England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
Wege: Fred Vermorel setzte seine Ausbildung fort, und Robin Scott komponierte Radiojingles für BBC2. Helen Mininberg heiratete einen schwulen Mann. Jamie Reid, der von den Ereignissen 1968 vielleicht am meisten beeinflusst war, kehrte nach Thornton Heath zurück. Zusammen mit Nigel Edwards und Jeremy Brook gründete er 1970 eine Druckerei, die Suburban Press.
Malcolm orientierte sich an Larry Parnes, dem außergewöhnlichsten und extravagantesten aller Rock’n’Roll-Agenten. Und obwohl er es nicht wusste, gelangte McLaren mit seinen Recherchen für den gescheiterten Film über die Oxford Street in den Besitz der Blaupause für sein ideales Produkt. Auf der Oxford Street befanden sich die ersten Büros der Sex Pistols, in einer vergessenen, inzwischen abgerissenen Mietskaserne. Für den Film nahm er auch das Gebäude von EMI Records im Frühjahr 1970 auf. Und nicht minder prophetisch war das Manifest, das er für den Film geschrieben hatte: »Sei kindisch. Sei unverantwortlich. Sei respektlos. Sei alles, was diese Gesellschaft hasst.«
Malcolm McLaren vor der Nummer 430, März 1972 (© Dailey Mirror)
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Im November 1971 übernahmen McLaren, Westwood und Patrick Casey Nummer 430. Auf Fotos in dieser Zeit trägt McLaren orthodoxe Ted-Kleidung: ein taubenblaues Jackett mit schwarzem Samtbesatz, eine goldene Weste und eine Slim-Jim-Krawatte, schwarzes Hemd, schwarze Röhrenhosen, schwarze Schuhe mit Kreppgummisohlen, schwarz-blau gestreifte Nylonsocken. Passend zu ihren gebleichten kurzgeschorenen Haaren trug Vivienne einen grellen kanarienfarbenen Mohair-Pullover, schwarze Stretchhosen und Stiefeletten mit hohen Absätzen.
McLaren, stets ein Chamäleon, probierte viele Posen aus, die zu seiner neuen Situation passten. Auf einigen Fotos spielt er den stolzen jüdischen Kaufmann – führt das rosa Futter seines blauen Tuchjacketts und besonders extravagante Cowboy-Stiefel vor. Auf anderen ist er der Kultbegeisterte, umklammert die LP »Buddy Holly Story« oder steht vor einem Schrein für die Rock’n’Roll-Helden der Gegenwart und Vergangenheit. Er hat bereits das Gebaren der wütenden, proletarischen Nervensäge entwickelt, das sein berüchtigter späterer Schützling verkörperte. »Der sieht genauso aus wie ich!« platzt John Lydon heraus, als er 1988 die Bilder sieht.
Es waren kaum Renovierungsarbeiten nötig. Die Wellblechfassade der Paradise Garage wurde schwarz gesprüht und die Worte »Let It Rock« mit rosafarbenem fluoreszierenden Papier hervorgehoben und wie Musiknoten gestaltet. An auffälliger Stelle hing ein Reklamezettel für Screaming Lord Sutch, ein früher Schutzpatron. Als einer der ersten britischen Rock’n’Roll-Sänger war Sutch, bevor er im Wahlkampf aktiv wurde, ein außergewöhnlicher, spektakulärer Showkünstler, völlig unbekümmert, was seinen Mangel an jeglichem herkömmlichen musikalischen Talent betraf.
Der hintere Bereich im Laden wurde schwarz gestrichen. Die von Vivienne angefertigten Hosen und Jacken von einem Schneider aus dem East-End namens Sid Green hingen auf einem antiken Ständer: eine Mischung aus gebrauchten Stücken und Imitationen. Die vordere Hälfte des Ladens war der Bereich zum Rumhängen. Dieser wurde von einer Odeon-Tapete beherrscht und einem merkwürdigen Trompe-L’oeil-Fenster, unter dem eine mit rosa Taft verkleidete original 50er-Jahre-Vitrine stand, in der Plastik-Ohrringe, Pomade und Anhänger ausgestellt waren. Obendrauf stand ein Bild von Sutch, sein Haar wie durch einen Elektroschock wild zerzaust. Von der Wand grinste Billy Fury aus einem grellen Glasrahmen. Zwischen den Einrichtungsgegenständen – »genau wie ein Wohnzimmer in Brixton in den 50er Jahren« – lagen Stapel von Zeitschriften, und man konnte sich setzen und lesen: Mad-Kopien wie Sick, Kinomagazine wie Photoplay oder die aufdringlichen Spick, Span und Carnival. McLarens Vorstellung (die Vivienne nicht ganz teilte) war, aus dem Laden mehr als nur eine Verkaufsstelle zu machen. »An guten Tagen«, stand im ersten Artikel über Let It Rock, »kauft Malcolm, wie er sagt, manchmal Kuchen und Cola, die er seinen Kunden schenkt. Da er glaubt, dass ›Kapitalismus stinkt‹, hat er Zweifel, ob er überhaupt einen Laden führen sollte.«
McLaren und Westwood befanden sich rasch in einer widersprüchlichen, aber angenehmen Situation: Noch immer auf der Suche nach einer revolutionären Metapher oder Subkultur, fanden sie sich plötzlich in der Mode wieder. Nach zwei Monaten erschienen ausführliche Artikel über den Laden im Evening Standard, im Daily Mirror und im Rolling Stone. »Es gab keinen Zweifel«, schrieb Bevis Hiller in Austerity Binge, »dass 1972 ein Revival der fünfziger Jahre ansteht.«
Rock’n’Roll war auf den britischen Inseln gelandet wie ein Raumschiff vom Mars. Die afro-amerikanische Musik oder Subkultur hatte niemanden auf die Brutalität und die reine, sexuelle Explosivkraft der Platten vorbereiten können, die zwischen 1954 und 1959 importiert wurden. Diese Platten veränderten alles, so dass niemand in der Lage war, eine Sprache zu ihrer Erklärung zu finden, außer mit den Songzeilen selbst: »A Wop Bop a Loo Bop«, »Be Bop a Lula«. Aus diesen außerirdischen Gesängen erwuchs die Leidenschaft, mit der die Briten bis heute Pop verherrlichen.
1948 wollten 60 Prozent der Engländer unter 30 auswandern. Mitte der 50er Jahre transportierte der Rock’n’Roll, verschlüsselt in einer geheimnisvollen Sprache, das Versprechen einer neuen Welt: eine Welt, in der kein Militärdienst absolviert werden und man keine Geschichten über den Krieg anhören musste, Sex frei konsumierbar war, man sich herumtreiben und ein wildes Leben führen konnte. Vor allem aber wollten Teenager so viel wie möglich, so bald wie möglich, und diese Intensität des ersten Mals – verkörpert im Rock’n’Roll – ist das Kennzeichen des Teenager-Traums.
»Die Amerikaner hatten Rock’n’Roll direkt vor der Nase und sie sahen das als selbstverständlich an«, sagt Ted Carroll, ein massiger Dubliner mit schütterem Haar, der als einer der ersten in England die Pop-Geschichte verkaufte, »wohingegen es für uns hier sehr schwierig war, diese Musik zu hören – 1957, 1958 wurde bei der BBC überhaupt kein Rock’n’Roll gespielt. Man musste Luxembourg oder den amerikanischen Militärsender (American Forces Network) einstellen, um Rock’n’Roll zu hören. Es war beinahe so, als gäbe es eine Verschwörung, um einen davon fernzuhalten, und das trug zu seinem Mystizismus bei.«
Die Wirkung von Rock’n’Roll beim ersten Hören war so stark, dass viele Briten von der Idee besessen waren, den damit verbundenen Ausbruch immer wieder erneut zu erleben oder wenigstens zu simulieren. Da sie keine einheimische Tradition hatten, mussten die Gläubigen ihre Religion aus vorgefundenen Formen fertigen, aus Kultobjekten wie dem »brothel creeper«-Kreppsohlenschuh oder Stars wie Little Richard oder Buddy Holly.
»Hier ist er nie gestorben«, sagt Ted Carroll. »Als der britische Beat-Boom verweichlicht wurde, hat das eine Menge Leute abgeschreckt, und sie haben sich während der 60er Jahre einfach weiter an den Rock’n’Roll gehalten.« Als die große Welle der Jugendkultur den Bach runterging, blieben den Teds Rituale: Bestimmte Objekte – eine Single auf dem schwarz/silbernen London-Label, oder ein samtbesetztes Jackett – erhielten überdimensionale Bedeutung. Konsum war die Art und Weise, wie sich die Briten der Jugendkultur näherten, die sich ursprünglich außerhalb ihres Horizonts abgespielt hatte. Und mit dieser Vergötterung des Gegenstands wurde der Laden zum Tempel.
Wie McLaren und Westwood hatte auch Carroll eine Lücke in der kommerziellen Infrastruktur entdeckt. »Als ich 1970 nach Amerika fuhr«, erzählt er, »entdeckte ich Oldies-Shops, die sich auf 50er und 60er Jahre-Platten spezialisiert hatten, und viele dieser Platten wurden noch gepresst. Viele der Majors hatten tatsächlich eine Menge Hits in den Katalogen gelassen. Es war außerdem die Zeit der Trödelläden, wo man für ungefähr zehn Schilling eine Langspielplatte und für einen Schilling eine Single bekommen konnte. 1972 hatte ich einen Bestand zusammengetragen und begann, Platten aus Amerika einzuführen. Ich suchte nach einem Standort für den Einzelverkauf. Weil ich mir die laufenden Ladenkosten nicht leisten konnte, suchte und fand ich die ideale Lösung auf einem Wochenmarkt.«
Rock On in der Goldborne Road 93 zog rasch eine eingeschworene Anhängerschaft an. Dort hinzugehen, war an sich schon ein religiöser Akt. Die Golborne Road lag am falschen Ende der Portobello Road, zehn Jahre vor der urbanen Erneuerung; Rock On befand sich