England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
die Rolling Stones und die Beatles. Sie lernten in der Öffentlichkeit und prahlten damit. Das machte sie unberechenbar, aber ihre Unbekümmertheit ob ihres mangelnden musikalischen Könnens bezog das Publikum mit ein und bedeutete, dass es mit ihnen wachsen konnte. Obwohl es eine Distanz schaffende Ironie gab, war das nicht Camp: Die Dolls transzendierten abscheulich schlechten Geschmack mit ihrer Begeisterung und der Art, in der ihre Musik perfekt das wiederspiegelte, was sie zu sagen hatten.
Neben JoHansens burleskem Grinsen, verlieh Johnny Thunders’ leierndes Brummen, ähnlich wie John Cales Bratsche bei Velvet Underground, dem ganzen eine schräge, harmonische Instabilität – man wusste nie, wann sie explodieren würden. Unter diesem Beinahe-Chaos lag Arthur Kanes Bass, der zum Beat bummerte und dabei mit einem Minimum an Tönen auskam. Die Spannung zwischen beiden war umwerfend. Die Dolls sangen über U-Bahnen und genau so klangen sie: wie das Kreischen des IRT.
Mehr als Alice Cooper machten sie Hard Rock für eine neue, nihilistische Generation, die, in Dave Marshs Worten, »aufwuchs, als die Wirtschaft eher zurückging als expandierte, als die Unschuld der 60er Jahre im Zynismus der 70er Jahre erstarrte.« »Wir wollen wie zu Tode gelangweilte 16jährige aussehen«, erklärte David JoHansen dem Rolling Stone im Herbst 1972. Die frühen Songtitel und Texte der New York Dolls lasen sich wie ein Manifest dieser neuen Generation von Frankensteinmonstern, die die Ausschweifungen der 60er Jahre gierig verschlungen hatten, aber denen der Idealismus fehlte, der sie initiiert hatte.
Ursprünglich hatten sich die Dinge für die Dolls sehr schnell entwickelt. Sechs Monate nach ihrem ersten Auftritt hatten sie ein professionelles Managementteam: die Agenten Steve Leber und David Krebs und den altgedienten Marty Thau, der Kaugummi-Hits wie »Yummy Yummy Yummy« von Ohio Express groß gemacht hatte. Aber die New York Dolls waren das Ergebnis eines sehr spezifischen Milieus, daher fiel es ihnen in einer konservativen Musikindustrie schwer, voranzukommen, weil diese gerade erst begonnen hatte, sich am »Rock für Erwachsene« zu orientieren.
Ihr Image war wenig hilfreich: »Ich erinnere mich, als Clive Davis, der Präsident von CBS Records, Lisa Robinson mitteilte, ›Sag Bob Gruen, dass man sich nicht mit den New York Dolls brüsten sollte, wenn man im Musikgeschäft vorankommen will.‹ Das war, als hätte man öffentlich zugegeben, dass man schwule Freunde hat. Im Mainstream war das nicht beliebt.«
Bei ihrem ersten Besuch im Vereinigten Königreich im vorangegangenen Herbst war der Schlagzeuger Billy Murcia unter ungeklärten Umständen im Badezimmer gestorben. »Sie waren stoned«, sagt Bob Gruen, »aber zu dieser Zeit schien das nicht so schlimm zu sein: Alle waren stoned. Um in der Band als cool zu gelten, wurde von einem erwartet, dass man betrunken oder auf Drogen war.«
»Nach Billys Tod wurden wir zu einem riesigen Erfolg«, sagt Sylvain, »es brachte uns eine Menge Publicity. Wir lebten in einem Film: Jeder wollte ihn sehen.« Zu dieser Zeit, als ihnen das Let It Rock-Flugblatt in die Hände fiel, befanden sich die Dolls in einem Hoch: Nach monatelangen Verhandlungen hatte sie Marty Thau endlich bei Mercury Records unter Vertrag gebracht, wo sie rasch ein Album aufnahmen. Die Platte enthielt leicht verwässerte Versionen ihrer Musik und besaß vielleicht gerade deshalb das Potential für landesweite Verkäufe. Die Dolls waren das heißeste Ding in New York: Ihre Zustimmung und Förderung verlieh McLaren, Westwood und Goldstein den Schlüssel zur Stadt.
Unter der Ägide der Dolls zog das Trio ins Chelsea Hotel, das Berühmtheiten wie Alice Cooper und Michael J. Pollard besuchten, um sich diese merkwürdige Kleidung anzusehen, und Let It Rock wurde sogar in Andy Warhols Interview-Büros am Union Square West 33 eingelassen: Bob Colacello interviewte sie, während Warhol filmte. Es gab endlose Parties: im McAlpin; im Loft der Dolls, wo Goldstein eine junge Dichterin namens Patti Smith traf; oder im Chelsea, was von Eric Emerson gefilmt wurde – die Dolls trugen Zoots, während unaufhörlich der Soundtrack zum Film »The Harder They Come« dudelte.
Für McLaren war New York wie ein Sprung in die Gegenwart. Die Stadt schien grenzenlos, bot eine ganze Reihe von Freiheiten – Freiheit von Klassenunterschieden, von Stagnation, vom Puritanismus –, die in England wie weit entfernte Träume erschienen. Mit den New York Dolls befand sich McLaren in der Welt der Prominenz – und er wollte mehr. Die Gruppe selbst war beeindruckend. Sie waren von einem ähnlichen Punkt aus gestartet – Mode und die Musik der fünfziger Jahre – und hatten es geschafft, die ursprüngliche Wildheit des Teenage Rock’n’Roll so zu erneuern, dass er in die 70er Jahre passte. Sie hatten Haltung, einen Stil, besaßen Medienpräsenz, sie lebten, was sie sangen, und sie gaben ihm das Gefühl, dass er dazu gehörte.
Als er im September nach England zurückkehrte, erschien ihm London statisch und provinziell, eine niederschmetternde Umkehrung der Zukunft, die er in New York erahnt hatte. Alles Amerikanische und alle Amerikaner waren wie Glücksbringer für ihn. Wieder begann er, am Inhalt der King’s Road 430 herumzubasteln, diesmal allerdings mit einer neuen Idee, die aktuell und nicht nostalgisch war.
Die New York Dolls schienen den Schlüssel dafür zu besitzen. Als sie im November 1973 nach Europa kamen, klebte McLaren an ihnen, und dieses Mal übten sie enorme Wirkung auf ihn aus. Am 26. und 27. November gaben sie Konzerte in Biba’s Rainbow Room; einen Tag später hatten sie einen denkwürdigen Auftritt im »Old Grey Whistle Test«, einer »seriösen« Rock’n’Roll-Show auf BBC 2, in der sie sich über die steife Atmosphäre der Sendung lustig machten und damit eine elektrisierende Wirkung ausübten.
»Das erste Mal sah ich Malcolm, als die New York Dolls bei Biba’s gespielt haben«, erzählt Nick Kent, damals der Nestor der englischen Musikjournalisten: »Es ging ein bisschen in die Hose, weil er nicht auf der Liste stand. Später ist er reingekommen. Ich hatte Vivienne schon ein paar Mal gesehen, sie war offensichtlich etwas ganz Besonderes. Malcolm war völlig verrückt nach der Band und begleitete sie auf der ganzen Tour – er saß die meiste Zeit mit JoHansen rum. Es war als wäre er erleuchtet worden.«
Kent erklärte die Anziehungskraft der Gruppe im New Musical Express vom 26. Januar 1974: »Kaum fünf Minuten aus dem Flugzeug raus, und Johnny Thunders kotzt. Bl-a-a-a-a-a-gh! Gott weiß, wieviele Fotografen da sind: Paris Match, Stern – die ganze europäische Rock-presse und die nationale dazu. Die Leute von der Plattenfirma haben eine kleine Begrüßung vorbereitet. Bl-a-a-a-a-gh! David JoHansen, der immer für ein wenig Humor zu haben ist, legt eine grandiose Parodie eines deutschen Offiziers hin: ›Vee did not co-operate viv de Nazees.‹ Die Handlanger der Massenmedien sehen ziemlich nervös aus. Bl-a-a-a-g-g-hh!«
Die Dolls hatten mit einem Drehbuch begonnen und jetzt – bei der Verwechslung zwischen Person und Rolle, wie sie im Pop an der Tagesordnung ist – lebten sie den Film in der Wirklichkeit. Der Spaß wurde, als Drogen und Müdigkeit überhand nahmen, durch Anstößigkeit ersetzt. In Paris zerschlug Johnny Thunders eine Gitarre auf dem Kopf eines spuckenden Fans, und in Deutschland nahm er an folgendem Wortwechsel teil:
Presse: Wie gefällt es Ihnen in Deutschland?
Johnny: Wissen Sie, wir ... wir wollen ein Wohltätigkeitskonzert in Belsen oder so geben.
Presse: Für alle Juden, die dort im Lager gestorben sind?
Johnny: Neeee ... für die ganzen Nazis, die in Scheiß-Südamerika auf Bäumen sitzen.
Diejenigen, die das Es des Pop aufspüren wollten, war die Grundeinstellung im Punk nicht genug: Das war unzählige Male zuvor gemacht worden. Ein kräftiger Schock war nötig, um eine Reaktion der abgestumpften Reflexe hervorzurufen. Die Dolls trugen nicht nur ihre aufregende Unfähigkeit zur Schau, sondern verwandten auch gelegentlich Hakenkreuze. »Auf dem Gymnasium bekommt man ein zerfleddertes Buch, und das erste, was man da hineinmalt ist ein Hakenkreuz und ein Totenschädel mit Knochenkreuz«, sagte JoHansen 1973. »Man kratzt ein Hakenkreuz ins Pult. Du weißt nicht, was Faschismus ist. Das ist überhaupt nicht antijüdisch. Mann, der Scheiß ist einem egal. Wenn man ausdrücken will, wie böse man ist, dann macht man das so.«
Der Film »Cabaret« war äußerst populär, und das Hakenkreuz war einfach etwas, was der himmlischen Dekadenz zusätzlichen Reiz verlieh. Die New York Dolls waren viel zu launisch, als dass man Stimmigkeit von ihnen hätte erwarten können, deshalb war