Fremde in der Nacht. Barbara Sichtermann

Fremde in der Nacht - Barbara Sichtermann


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schweigend, mit kleinen Bewegungen - genauso unbeteiligt, still und beiläufig wie die hölzernen Miniaturmenschen auf Städtebaumodellen. Die beiden lassen von dem Automaten ab und hocken sich auf den Boden. Der Kleinere zieht ein Taschenmesser raus und geht dessen Funktionen durch. Der Größere guckt sich um und pfeift - einen kurzen, juchzenden Pfiff, der, wie mir scheint, zum Zwischengeschoss hochsteigt und da verklingt. Jemand antwortet von oben mit einem ähnlichen Pfiff. Und gleich darauf turnt eine ganze Bande über die Treppe runter und gesellt sich zu ihren Kumpels. Die Neuankömmlinge sind nicht so ruhig wie die beiden Automatenknacker. Sie springen herum und schreien, einer singt, einer flucht. Nein, das sind keine Statisten auf einem Städtebaumodell, die hier in die Wirklichkeit fallen. Gerade will ich mich darüber wundern, wie dicht doch das Gelände der Berliner Verkehrsgesellschaft mit Jugendbanden besiedelt ist, als mir ein langes, dürres Reff ins Auge fällt, das eine Colabüchse schwenkt: die Medusa. Na klar, das sind sie, meine Pappenheimer. Warum merke ich das erst jetzt, ich Dummbeutel. Das kommt davon, wenn man zu lange im Untergrund rumlungert. Das Hirn funktioniert nicht mehr richtig - infolge Sauerstoffmangels.

      Na schön. Ziehn wir’s durch. Ich atme einmal schnaubend aus und drücke dabei Zwerchfell und Rippen nach innen - so kommt Kraft, kommt vor allem deren Anschein über mich. Ich trete vor die Gören hin, als gehörte ich zu ihrer Gang, mache dabei aber eine fast polizeiliche »Keine Faxen«-Geste mit der Hand. In Situationen wie dieser kann ich mich stets auf meine Stimme verlassen. Sie ist so tief und kräftig, dass sie überall durchdringt.

      »Wer von euch ist Karli Maaßen?«

      In der Tat - ein Sekundenbruchteil lang regiert der Schreck. Danach bricht Tumult los. Die lachen, grölen und biegen sich, als sei »Karli Maaßen« das Witzwort der Saison und ich ein Fernsehmoderator, der den Saal zum Kochen bringt. Grenanders türkise Kacheln werfen das Getöse hohl zurück. Ich verziehe keine Miene. Da springt die Medusa in die Höhe. Als sie vom Boden hochschnellt, überragt sie mich. Ihre Haarschlangen steigen kurz auf wie anklagende Finger. Sie kräht:

      »Ick bin - der Karli Maaßen!«

      Gebrüll von allen Seiten. Dieser Name, so schlicht er ist, scheint einen enorm komischen Effekt zu machen. Mir wird mulmig. Aber die Gereiztheit ist stärker. Und so ist der Griff, mit dem ich den echten Karl Maaßen, als ich ihn urplötzlich zu erkennen glaube, am Arm packe, ziemlich fest.

      »Anfassen is nich!« ruft der Schwarze mit gedämpftem Alarm in der Stimme, aber ich bin in Fahrt und kümmere mich nicht drum.

      »Du kommst sofort mit nach Hause«, donnere ich los, »Sonst passiert’s.«

      »Wat denn... wat denn?« schnattert der Kleine, dessen Kinn aus der Halterung rutscht. Da passiert’s wirklich, zwar nicht dem Karli, sondern mir und so überraschend, dass ich, der ich sonst gut reagiere, hilflos japse. Die Burschen müssen das trainiert haben, professionell. Zwei von ihnen schnellen mir ihre Absätze in die Kniekehlen, so dass ich einknicke und plump zu Boden rutsche; ein dritter, mir scheint der Schwarze, haut mir auf das Nervenknäuel oberhalb des Ellenbogens, so dass Karli freikommt, sich aber, als wolle er von mir nicht lassen, in mein Revers verkrallt. Einen Moment lang bin ich von den Füßen, Knien und Fäusten meiner Feinde regelrecht eingekeilt und unfähig, mich zu rühren. In diesem fiesen Moment beugt sich die Medusa über mich und spitzt die Lippen. Sie spuckt mich an. Eine Haarschlange berührt meine Stirn, ihre Finger streifen meine Brust. Jesus, was ist das hier für eine Show!

      Von der Treppe ertönt eine Stimme:

      »Was ist los?! He -!«, und es scheppert und rauscht. Der Zug fährt ein. Die Kids lassen von mir ab und türmen. Ich wende den Kopf nach meinem Retter. Er ist ein Fahrgast wie ich, ein vierschrötiger Herr. Er fragt:

      »Alles in Ordnung?«

      Ich nicke folgsam und sammle mein Köfferchen auf, das heil und vorhanden ist, immerhin. In der Tat tut nichts weh, nur der Musikknochen dröhnt, und in den Kniekehlen zieht’s, doch was Ernstes ist es nicht. Karli, wo steckt Karli? Die Gang ist in die U-Bahn abgetaucht, der Schwarze hängt noch in der Tür, mit dem Rücken nach draußen, er winkt mir zu. Die Abfertigerin plärrt ihr »Zurückbleiben!«, der Zug braust raus. Ich schüttle entgeistert den Kopf. Über die Bande? Über Karli? Nein, über mich. Ich wische mir den Speichel der Medusa vom Kinn.

      Jetzt täte mir Leos Gesellschaft gut, also beeile ich mich, ans Tageslicht zu kommen und in die Reichweite einer Telefonzelle. Leo ist mein Freund. Er ist sogar mein Schicksal. Er war es, der mir meinen ersten Vertreterjob vermittelt, mich mit dem Spaß am Geldverdienen angesteckt und mich alles gelehrt hat, was ich fürs Berufsleben brauche. Auch dass ich das Studium aufgegeben habe, ohne es länger als ein paar Wochen zu bereuen, verdanke ich ihm, meinem Vorbild. Er ist zweifellos intelligenter als ich und als Vertreter zufrieden. »Du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen«, sagte er. »Als Luxus ist es in Ordnung. Aber als Berufsvorbereitung? Der Mensch, der heute im Arbeitsleben vorankommen will, muss vor allem eins können: verkaufen. Und genau da liegt dein Talent.« Ich war stolz, dass er an mich glaubte. Er tut es immer noch. Und ich, ich glaube an ihn.

      Viel haben wir nicht gemein. Mit Modelleisenbahnen hat Leo, auch wenn er mich mit Spott verschont, nichts im Sinn. Schwimmen und Radfahren bedeuten ihm nichts. Und dass meine Ehe mit Almut schon nach kurzer Dauer in die Krise geriet, kreidet er mir als Schwäche an. Na schön, auch als Ehemann ist er der Begabtere, aber das ist keine Kunst bei Magdalena. Sie, Leos Frau, ist eine blonde Polin mit Stupsnase und Wespentaille, und ihre Freundlichkeit ist unerreicht. Das Paar hat zwei Kinder. Der fünfjährige Lukas ist mein Patensohn und gibt überall mit mir an. Wer hat schon einen »Onkel« mit Eisenbahn? Laura ist erst ein paar Wochen alt und Leos ganzes Glück.

      Leo und ich sind Kollegen, wir arbeiten beide für die KWP-Versicherung und müssten Konkurrenten sein, aber bis jetzt hat sich da nichts verschärft. Manchmal schlucke ich, wenn er einen dicken Fisch an der Angel hat, während sich bei mir gar nichts tut, und manchmal schielt er, wenn Kopelke, unser Verkaufsleiter, mir ein Extralob spendet und mich zur Schulung der Neulinge einteilt, weil mein pädagogisches Können mehr gilt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im großen und ganzen halten wir zueinander.

      Erleichtert wird uns das, weil er älter ist und schon im Geschäft war, als wir uns kennenlernten. Das ist sieben Jahre her, aber unser Meister-Schüler-Verhältnis, von Sympathie und Ironie durchwirkt, ist geblieben, wie es war. Bestimmt hat’s auch damit zu tun, dass ich nicht allzu neidisch bin. Prämienmäßig habe ich Leo längst nicht eingeholt - ich akquiriere immer noch Kleinkram, während er mit Betrieben verhandelt. Aber ich hab’s nicht eilig mit dem ganz großen Geld. Almut war mit meinem Einkommen zufrieden; und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, leg ich ganz schön was zurück. Eine Modelleisenbahn verschlingt eben nicht so viel wie eine Familie. Obwohl sie, die Bahn, schon ein ordentlicher Kostenfaktor ist. Nichtkenner reißen die Augen auf, wenn ich verrate, was ich jährlich verpulvere. Seit Juni dieses Jahres gibt es den ICE im fertigen Modell. Die Preise?

      Astronomisch. Ich werde warten, bis die ersten Exemplare gebraucht zu haben sind. Sofern Lukas mich lässt. Er drängt schon.

      Leo hat vorgeschlagen, dass ich zu ihm nach Neukölln komme und wir zwei uns bei einem Gläschen erholen. An sich bin ich kein Kneipenhocker. Aber wenn ich mit Leo allein sein will, lässt es sich anders nicht machen. Bei Dittrichs zu Hause ist es ziemlich eng, und ich mag Lukas nicht abweisen, wenn er kommt und mich bestürmt, ich solle ihm eine Dampflok zeichnen. Also klingle ich Leo runter.

      Er kommt im offenen Hemd, den Schlüssel in der Hand, sich mit der freien Hand den Nacken kratzend. Sonst tritt er - das ist berufsbedingt - stets formvollendet auf. Diese Hitze kocht uns alle weich. Statt des üblichen »Na, Junge!« sagt er nur schnaufend: »Na-«. Ich klopfe seinen Ellenbogen.

      Ein paar Minuten später sitzen wir im Shangri-La, einer Pinte, die drei verschiedene Versionen chinesischen Huhneintopf anbietet, aber auch Gäste willkommen heißt, die nur trinken wie wir. Ich halte es mit Frankenwein. Leo trinkt Bier. Er sieht geschafft aus. Seine Sorgen gelten zur Zeit seinem Geburtstag.


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