeilichen Absperrung versammelt. Einige schwiegen betroffen. Andere tuschelten aufgeregt, stellten erste Mutmaßungen an. Wieder andere ergingen sich stimmgewaltig in allgemeinen Tiraden über den Zustand der schwedischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert, den Verfall von Sitte und Anstand.

      Sven kannte das alles von früheren Tatorten.

      »Voyeure!«, knurrte er grimmig.

      Er hielt Ausschau nach Torre Samuelsson.

      »Hier! Ich bin Torre«, winkte ein schlanker, hochgewachsener Kollege verhalten und führte sie hinter einen aufgespannten Sichtschutz.

      »Tja – ungewöhnliche Auffindesituation. Wir haben das Tuch gespannt, um die Gaffer nicht auf ihre Kosten kommen zu lassen. Die fotografieren hier sonst alles mit ihren Handys und stellen die Bilder und Videos sofort ins Netz. Eigentlich sollte man die alle wegen Behinderung der polizeilichen Ermittlungen einsperren!« Torres Gesicht, schmal und vor Erregung gerötet, zeigte deutliche Spuren des Schreckens.

      »Wo liegt das Kind?«

      »Komm!«

      Torre führte sie in eine entlegene Ecke.

      »Er hat das Mädchen in einen Einkaufswagen gelegt. Zusammengerollt wie ein Hündchen.«

      Lundquist zuckte zusammen. Torres Vergleiche waren ihm zu blumig und auf tierische Vergleiche reagierte er heute allergisch.

      Sie hatten den Bereich für die abgestellten Einkaufswagen erreicht.

      Scheinwerfer leuchteten diesen Teil aus.

      »Der Fotograf ist schon fertig. Der Rechtsmediziner kommt gerade. Dr. Jussi Andersson, glaube ich. Dort!« Torres fleischiger Finger deutete auf eine untersetzte drahtige Gestalt, die mit energischem Schritt näher kam.

      Sven nickte.

      Sein Blick kroch über die surreale Szene, die sich ihm bot.

      Hinter sich hörte er Lars kräftig ausatmen.

      Sie war deutlich zu groß für ihr letztes Bett gewesen.

      Der Täter hatte den Körper auf eine rote Fleecedecke gebettet, den Stoff an Ellbogen und Knien etwas hochgezogen, als wolle er verhindern, dass sich der Draht schmerzhaft in ihre Extremitäten drücken konnte. Doch bis zur Stirn hatte die Unterlage nicht gereicht. Sven bemerkte, wie sich das Gewebe der Stirn durch die Gitter quetschte. Blutansammlungen verfärbten bereits die Wange und den Arm, auf dem der Kopf gelegen hatte. Bläulich und geschwollen sah dieser Bereich aus. Er zwang sich, jede Einzelheit zu erfassen, ignorierte das flaue Gefühl in der Magengegend, das ihn an Tatorten regelmäßig überfiel. Die grellen Lampen zerrten jedes Detail gnadenlos deutlich hervor. Die fahle Haut des Mädchens, ihre nackten mageren Beine unter dem bunten Rock, das hochgerutschte T-Shirt über der vollständig entwickelten Brust, die sorgfältig unter dem Kopf gekreuzten Arme, die langen Haare, die seitlich über das Gesicht fielen. Vielleicht hat der Täter sie mit Absicht so drapiert, damit er nicht in die Augen der Kleinen sehen musste, überlegte Lundquist. Hatte er den Mord bedauert, sich seiner Tat wegen geschämt? Hör auf, maßregelte er sich selbst, es ist viel zu früh, darüber Spekulationen anzustellen.

      »Keine Schuhe?«, fragte er dann mit belegter Stimme.

      »Nein. Auch keine Jacke.«

      »Wie mag sie wohl gestorben sein«, ließ sich Lars Knyst vernehmen. Seine Stimme klang scharf. Er war in seiner professionellen Haltung nicht schnell zu erschüttern. Sven überlegte, ob die Distanz zum Tod bei seinem Freund durch die Geburt seines Sohnes sogar noch zugenommen hatte. Vielleicht wirkte das Vatersein bei ihm wie Ölzeug gegen das Grauen. »Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen. Blut könnte natürlich in die Decke gesickert sein. Da sie rot ist …«

      »Dazu bin ich ja jetzt hier!«, klärte eine schneidende Stimme die Situation und ein Lundquist unbekanntes Gesicht schob sich in den Kegel des Scheinwerfers. »Jussi Andersson, Rechtsmedizin. Ich sehe sie mir gleich an, vielleicht kann ich sofort etwas zur Todesursache sagen. Danach nehme ich sie mit. Bericht geht an?« Seine wässrig-blauen Augen streiften den Ermittler mit einem Fischblick.

      »Sven Lundquist.«

      »Gut. Na, dann.« Der Rechtsmediziner strich die Haare aus dem Gesicht des Mädchens, beugte sich über den Wagen und schnüffelte lautstark. »Leichenstarre hat bereits eingesetzt«, kommentierte er Augenblicke später. »Kein Alkoholgeruch, kein Bittermandelaroma, etwas Chemisches ist allerdings schon zu bemerken. Na, mal sehen.«

      »Sucht ihr in der Umgebung nach den Schuhen und der Jacke?« Sven wandte sich erneut zu Torre um.

      »Ja, selbstverständlich. Läuft schon.«

      »Mädchen in diesem Alter haben in der Regel auch eine Tasche bei sich. Habt ihr die irgendwo entdeckt?«

      »Nein, nein. Die Tasche fehlt auch. Kein Handy, kein Schlüssel, nichts. Die Mutter hat bei ihrer Vermisstenmeldung sehr detaillierte Angaben gemacht.« Er winkte einen Kollegen aus dem Hintergrund heran und flüsterte vertraulich: »Das ist Filip. Filip Björk. Er hat die Anzeige aufgenommen. Ist seine erste Leiche.« Laut fragte er: »Gibt es Aussagen zu einer Tasche?«

      Der Kollege nickte müde.

      Sven musterte den spirrligen Mann skeptisch. Statt einfach zu antworten, begann der gesamte lange Körper Filips sich zu schlängeln. Selbst die Arme beteiligten sich an dieser großen Geste der Rat- und Hilflosigkeit.

      »Was soll ich sagen?«, begann er mit Fistelstimme. »Als sie kam, dachte ich doch nicht eine Sekunde daran, dass etwas passiert sein könnte. Die Mutter war unglaublich aufgeregt, dabei waren ja mal gerade zwei Stunden über die vereinbarte Zeit verstrichen. Das kommt doch vor! Aber sie hat sofort Beschuldigungen gegen ihren Exmann erhoben. Hat geschrien, er habe mit Sicherheit seine Hände im Spiel. Natürlich bemühte ich mich darum, sie zu beruhigen, aber das funktionierte nicht. Und nun das!« Anklagend deutete er mit dem Kopf auf den Einkaufswagen.

      »Es war vollkommen richtig, die Mutter erst mal zu beruhigen. Meist tauchen die Mädchen spätestens am nächsten Tag wieder auf. Müde mit einem dicken Kater! Dies hier ist der Ausnahmefall. Ich muss wissen, ob sie eine Tasche dabeihatte, eine Jacke, wie die Schuhe aussahen.« Sven Lundquist bemühte sich bewusst um einen ruhigen Ton. Der junge Mann war so schon


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