Brothers in Crime. Wolfgang Pohrt
und die gute Wohngegend von der besseren trennen, bildet Gangland Außenposten. Immer weist die Bandenbildung auf eine Trennlinie hin – zwischen Kolonien von Einwanderern verschiedener Nationalität oder verschiedener ethnischer Gruppen, zwischen Stadt und Land oder zwischen Stadt und Suburb, zwischen ineinander übergehenden Städten, zwischen Geschäftsbezirk und Wohngebiet, und innerhalb des Wohngebiets zwischen der guten Gegend und der besseren. »Gangland is an interstitial area« (22), behauptet Thrasher daher, und er meint, dies wäre das wichtigste Resultat seiner Studie: »Probably the most significant concept of the study is the term interstitial – that is, pertaining to spaces that intervene between one thing and another.« (22)
Interstitial ist von interstices abgeleitet, interstices sind die Lücken im Lattenzaun, einem Gebilde, bei dem die unaufhörliche Abwechslung vollkommene Monotonie hervorbringt. Überall folgt Lücke auf Latte oder umgekehrt, je nach Standort und Tageszeit, weil im Gegenlicht die Latte eine Lücke ist. Analog dazu hängt es vom Standpunkt ab, ob man den Bandenbezirk oder das noble Wohnviertel als intersticial area betrachtet, denn umstellt bleibt man hier wie dort. Innerhalb der areas setzt das äußere Gliederungsprinzip sich dann beliebig fort – Little Pilsen, Little Italy und Little Greece sind die kleineren Käfige im großen. Wirkliche Freiheit, etwa die, nachts im Park herumzuspazieren, ohne auf den Weg zu achten, allein und unbewaffnet, ganz in seine Gedanken versunken, genießt auch der Bewohner des prächtigen Villenviertels nicht, weil es nur eines Schrittes vom Wege bedarf, um statt an der Gold Coast in Hobohemia zu landen, wo einem leicht was zustoßen kann.
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Seither sind die Latten enger aneinandergerückt. Es ist nicht die Regel, aber es kommt vor, dass Leute, die was zu verlieren haben, sich wie Gefangene fühlen müssen, weil ihre Wohnsitze belagerte Festungen inmitten von Feindesland sind. Bevor sie sich wieder frei bewegen können, müssten die anderen im Gefängnis sitzen, aber die Gefängnisse sind schon überfüllt.
Regelmäßig tauchen kleine Meldungen wie diese auf: »In Baden-Württemberg herrscht in den Gefängnissen drangvolle Enge. Rund 1000 Haftplätze fehlen im Männervollzug, gab Justizminister Ulrich Goll (FDP) gestern vor Journalisten in Stuttgart bekannt.« {Stuttgarter Zeitung vom 11.10.1996) – »Die Gefängnisse in Deutschland sind nach Ansicht des Bundes der Strafvollzugsbediensteten überfüllt. Die Überbelegung sei von Bundesland zu Bundesland verschieden, liege aber zwischen 20 und 100 Prozent.« (FAZ vom 3.8.1996)
Spektakuläre Häftlingsmeutereien, wie es sie in Griechenland, England und Frankreich gab, lenken manchmal das Augenmerk auf die Haftbedingungen. Das Athener Korydallos-Gefängnis, liest man dann zum Beispiel, »wurde für 500 Insassen gebaut, zurzeit befinden sich in den Zellen aber 1700 Häftlinge« (FAZ vom 16.11.95). In Südafrika will »die Gefängnisverwaltung neue abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse bauen. In den Haftanstalten sind 30 000 Gefangene mehr als beim Bau vorgesehen.« (FAZ vom 24.8.96) – In den USA hat sich zwischen 1980 und 1994 die Zahl der Gefängnisinsassen verdreifacht. Rund 1,5 Millionen Menschen sitzen dort mittlerweile ein, weitere 3,5 Millionen sind zu Haft verurteilt, aber unter Auflagen auf freiem Fuß. (FAZ vom 16.8. 1995)
Dabei stellen die Vielen im Gefängnis nur einen kleinen Bruchteil derer dar, die dort eingesperrt sein müssten, damit man draußen wieder sicher ist. Konservative amerikanische Theoretiker griffen deshalb Carpenters Escape from New York als Anregung auf, wie Mike Davis in seinem Urban Control. Jenseits von Blade Runner betitelten Aufsatz berichtet hat. Ein erstmals 1990 in der New Republic skizziertes Konzept sehe vor, »dass die Einrichtung ›drogenfreier Zonen für die Mehrheit‹ möglicherweise auch die Schaffung sozialer ›Abfallhaufen‹ für die kriminalisierte Minderheit erfordere« (Davis 1994:18).
Auf Resonanz stieß das Konzept freilich nicht, denn es fordert die Schaffung von etwas, das sich von selber bildet. Wer für Hygiene sorgt, kriegt Müll, auch ohne ihn zu wollen. Statt Gefängnisstädte abzuzäunen, mauerten nach Unruhen von Los Angeles 1992 sich die Bürger ringsum selber ein, und zwar so kräftig, dass ein Zeitungskommentar schrieb: »In den Achtzigern entstanden überall kleine Einkaufszentren, die Neunziger scheinen uns einen Boom beim Ausbau von Wohngrundstücken zu Mini-Festungen zu bescheren.«7 (21f.) Ähnliche Reaktionen gab es früher schon. Nach der Rebellion im Stadtteil Watt 1965 beschloss die Geschäftswelt von Los Angeles, sich aus einem dem Unruheherd benachbarten Viertel zurückzuziehen.
In strategisch günstigerer Lage zog sie dann ein neues Bürozentrum hoch, dem die Lärmschutzwände der das Gelände umschließenden Freeways als Befestigungswälle dienen konnten. Ferner hat das sogenannte Hochsicherheitshaus Verbreitung gefunden, ein Gebäudetyp, welcher den Büroturm mit bewaffnetem Wachpersonal und Verteidigungstechnik im Erdgeschoss ebenso umfasst wie die Imbissbude, wo der Hamburger durch ein Drehkreuz aus schussfestem Acrylglas zum Kunden wandern muss. Die städtischen Schulen sehen dann wie Gefängnisse aus, und »Sozialbaukomplexe ähneln immer mehr jenen berüchtigten strategischen Dörfern, die in Vietnam gebaut wurden, um die Landbevölkerung einzusperren« (15).
Dergleichen befestigte Gebäude und Stadtviertel mögen sich für effekthascherische Reportagen eignen, aber sie stellen nur winzige Flächen auf der Karte dar. Wichtiger als Zäune, Mauern, Wälle sind Winter-Entity Boundary Lines. Sie gliedern das Gebiet weiträumig in schwer definierbare Zonen, die Mike Davis Sozialkontrolldistrikte nennt, abgekürzt SCD.
In manchen sind Graffiti oder Prostitution verboten, in anderen ziehen bestimmte Delikte zusätzlich Bestrafung nach sich — Drogenhandel in der drogenfreien Zone rund um staatliche Schulen wird schwerer geahndet als Drogenhandel anderswo. Eine weitere SCD-Variante ist der Eindämmungsdistrikt. Hier ist beispielsweise das Verweilen auf öffentlichen Plätzen untersagt, weil es die Ausbreitung der Obdachlosen über die Grenzen ihres benachbarten Lagers hinaus zu verhindern gilt.
Auch die Sozialkontrolldistrikte mit ihren definierten IEBLs aber bilden die wirkliche Aufteilung des Gebiets nicht zutreffend ab, weil sie die Machtverhältnisse unberücksichtigt lassen, die permanenter Veränderung unterworfen sind. Auch Geschäftsleute oder Wohnungsbesitzer können in Zonen reduzierter Sicherheit die Initiative ergreifen. Zum Schutz vor Kleinkriminellen und jugendlichen Straßenbanden heuern sie Banden an, »Schlägertrupps und bewaffnete Söldner, um das Verbrechen in ihren Wohngebieten ›auszumerzen‹«, oder sie organisieren sich selbst als bewaffnete Banden. Die heißen dann Bürgerwehr, und ein Beamter des Los Angeles Police Department hat erklärt, wie sie funktioniert: »Die Bürgerwehr funktioniert so, wie man das von Wagenzügen aus alten Western-Filmen kennt. Die Bürger sind die Siedler, und das Ziel ist, sie dazu zu bringen, eine Wagenburg zu bauen und die Indianer auf Distanz zu halten, bis die Kavallerie – in diesem Fall das LAPD – zur Rettung angerückt ist.« (19 f.)
Aber in jener alten Zeit, in der die Western-Filme spielen, besaß der Einzelne auch die Möglichkeit, sich in die unermesslichen Weiten der Prärie zurückzuziehen, wenn er des ewigen Gebalges und Gemetzels überdrüssig war. Heute bleibt ihm nichts übrig als mitzumachen, auf der einen Seite oder auf der anderen, wenn er nicht untergehen will.
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