England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
Malcolm auf die Harrow Art School, die Fred Vermorel in seiner Darstellung von McLarens Leben beschrieb als »meilenweit einziges Zentrum der Bohemian Frenzy, wo sich die Schwulengemeinde mit den Beatniks, Drogenhändlern, Sexualstraftätern und Mods mischte.« In jener Zeit waren Kunsthochschulen weniger ergebnisorientiert als heute. »Dort gingen alle hin, die woanders nicht hineinpassten«, sagt Malcolm. »Es war ein toller Ort zum Abhängen.«
Das war der Beginn von Malcolm McLarens Unabhängigkeit und der Beginn eines siebenjährigen Treibenlassens in den Institutionen der höheren Schulbildung. »Ich habe meine ganzen politischen Ansichten, mein Verständnis der Welt aus der Kunstgeschichte«, sagt er.
»In der Welt geht es ums Plagiieren. Wenn man nicht anfängt, Dinge zu sehen und zu klauen, weil sie einen inspirieren, bleibt man dumm.«
Bis zu einem gewissen Grad betrachtete sich Malcolm als Avantgardist, suchte nach einem Schlüssel, der ihm erlaubte, seine tiefsitzende Wut und seinen Groll freizusetzen. Zwischen 1965 und 1968 besuchte er verschiedene Kunsthochschulen unter falschen Namen, um Stipendien zu bekommen. In dieser Zeit griff er Ideen auf, die gerade im Umlauf waren, und verwarf sie wieder: Fluxus, Pop Art, Andy Warhol. Sie alle hatten gemeinsam, dass die Vorstellung von Kunst untrennbar mit dem Alltagsleben verbunden war, untrennbar vor allem von Kommerz und Umwelt.
Der städtische Raum – damals die hypermodernistische Verherrlichung der kommerziellen Welt – ist eine Idee, die sich nicht nur durch die Geschichte der utopischen Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch durch die verschiedenen Ebenen der englischen Nachkriegsgesellschaft zieht. Malcolms Kunsthochschulzeit fiel mit dem Höhepunkt der Nachkriegsentwicklung zusammen – Büroblöcke, Autobahnen, riesige Sozialbaupläne. Während dieser Zeitspanne, fertigte er, inspiriert von Frank Stella mehrere Skulpturen an, beunruhigende, eckige Formen aus dem Unterbewussten, die in einer Umgebung aus Beton schwebten.
Die Skulpturen waren von den räumlichen Besonderheiten Croydons inspiriert. Wie der aus Croydon stammende Jamie Reid in Up They Rise sagt: »In den frühen 50er Jahren war Croydon kurz vor dem Aufschwung. Die Pläne für neue Hochhäuser, ein neues Einkaufszentrum und ein Verwaltungsgebäude existierten bereits. Es sollte eine neue Zitadelle des Kommerzes für das Nachkriegsbritannien werden. Londons Mini-Manhattan war geboren.« Malcolm fotografierte Bürogebäude wie das Luna House, betonte die bedrohlichen Formen oder fertigte vollkommen abstrakte Entwürfe an. Reids Gouache von 1968
»Up They Rise: A Playground for the Juggler« zeigt Malcolm als Alchimisten – einen Manipulator des neuen urbanen Raums.
Malcolm hatte im Herbst 1967 in Croydon angefangen. Der Kurs ließ ihm mehr Freiheit als zuvor und brachte ihn mit Gleichgesinnten zusammen, wie mit Robin Scott, dem späteren Popsänger »M«, und Jamie Reid. Reid und Scott stammten aus Croydon. Geboren 1947, als Sohn von John MacGregor-Reid, Stadtredakteur des Daily Sketch, war Jamie Reid in Shirley aufgewachsen, eine saubere, ausgesprochen ordentliche Gegend, die zur Zeit, als sie gebaut wurde, den räumlichen Phantasien der Epoche entsprach: Vorstadt (sub-urbia).
Jamie war ein widerwilliger Student, der sich zwischen Kunst und Fußball entscheiden musste. Die Malerei gewann: Reid war fasziniert von Jackson Pollock, dessen Leinwände er als Landschaften betrachtete. In Wimbledon waren die Lehrmethoden sehr traditionell und Reid rebellierte: »Ich war ein typischer, unbequemer junger Kunststudent.« Er wohnte im Einzugsgebiet der Croydon Kunsthochschule, und der Studiengang dort bot mehr Freiheiten. Voller romantischer Hingabe für die Malerei fing er im Herbst 1964 an zu studieren.
Die Beinahe-Revolution, die sich in Paris und im restlichen Frankreich im Mai 1968 ereignete, hatte eine elektrisierende Wirkung auf die Jugend in aller Welt. Teilweise, weil sie der erste richtig im Fernsehen übertragene urbane Aufstand war, teilweise, weil sich eine Generation herauskristallisierte, die politische Rechte forderte. Die Zerstörung von Vietnam durch die Amerikaner mag ein Auslöser gewesen sein, 1968 aber verwandelte einen ästhetischen Stil in eine politische Geste. Die ungeheure Energie von Pop, die seit 1964 auf die Welt einströmte, wurde in eine öffentliche Demonstration mit dem utopischen Versprechen übersetzt: dass die Welt verändert werden kann.
Der Virus der Anarchie kehrte zurück und wurde als Begriff zum ersten Mal im Sinne von sozialem Chaos benutzt. Durch die Schriften von Libertären wie Proudhon und Bakunin war aus Anarchie Anarchismus geworden, »ein System sozialen Denkens, das auf grundlegende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur abzielt, besonders auf die Ablösung des autoritären Staates durch eine Form nichtstaatlicher Kooperation zwischen freien Individuen.« (George Woodcock).
Durch das Fehlen einer starren Ideologie konnte der Anarchismus in vielerlei Weise definiert – und angegriffen – werden: Trotz der Ernsthaftigkeit und Schlüssigkeit seiner Argumente, wurde er gern missverstanden und von dogmatischen politischen Systemen aufgegriffen. Proudhons Erkenntnis, dass etwas erst zerstört werden müsse, bevor man es neu aufbauen könne, wurde in der Öffentlichkeit nur zur Hälfte wahrgenommen, die den Anarchismus mehr mit dem ersten, und für viele aufregenderen Schritt in Verbindung brachte. Aber, wie Woodcock bemerkt, in seiner mangelnden Bestimmtheit lag auch die Stärke des Anarchismus: »Er kann gedeihen, wenn die Umstände günstig sind und dann, wie eine Wüstenpflanze, über mehrere Jahreszeiten und sogar Jahre hinweg in Winterschlaf verfallen und auf den Regen warten, der ihn wieder zum Knospen bringt.«
Die deutlichsten Signale im Paris von 1968 waren Poster und Graffiti. Die kryptischen Phrasen waren das perfekte Medium für die Revolte – neu und ungewöhnlich, leicht verpackbar und paradox. Phrasen wie »Fordere das Unmögliche« oder »Phantasie an die Macht« scherten sich nicht um die herkömmliche Logik, sie ließen komplexe Ideen plötzlich einfach erscheinen. Sie waren Kunstwerke, die allerdings nicht im traditionellen Sinne einer Person zugeschrieben werden konnten: Anonyme Slogans wie »Arbeitet nie!« oder »Unter dem Pflaster liegt der Strand« funktionierten wie Polaroidaufnahmen eines Augenblicks.
Der Augenblick war rasch vorüber – am 30. Mai ergriff de Gaulle mit einem vom Fernsehen übertragenen Ultimatum wieder das Wort –, aber er wurde zu einem starken Symbol. Für die gelangweilten Studenten in ihrem Betonkäfig in Croydon war er wie ein Startschuss. Warum nicht weiter gehen, als nur so zu tun, als würde man Vorlesungen besuchen? Warum nicht die Vortragenden abschaffen?
Malcolm McLaren hatte bereits am radikalen Wind der Zeit geschnuppert und beschäftigte sich mit den Ideen des Südafrikaners Henry Adler. Jamie Reid war mit utopischer Politik aufgewachsen; Robin Scott war einfach auf Randale aus. Was auch immer ihre Beweggründe waren, alle beteiligten sich an einem Sit-in, das in Croydon eine Woche nach der berühmten Hornsey Art School Aktion stattfand. Am 5. Juni verbarrikadierten sich die Kunststudenten im Anbau in South Norwood und stellten unmöglich zu erfüllende Forderungen auf.
»Wir entwarfen eine Art Abschlussklassenmanifest über das Einreißen der Trennwände. Die meisten Forderungen richteten sich an den Lehrkörper; darüber ging es nicht hinaus«, sagt Robin Scott. »Wir fanden, dass die Wände zwischen Autoritäten und Studenten abgerissen werden sollten. In Hornsey gab es schlimmere Missstände als bei uns, aber wir befanden uns in einer apathischen Situation, Langeweile war das größte Problem. Es war an der Zeit, das System auf die Probe zu stellen und die Grenzen auszuloten.«
Die Aktion war vor allem ein Medienereignis: Die Studenten verschickten Pressemitteilungen und besetzten die Telefone. Am 12. Juni kam das Sit-in in die Zeitungen. »Unsere Lösung des ganzen Geredes über vernetzte Strukturen, wechselnde Jahrgänge und Abteilungen war einfach, die Trennwände einzureißen. Also machten wir das«, sagt Jamie Reid. Aber nachdem die ursprüngliche Begeisterung verflogen war, blieb die Frage, wie man weitermachen wollte. »Ich wurde zum Interessenvertreter der Studenten gewählt,« sagt Robin Scott, »und sollte dem Lehrkörper gegenübertreten. Mich hat das nicht interessiert, aber die Zeit lief uns davon.«
Als die Sommerferien begannen, hatte sich das Sit-in aufgelöst:
»Es war ein Wochenend-Picknick«, sagt Scott, »der Spaß war vorbei. Ich glaube auch nicht, dass Malcolms Absichten ernsthafter waren, denn als es zum Zusammenstoß kam, als es darum ging, etwas Konstruktives zu sagen oder zu tun, hatte er nichts zu sagen. Es war sogar so, dass er sich verpisste, als sich die Gelegenheit ergab, das System an der Croydon