Fremde in der Nacht. Barbara Sichtermann

Fremde in der Nacht - Barbara Sichtermann


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ziemlich viel Zeit und Geld in dieses Hobby stecke. Aber ihre Toleranz war oberflächlich. Und ihre Lust zum Hinausfahren klang ab. Ich mochte sie nicht drängen, also wartete ich. Wir machten unsre erste Reise nach Paris. Danach, so hoffte ich, würde sie sich schon wieder auf die Schiene locken lassen. Von wegen. Jetzt war es an mir, in ihre Passion eingeweiht zu werden.

      Dass sie »anders« sei, hatte sie mir gleich zu Beginn gesagt. Sie hatte es ein paar Mal wiederholt und einige geheimnisvolle Andeutungen drumherumgewoben, aber ich wußte nie genau, was es bedeuten sollte. Sie vielleicht auch nicht, dachte ich unbesorgt. Wer ist denn schon wie alle? Klar war mir lediglich, dass dieses Anderssein mit Sex zu tun hatte, das war aus dem Zusammenhang ihrer Andeutungen hervorgegangen.

      Während unserer Pariser Wochen - es war die Zeit, als wir täglich miteinander ins Bett gingen und uns immerzu Streiche spielten: Sie versteckte meine Schuhe und meine Krawatte, und ich praktizierte ihr eine lebendige Schnecke in die Handtasche - während dieser Zeit vergaß ich ganz, dass da etwas nicht stimmen sollte. Sie erschien mir wunderbar normal, ich konnte, abgesehen von ein paar kleineren Eigentümlichkeiten, keinen Unterschied zwischen ihr und den Liebhaberinnen meiner Jugendjahre entdecken. Während ich nichts Böses ahnte, dachte sie nur eins: Wie sag ich’s ihm? Und sie verfiel auf eine glänzende Idee: Sie verlegte ihre Andersartigkeit in die Vergangenheit. Nur in dieser Zeitform konnte sie mir alles sagen.

      Wir saßen auf einer Bank im Jardin de Luxembourg. Es war Sommer. Ich hatte eine Flasche mit Sprudel dabei, Almut eine Tüte mit Blätterteigbruch. Ich war glücklich. Sie nicht. Wie kam es nur, dass ich es nicht merkte? Glück macht blind. Der es einem schenkt, denkt man, muss davon im Überfluss haben.

      »Du hast mich nie gefragt«, sagte sie, »was ich meine, wenn ich sage, ich sei >anders<...«

      »Na, dass du auf Frauen stehst, kann ich mir nicht vorstellen -«

      Sie lachte. Es klang komisch. Ich sprach schnell weiter:

      »Also, ich finde, das einzig Ungewöhnliche an dir sind deine langen Beine, deine schlanken Hüften, deine schönen -«

      Sie unterbrach mich:

      »Jaja, das ist es ja. Es ist schon vorbei mit dem Anderssein. Du hast es mir ausgetrieben. Jetzt bin ich wie normale Frauen...«

      Sie wandte sich mir zu, und ich wollte sie in den Arm nehmen, um die Versöhnung nach einem nie erfolgten Zerwürfnis, nach der bloßen Drohung einer Krise zu besiegeln, hatte dafür auch schon eine passende Antwort auf den Lippen, nämlich ein launiges »Das ist doch meine Rede«, als ich sah, dass sie mir die Blätterteigtüte hinhielt und selbst kaute. Ich nahm ein bisschen Gebäck und begriff, dass es zu früh gewesen wäre, die Sache beizulegen. Jetzt, wo die Gefahr nicht mehr akut, sondern ins Dunkel der Vergangenheit abgeschoben schien, konnte man über sie reden. Und ich bat Almut, mir alles zu sagen.

      Sie holte aus, sprach über ihre Jugend, stockte dann und fragte, ob ich mir unter »weiblichem Exhibitionismus« etwas vorstellen könne. Ich musste lachen, was sie verstimmte. Ich beherrschte mich und sagte, ich dächte dabei an Stripteasetänzerinnen. Sie wandte ein, dass diese Mädchen häufig gar keine echten Exhibitionistinnen seien. Sie machten es des Geldes wegen und hätten keine wahre Freude dran. Bei ihr sei es folgendermaßen:

      Sex in der Abgeschlossenheit des Schlafzimmers habe ihr früher wenig bedeutet. Sie habe es dem Mann zuliebe getan. Was sie brauchte, war ein Zuschauer, also eine dritte Person. War die zugegen und als Voyeur glücklich, während sie es trieb, dann - und nur dann - kam sie auf höchste Touren und ging, wie sie es ausdrückte, ins Nirwana ein. So sei sie nun mal gestrickt gewesen, da habe sie gar nichts dafür gekonnt. Sie hatte sich immer, als junges Mädchen bei ihren ersten Liebschaften, gewundert, wie wenig sie empfand. Bis sie einmal, bei Sex im Freien, sich beobachtet glaubte und auch tatsächlich beobachtet wurde. Da plötzlich durchfuhr sie der große Schauer. Und sie wusste: So geht’s. Seitdem brauchte sie für ihre Lust einen Mann mehr als andere Frauen.

      Almut redete sich alles von der Seele. Sie sah zuerst in ihrer Veranlagung einen Makel und entschloss sich, in Therapie zu gehen. Sprang aber vor der ersten Sitzung wieder ab. Mittlerweile hatte sie einen lebenspraktischen Ausweg gefunden: die Phantasie. Wenn sie mit ihrem damaligen Freund ins Bett ging, stellte sie sich vor, es stünde ein Fremder hinter der Gardine, und schon ging alles gut. Aber die Vorstellungskraft erlahmte mit der Zeit. Nachdem Almut ihr alle Varianten entlockt hatte, einschließlich des unterm Bett versteckten Einbrechers, der entzückt wichste, während über ihm die Matratzenfedem kreischten, war Schluss. Verzweifelt blätterte sie im Telefonbuch. Und sie rief das Sex-Krisentelefon einer alternativen Beratungsstelle an.

      Die Frau dort am Telefon habe ihr, so Almut, das Leben gerettet. Leider habe sie ihre Retterin nie persönlich kennengelernt - es gehört zur Philosophie dieses Sex-Krisentelefons, alles im Anonymen zu belassen - aber sie müsse öfter in herzlicher Dankbarkeit an sie zurückdenken. Diese Frau nämlich habe gemeint, Almut sei keine Bohne pervers, sondern nur »anders« als die meisten - wobei man sich wundere, wenn man mal genauer hingucke, wieviele Menschen in dieser oder sonst einer Weise »anders« seien. Kurz gesagt: Almut solle auf die besondere Ausprägung, in der sich das sexuelle Verlangen bei ihr äußere, stolz sein und alles lassen, wie es sei. Und sich per Annonce die richtigen Partner suchen. So geschah es dann.

      Ja, über eine Anzeige, die Almut selbst in der Stadtteilzeitung »Wo denn« aufgegeben hatte, war ein junger Mann in ihr Leben getreten, der Ralph Schaufuß hieß. Er kam nicht allein, sondern in Begleitung seines Cousins und Spezis Lennart Miller. Die beiden hatten die Message, welche der verklausulierte Anzeigentext nur solchen Kandidaten offenbarte, die besser wussten als ich, was eine Exhibitionistin ist, genau verstanden. Man traf sich, war einander sympathisch, kam überein, und alles lief wunderbar. Bis Lennart sich mit einem dänischen Fotomodell verheiratete und nach Odense zog. Almut und Ralph suchten Ersatz, machten aber nur deprimierende Erfahrungen. Da verliebte sich Almut. In mich.

      »Und jetzt«, sagte sie atemlos, »ist es so schön, dass ich gar keinen Dritten mehr brauche.«

      Die Freude, die ich empfand, als sie mir die Hände auf die Schultern legte, war nicht rein. Zu deutlich spürte ich, dass ihr Anderssein noch nicht ausgestanden war. Aber ich zog sie an mich und drückte sie fest; ich fühlte, dass die Blätterteigtüte ihren Händen entglitt und ihren Inhalt über meine Hose entließ. Dafür konnte Almut nichts. Ich hielt sie zu fest. Ich wollte den letzten Exhibitionismus aus ihren Gliedern herauspressen. Gleichwohl war unser Einverständnis, da auf der Bank in Paris, so etwas wie eine Verlobung. Sie hatte mir gesagt, wie es um sie stand, wenn sie auch unaufrichtig gewesen war bezüglich der Zeit, und ich hatte trotz dieser Enthüllung an ihr festgehalten. Mir ging es wie ihr: Ich hatte nach langem Suchen endlich eine gefunden, die zu mir passte, und war jetzt nicht mehr bereit, Einwände zuzulassen. Wir taten so, als seien wir über alles erhaben. Übermütig gossen wir die Limonade auf den Rhododendron, der sich mit uns freuen sollte.

      Die Atmosphäre im Untergrund drückt mir auf die Schläfen, ich sollte nach Hause fahren. Was mich hält, ist der Geruch, der eine kräftige Schuhcremenote entwickelt hat. Ich wandere den Bahnsteig entlang und schnuppere. Seinerzeit, als das hier alles neu war, sind die Menschen nur so in die Tiefe geströmt; sie fuhren zur Arbeit, sie fuhren nach Hause, sie machten Besuche, sie kauften ein - alles mit der U-Bahn, und es war eine Freude, Schulter an Schulter in diesem Mutterleib-Verkehrsmittel auszuharren und seine Sorgen zu vergessen. Dann raus auf den Bahnsteig, hinein ins Gedränge, treppauf, treppab, und die Absätze brachen nur so von den Stiefeletten. Ende der zwanziger Jahre hat man U-Bahnzüge eingesetzt, die an die tausend Plätze boten - und sie blieben nicht leer. Heute dagegen... Mir scheint, es werden langsam immer weniger im Bauch der Stadt, sogar hier unterm Alex. In der Epoche des Autos sind U-Bahnhöfe historisch. Dazu passt, dass die Leutchen, die sich drunten versammeln, gar nicht so wirken, als läge ihnen was an Fahrt und Vorwärtskommen. Sie gleichen jenen hingestreuten Figürchen auf Städtebaumodellen, die nur dafür gedacht sind, das Modell zu beleben und der Phantasie des Betrachters dabei zu helfen, sich den Bahnhof oder


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