Angst am Abgrund. Ben Faridi

Angst am Abgrund - Ben Faridi


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Vermutlich wurde er also in der Nähe getötet. Wir haben aber noch keine Anhaltspunkte, wo das hätte sein können. Entweder war das ein sehr raffinierter Auftragskiller oder jemand, den Jefferson kannte.«

      In diesem Moment wurde der Hauptgang serviert, ein gegrillter Schwertfisch, garniert mit Zitronen und etwas Gemüse. Der neue Gang führte auch zum Themenwechsel.

      »Wie geht es Ihrer Cousine?«, fragte Baptista. »Hat sie die Geburt gut überstanden?«

      »Danke der Nachfrage. Sie war natürlich noch geschwächt, aber wohlauf. Ihre Mutter, also meine Schwester, hilft ihr.«

      »Was ich fragen wollte: Sind Hausgeburten hier eigentlich üblich?«

      »In Italien insgesamt eher nicht. An der Amalfiküste sind sie häufiger, weil die Fahrt in ein gut ausgestattetes Krankenhaus nach Salerno oder Neapel für eine Schwangere über die Bergstraßen risikoreich sein kann. Als Verkehrspolizist habe ich schon mehrfach beobachtet, wie ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht nicht vorankam, weil sich zwei Busse an einer Haarnadelkurve rangierunfähig verkeilt hatten.«

      Baptista runzelte die Stirn. Wieder kam dieses Gefühl von Panik auf, eingeschlossen in einer steilen abweisenden Felslandschaft. Er wischte den Gedanken zur Seite und genoss den vorzüglichen Schwertfisch. Nach dem üblichen Caffè zum Abschluss des Essens bekamen sie noch einen hausgemachten Limoncello serviert.

      »Macht mein Bruder aus eigenem Anbau«, sagte Francesco sichtlich stolz. »Früher haben wir in der ganzen Familie Landwirtschaft betrieben. Aber seit dieses standardisierte Eurogemüse den Markt überschwemmt, lohnt es sich nicht mehr.«

      Sie fuhren in tiefer Nacht nach Amalfi zurück und Baptista legte sich sofort schlafen. Mehrfach schreckte er aus Albträumen auf, die er auf das reichliche Essen schob. Schließlich blieb er mit offenen Augen liegen und sah, wie die Morgenröte gegen sechs Uhr an der Zimmerwand hinaufwanderte und rasch zu einem gleißenden Gelb wurde.

      Dienstagvormittag, 4. September

      Völlig übermüdet stand Jao Baptista auf. Als er sich selbst im Badezimmerspiegel betrachtete, bekam er einen Schreck. Seine Augen waren gerötet und seine Haut wirkte beinahe grau. Er stellte nüchtern fest, dass die Reise ihm nicht gut bekam. Vielleicht war er auch einfach schon zu alt, dachte er bei sich. Aber seine jüngeren Kollegen waren noch nicht so erfahren wie er.

      Um halb acht war er mit Gianluca in der nahe gelegenen Bar zum Frühstück verabredet. Als Jao Baptista nach einigen Minuten einen Caffè mit einem der leckeren Cornetti in seinem Magen hatte, fühlte er sich wieder erstaunlich gut.

      »Wie sollen wir beginnen?«, fragte Gianluca.

      »Mit dem Tatort und der Leiche«, antwortete Jao sofort.

      Er würde niemals mit etwas anderem starten.

      »Die Gerichtsmedizin hat bis zwölf Uhr geöffnet. Danach wieder ab fünf Uhr. Am besten, wir fahren erst nach Agerola und laufen ein wenig den Sentiero degli Dei entlang. Das wird etwas anstrengend sein und dauern. Danach erholen wir uns ein wenig und sind nachmittags in der Gerichtsmedizin.«

      Baptista nickte.

      »Am Freitag und Samstag«, fuhr Gianluca fort, »muss ich mich um die Taufe kümmern. Dann kann dich ein Kollege begleiten.«

      Wieder nickte Baptista. Er würde sich noch einen Plan für die nächsten Tage aufstellen. Sie stiegen in den Fiat Punto und fuhren Richtung Agerola. Die engen Haarnadelkurven führten zügig vom Ufer nach oben. Schnell wurde Höhenmeter um Höhenmeter überwunden.

      »Noch vor fünfzig Jahren«, erzählte Festevola, »waren einige kleinere Dörfer hier an der Küste lediglich über Treppen mit der Außenwelt verbunden, beispielsweise Pergola. Und auch heute noch sind die Treppen für einige Verbindungen viel kürzer als die Straßen. Von Amalfi bis hierher nach Furore, wo wir gerade durchfahren, sind es tausend Stufen.«

      Baptista wollte etwas sagen, hielt dann aber inne, weil ihm wieder übel wurde. Nach einer Viertelstunde kamen sie am Ortsrand von Agerola an. Festevola steuerte zielsicher auf eine Bar zu, um seinen zweiten Caffè zu sich zu nehmen. Baptista trank einfach ein Glas Wasser.

      »Wie groß ist Agerola?«, fragte er.

      »13.000 Einwohner. Im Gegensatz zu der überlaufenen Küste verirren sich hier nur wenige Touristen hin. Es ist ein richtiges Bergdorf. Die Hänge sind terrassiert und werden landwirtschaftlich genutzt. Aber das siehst du gleich selbst.«

      Wieder stiegen sie in den Fiat und fuhren ein kurzes Stück durch enge Dorfstraßen. Die Seitenspiegel klappte der Polizist gleich zu Beginn ein. Am Ende der Straße gab es zwei Parkplätze und sie stiegen aus.

      »Jetzt laufen wir besser ein Stück.«

      Sie überquerten einen Bach über eine alte Holzbrücke. Einige Schilder zeigten den Wanderern, dass sie nun auf dem Sentiero degli Dei wandelten und bis in das sieben Kilometer entfernte Positano gehen könnten. Die ersten Stufen ließen das Spektakel noch nicht erahnen. Doch plötzlich wurde der Blick in ein steil abfallendes Tal frei. Weit unten konnte man das Meer erkennen und neben ihnen türmten sich Felswände bis in den Himmel auf. Einige Hunde kläfften.

      Sie liefen einen Feldweg entlang, bis ein rotweißes Polizeiband die Unglücksstelle markierte. Dort endete auch der Feldweg und ein kleiner Pfad begann sich am Berg entlangzuschlängeln und verschwand entfernt hinter einem Berg.

      »Ist Jefferson häufig gewandert?«, fragte Baptista.

      »Auf jeden Fall war er ein sportlicher Mann. Das wurde uns in seinem Hotel von den Angestellten so gesagt.«

      »Wo befindet sich denn das Hotel?«

      »In Ravello. Fünf-Sterne-Luxusklasse. Wir könnten heute Abend dorthin und in dem Ristorante speisen – allerdings nur, wenn Sie es auf die Spesenrechnung setzen dürfen.«

      Das Handy von Festevola klingelte.

      »Pronto. Si … einen Moment.«

      Er gab Baptista ein Zeichen, dass er kurz telefonieren müsste. Der Commissario ging vorsichtig an den steilen Rand und blickte auf die Absturzstelle hinunter. In seinem Kopf stellte er sich Jefferson vor, wie er mit einem gepflegten Anzug aus einem teuren Wagen ausstieg, begleitet von seinem Mörder. Sie liefen langsam den Pfad entlang und sprachen über Geschäfte. Der Abendwind pfiff um ihre Ohren und der würzige Geruch von verbrannten Feldabfällen lag in der Luft. Jefferson merkte nicht, wie sich sein Gesprächspartner etwas zurückfallen ließ und einen Revolver aus seiner Jacke zog. Übertönt durch die Windgeräusche fiel ein gedämpfter Schuss. Jeffersons Begleiter schnitt der Leiche die Finger ab, stach die Augen aus und stieß den Körper den Abhang hinunter. So könnte es abgelaufen sein.

      Für Baptista wirkte der Ablauf wie ein Ritual. Würde man sonst diesen Ort für einen Mord aussuchen. »Der Weg der Götter«, gibt es einen größeren Symbolcharakter?

      Jao zuckte zusammen, als Gianluca plötzlich hinter ihm auftauchte. Er stolperte ungelenk auf den Abgrund zu, knickte mit dem Fuß um und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ein Augenblick schwindelte ihn und er dachte, dass er in die Tiefe stürzen würde. Aber nichts geschah. Er ließ die Brüstung wieder los.

      »Hast du dir weh getan?«, fragte Gianluca erschrocken und sprang zu Jao.

      »Nein, nein. Es geht schon.«

      Humpelnd stand Jao auf und wehrte die Stützversuche von Gianluca vehement ab. Mit jedem Schritt zum Wagen zurück spürte er jedoch, wie sein Knöchel anschwoll. Er hatte ihn gestaucht und es würde einige Tage dauern, bis er wieder schmerzfrei gehen konnte. Er biss sich vor Schmerz und Wut auf die Lippen.

      Dienstagmittag, 4. September

      Das Mittagessen könne man gut bei seiner Cousine bekommen, schlug Festevola vor. Baptista nickte lediglich, weil er innerlich mit seinem Knöchel beschäftigt war. Er würde sich aufblähen wie ein Luftballon. Wie sollte er damit die Treppenstufen zu seinem Apartment überwinden, geschweige denn die Zugänge zum Tatort?


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