Brothers in Crime. Wolfgang Pohrt
Welt noch Gebiete existieren, wo die Ideen vor der Überprüfung durch den verifizierenden Verstand geschützt sind.
Die unbekannten, unzugänglichen Länder aber gehören der Vergangenheit an, seit alle weißen Flecken auf der Landkarte verschwanden. Auf provozierende Art erinnert daran die Cola-Reklame. Durch ihre Präsenz noch im tiefsten Elend macht die Weltmarke dem Zuschauer ihre Botschaft glaubhaft, welche heißt: »Ich erwische dich überall, du entkommst mir nie und nirgends.«
Nur der Ostblock gab sich verschlossen, undurchsichtig. Er zog die Aggression auf sich, in welche der vergebliche Wunsch nach einer Zuflucht umgeschlagen war. Aber die Ablehnung blieb ambivalent, wie in solchen Fällen immer, und es klang ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem Land »hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen« mit, wenn es abschätzig und angewidert hieß »hinter dem Eisernen Vorhang«. Der war nur keiner, wie man inzwischen weiß. Die Mauer entpuppte sich als Schleier, und als der fiel, lag dahinter die One World. Heute beginnt und endet an der Demarkationslinie daher nichts. Fast sehnt man sich zurück nach dem gehässigen »Geht doch nach drüben«, welches früher die Empfehlung der Passanten an die Demonstranten war. Die Deportationsdrohung klingt wie eine Verheißung, seit es kein drüben mehr gibt.
Wenn hinter jeder Zelle die nächste kommt, heißt das, dass man im Gefängnis ist. Allerdings hat es sich verändert. Die mächtigen Mauern, die für tatkräftige, listige Insassen immer auch ein Ansporn sind, sie zu überwinden, weil dahinter die Freiheit winkt, waren obligatorisch in der alten Zeit, wo zum Warenregal nur der Verkäufer Zutritt hatte, wo man für die U-Bahn am Schalter bezahlte und im Bus der Schaffner kam. Heute sind Sperren, Zäune und Gitter oft durch IEBLs ersetzt, durch Grenzen, an denen weder Pass noch Fahrschein vorgezeigt werden muss. Mittels Gewalt oder List durchbrechen lassen sie sich nicht. Sie sind unüberwindlich, weil das Erreichen der anderen Seite keinen Vorteil bringt.
Dergleichen imaginäre Linien haben vermutlich existiert, seit die ersten wilden Stämme aufeinandertrafen, die zwar Gebietsansprüche erhoben, aber keine Grenzbefestigungen kannten. Weil ein Stück Wald dem anderen gleicht, geschah es leicht, dass einer sich beim Jagen auf fremdes Territorium verirrte, was Strafe nach sich zog, wenn er dabei erwischt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft aber schien Freizügigkeit allgemeines Recht zu sein. Wo der Zutritt verboten war, war er auch verwehrt.
Das änderte sich wieder, als Anfang der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts inmitten der modernen Großstadt die Herausbildung von Einflusszonen und Gebietsgrenzen geschah, die weder ausgeschildert waren noch dem Stadtvermessungsamt bekannt. Wie an Saudi-Arabiens Grenze keine Tafel darüber informiert, dass an amerikanischem Interessengebiet sich vergreift, wer in den nah-östlichen Ölförderländern wildert; oder wie in Miami kein Schild mit der Aufschrift »Achtung! Lebensgefahr! Sie verlassen jetzt den zivilisierten Sektor« den ortsunkundigen Touristen vor der Weiterfahrt in den Slumgürtel warnt, so wies im Chicago der Zwanziger Jahre kein öffentlich verkündetes und zur Einsichtnahme ausliegendes Dekret den künftigen Betreiber einer Flüsterkneipe in der Halsted Street daraufhin, dass dort eine Konzession von Al Capone benötigt würde.
Zwar waren Grenzen ohne Ausschilderung, Markierung und Rechtsgrundlage nicht ganz unbekannt. Mit der Monroedoktrin von 1823 hatten die USA Anspruch erhoben auf den ganzen amerikanischen Doppelkontinent. Den behandelten sie fortan als ihr Revier, etwa in dem Sinn zunächst, wie Hunde in einem durch Duftmarken bezeichneten Bereich keine Rivalen dulden. Anfang des 20. Jahrhunderts dann, als Kuba erobert wurde, war der Staat ein Racket in dem Sinn, dass er fremde Länder seinem Machtbereich einverleibte und sie den eigenen Interessen unterwarf. Capone hätte von McKinley gelernt haben können oder von Roosevelt, dessen Wahlspruch »Speak softly and carry a big stick« das Erfolgsrezept kluger Mafia-Bosse ist. Es war allerdings ein wechselseitiges Geben und Nehmen, insofern McKinleys politische Lehrzeit in die Jahre nach dem Bürgerkrieg fällt. Verwaltung und Regierung machten damals gemeinsame Sache mit dem kommerziell kalkulierenden Teil des organisierten Verbrechens, während der andere, mehr auf schnelle Triebbefriedigung bedachte, unterdessen Schwarze jagen ging.
Überhaupt konnte das Bandenwesen selbst keinen überraschen. Es kommt über alle Epochen hinweg so häufig vor, dass Barrington Moore lakonisch konstatierte: »In Ländern, in denen Gesetz und Ordnung schwach sind, entsteht fast immer ein Gangstertum.« (Moore 1974:255) Dessen amerikanische Anfänge haben Historiker bis ins Jahr 1719 zurückverfolgt, und schließlich waren es die Siedler – kleine Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft, also Banden –, denen die Nation ihre Existenz verdankt. »A history of crime in America«, schreiben daher Frank Browning und John Gerassi in The American Way of Crime, »cannot help but be a history of America, in which the sagas of the outlaw and the gangster, the rebel and the mob, the crusader and the horde, are played back again and again in counterpoint to the dominant themes of unbridled progress and prosperity.« (Browning/Gerassi 1980:13)
Nun aber sahen die Banden anders aus, nicht mehr wie die alten Outlaws und Gangster. Die kannte man als klar umrissenen und von den übrigen Bürgern deutlich unterschiedenen Personenkreis. Sie lebten in der Illegalität, sie wurden verfolgt und sie waren geächtet. Sie machten Gebiete unsicher, eine dauerhafte Herrschaft installierten sie dort aber nicht. Sie waren ungebunden, bindungslos, es fehlte ihnen die Schwere. Denn ihre Macht war flüchtig, und sie selbst waren dauernd auf der Flucht.
Davon konnte bei Capone keine Rede sein. Als 1927 der von ihm protegierte Kandidat zum Bürgermeister von Chicago gewählt worden war, quartierten der Gangsterboss und sein Stab sich als Dauermieter in 50 Zimmern eines nahe Rathaus und Polizeihauptquartier gelegenen Komforthotels ein. Beamte und Politiker sollten kurze Wege haben, denn die engen Geschäftsverbindungen erforderten regen Besucherverkehr: »Vom Polizeigebäude, das in Wirklichkeit zu einer Söldnergarnison geworden war, die sich für den höchstzahlenden Condottiere zur ständigen Verfügung hielt, kamen Polizeibeamte, um ihren Lohn für geleistete Dienste zu kassieren – wie etwa für den Geleitschutz bei Alkoholtransporten; für Vorankündigungen von Razzien, die zur Beruhigung der Reformanhänger durchgeführt werden mussten, für die Ausstellung von behördlich gestempelten Karten an Capones Revolvermänner mit dem Wortlaut: ›An das Polizeidepartment. Dem Inhaber ist jederzeit Schutz und Hilfe zu gewähren‹.« (Köhler 1981:185f.)
Wenn die Polizei ohne viel Heimlichtuerei mit den Verbrechern gemeinsame Sache macht, vergeht die augenfällige Differenz, an welcher das moralische Unterscheidungsvermögen sich bildet – ohne Evidenz keine Reflexion. Weil die Guten nicht mehr an der Uniform zu erkennen sind, wird der Unterschied zwischen Gut und Böse unsichtbar. An der Differenz weiterhin festzuhalten, setzt nun den tröstlichen Glauben voraus, dass die moralischen Qualitäten sich nach innen verlagert hätten und dort, gleichsam im Verborgenen, fortexistieren würden. Ihn stärken Privatdetektive wie Chandlers Marlowe, aber die Helden der Leinwand und der Groschenromane sind solche des Übergangs. Sie repräsentieren Verschwundenes, solange das Publikum ihm nachtrauert. Doch die Trauer hört auf, wenn die Erinnerung an das Verschwundene erloschen ist.
Die Gangsterfilme und Wildwestfilme fesseln seit den Zwanziger Jahren das Publikum, weil es sich noch zurücksehnt nach Bedingungen, die vom Einzelnen moralische Entscheidungen verlangen. Das Wunderbare an der Pflicht, ein gottgefälliges Leben zu führen, ist, dass sie dem Einzelnen die Freiheit lässt, sich statt mit Gott lieber mit dem Teufel zu verbünden. Er kann auch Schurke, Bandit, Verbrecher werden, wenn er will, zumindest kann er mit dieser Möglichkeit liebäugeln. Sie existiert nicht mehr, wenn einer, der Justizbeamter war und Schieber wird, nur die Abteilung wechselt, aber bei der gleichen Firma bleibt. Sogar die Anforderungen sind überall dieselben. Wie in der Oberwelt kommt in der Unterwelt nur voran, wer sich zum leitenden Angestellten eignet.
Weil ihr Beruf kein Gegenbild zum eintönigen, grauen Alltag normaler Menschen ist, stehen Berufsganoven nicht besser als Buchhalter oder Akademiker da. Sie brauchen Krimis, sie verschlingen das Zeug, wie Kenner der Szene zu berichten wissen. Joseph F. O'Brien und Andris Kurins schreiben in ihrem auf Abhörprotokollen basierenden Buch Ehrenwerte Männer. Das FBI und der Pate von New York, die Paten-Filme hätten den »Verbrechern eine Menge vorgestanzter Sätze an die Hand gegeben, die sie sagen konnten, wenn sie hart, ehrlich, rechtschaffen oder gar weise klingen wollten« (O'Brien/Kunis 1992:46), und überhaupt: »Die Mafia – oder zumindest