Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther
und ihren eigenen Zielen abzurücken.« Als Ziel der Volksfront wiederholte die Präambel den gemeinsamen Schwur vom 14. Juli: »Wir schwören, die demokratischen Rechte zu verteidigen, um den Arbeitern Brot, der Jugend Arbeit und der Welt den großen Frieden unter den Menschen zu geben.« Hammer und Sichel für die Kommunisten, drei Pfeile für die Sozialisten und die Jakobinermütze für die Radikalen schmückten fortan nebeneinander gemeinsame Flugblätter, Plakate und Transparente im Wahlkampf.
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 26.4. und 3.5.1936 errangen die Sozialisten 149, die Radikalen 111 und die Kommunisten 72 Sitze und bildeten die demokratisch einwandfrei legitimierte Volksfront mit 160 Sitzen Vorsprung vor der konservativ-rechtsradikalen Opposition.
Dieses Wahlresultat löste zuerst eine soziale Explosion und dann eine kulturelle Revolution aus. Zwischen dem Wahlsieg im Mai und dem Regierungsantritt des Sozialisten Léon Blum (1872-1950) lag ein Monat mit einer Welle von Streiks gegen die noch amtierende, alte Regierung. Die rechts stehenden Patrons heizten die Stimmung noch an, als sie Arbeiter entließen, die am 1. Mai nicht zur Arbeit erschienen waren. Die Streiks breiteten sich wie ein Flächenbrand aus. Völlig neu war, dass die Arbeiter nicht vor oder an den Werkstoren streikten, sondern die Betriebe tagelang besetzten. Es gab keine Plünderungen und keinen Vandalismus. Mit Vergnügungsveranstaltungen und Kartenspielen vertrieben sich die Arbeiter die Zeit. Wie spontan die Streiks abliefen, zeigt das Beispiel der Kaufhauskette Prisunic, deren nicht organisierte Verkäuferinnen die Arbeit niederlegten, zum Gewerkschaftshaus marschierten und dort nachfragten, was sie machen sollten. Einschlägig beraten, kehrten sie in die Kaufhäuser zurück, blieben dort und wurden von ihren Angehörigen mit Lebensmitteln versorgt.
Die pazifistische Syndikalistin Simone Weil (1909-1943), die als Lehrerin, aber auch als Fabrikarbeiterin gearbeitet hat, beschrieb die Stimmung mit einem Pathos, das weit verbreitet war: »Nachdem die Masse während Monaten und Jahren stets schweigend gebeugt, alles erduldet und eingesteckt hat, wagt sie es endlich, sich aufzurichten. Aufrecht zu stehen. Selbst das Wort zu ergreifen. Einige Tage lang das Gefühl haben, ein Mensch zu sein. Gänzlich unabhängig von den Forderungen ist dieser Streik an sich eine Freude. Eine reine Freude. Eine ungemischte Freude.«
Als Léon Blum am 4.6.1936 die Regierung übernahm – mit drei Frauen als Staatssekretärinnen im Kabinett, die nach damaligem Recht noch nicht einmal das Wahlrecht hatten! –, hörten die Streiks nicht auf und die Erwartungen wie die Stimmung schossen ins Kraut. Léon Blum, 1872 als Kind einer bürgerlich-jüdischen Familie in Paris geboren, war ein brillanter Journalist. Bereits als junger Mann kämpfte er für die Rehabilitation von Alfred Dreyfus. 1923 sprach er sich gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets aus. Zeitlebens war er das Ziel rüder antisemitischer Angriffe. Charles Maurras, Mitbegründer der »Action Française«, hetzte 1934, man müsse Blum »als Juden sehen (…) und zur Strecke bringen.« Das Vichy-Regime lieferte ihn 1940 den Nazis aus. Er überlebte die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, war 1945/46 nochmals Ministerpräsident und starb im März 1950 in der Nähe von Paris.
Die Regierung Blum erweckte beim Amtsantritt im Sommer 1936 große Erwartungen. Der linke Sozialist Marceau Pivert schrieb unter dem Titel »Alles ist möglich«: »Die Massen (…) werden sich nicht mit einem dünnen Kräutertee, der zögernden Schrittes an das Krankenbett der leidenden Mutter gebracht wird, begnügen.« Und Leo Trotzki feuerte seine Genossen in Frankreich mit einer Ferndiagnose aus Norwegen an: »Die französische Revolution hat begonnen.«
Aus der Nähe sah die Situation etwas anders aus. Weil auch die Bergarbeiter streikten, gingen buchstäblich Lichter und Öfen aus. Maurice Thorez mahnte die eigenen Genossen, aber auch die streitlustigen linksradikalen Gruppen, am 9.6.1936: »Gegenwärtig steht die Machtfrage nicht zur Debatte. (…) Man muss imstande sein, einen Streik dann zu beenden, wenn die Forderungen erfüllt sind.« Sprach Thorez noch zwei Jahre zuvor vom »sozialdemokratischen Sumpf«, so tönte es jetzt ganz zahm: »Wir reichen Dir die Hand, Katholik, Arbeiter, Angestellter, Handwerker, Bauer, (…) weil Du unser Bruder bist.« Léon Blum wies darauf hin, dass es keine »proletarische Mehrheit«, sondern eine »Mehrheit der Volksfront« gebe.
Die Volksfront-Regierung von Sozialisten und bürgerlichen Radikalen arbeitete effizient und unglaublich schnell. Die Kommunisten waren an der Regierung nicht direkt beteiligt, sondern beanspruchten für sich »eine Art Ministerium für die Massen« (Paul Vailant-Couturier). Am 7. Juni, drei Tage nach Amtsantritt, moderierte Blum die nach seinem Amtssitz benannte »Matignon-Vereinbarung« zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Drei von über einem Dutzend Reformvorhaben waren schon zwei Tage später in der parlamentarischen Beratung und wurden noch im Juni realisiert: Zwei Wochen Urlaub ohne Lohnausfall für alle, Reduktion der Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden und verbindliche Tarifverträge. Bis zum August folgten, um nur einige Projekte zu nennen, die Verabschiedung der Rentenreform, die staatliche Kontrolle der Getreidepreise, die Verlängerung der Schulzeit, die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie, die staatliche Überwachung der Banque de France sowie Urlaubsfahrkarten zu ermäßigten Preisen. Léon Jouhaux, Chef der CGT, sah in den greifbaren Leistungen für acht Millionen Arbeitende einen Beleg dafür, »dass kein totalitärer oder autoritärer Staat nötig ist«, um aus der Krise herauszukommen. Vergleichbares schuf keine Regierung zuvor und danach – und schon gar nicht in nur 80 Tagen.
Am 14.7.1936 feierte das Volk tanzend seinen Sieg. Vier Tage später putschte General Franco in Spanien, was nicht nur den Bürgerkrieg auslöste, sondern auch Spannungen in der Volksfront-Koalition. Die Kommunisten wollten den bedrängten Republikanern in Spanien schwere Waffen und Flugzeuge liefern, so wie Hitler und Mussolini den Putschisten. Die Radikalen waren dagegen, und Blum lavierte zwischen dem Verbündeten England, das ultimativ eine Politik der »Nichtintervention« verlangte, und der Duldung des Schmuggels wenigstens von leichten Waffen.
Die Lage blieb politisch und wirtschaftlich prekär. Zwar gab es 1935 nur 28 Tarifverträge, zwei Jahre später indes schon über 4000. Aber es ist auch richtig, dass die kräftigen Lohnerhöhungen von 7-15 Prozent von der Inflation wieder zunichte gemacht wurden, dass die Produktion nur langsam wuchs, dass die Arbeitslosigkeit nicht verschwand und dass die Arbeitgeber die 40-Stunden-Woche nach dem ersten Schock unterliefen. Kapitalflucht und Abwertung schwächten die Wirtschaft.
Blum hat das Regierungssystem der Dritten Republik (1870-1940) wenige Jahre vor ihrem schändlichen Ende modernisiert. An die Stelle einer auf Kungelei beruhenden »Republik der Abgeordneten« schuf er eine dem Parlament verantwortliche Koalitionsregierung. Leitete vor ihm der »Präsident des Rates« als primus inter pares nur die Sitzungen des »Ministerrats« und verwaltete ein Fachressort wie alle anderen Minister, so bezeichnete sich Blum als Premierminister. Er hatte kein Ressort und koordinierte zusammen mit zwei Staatssekretären die gesamte Regierungsarbeit von seinem Generalsekretariat aus.
Trotz der schwierigen politischen Lage brach in Frankreich ein Taumel aus – »L’esprit de 36«, der Geist von 36, tanzte. Es »ändert sich die Lust am Leben«, und »das Blut fließt schneller in einem verjüngten Körper« (Léon Blum). Streiks, Demonstrationen und Fabrikbesetzungen stärkten das Selbstbewusstsein der Arbeiter. Dem Kampfruf des Arbeitgeberpräsidenten Claude Gignoux – »Patrons, seid Patrons!« – setzten die Arbeiter ihr stolzes »Genosse, Du bist nicht allein!« entgegen. Die Streiks ebbten ab, blieben aber eine Dauereinrichtung, was die Zahl von 10 000 staatlich moderierten Schlichtungen bis 1939 belegt. Frauen und Kinder hatten zum ersten Mal Anteil am politischen Leben – Demonstrationen wurden zu Familien- und Volksfesten. Arbeiterfamilien entdeckten den Sport, das Camping, die Berge und die Strände. Der Zugang zu Kultur und kulturellem Erbe wurde von Volkstheatern, Volksbibliotheken und anderen Einrichtungen demokratisiert. Jugendherbergen ermöglichten es Heranwachsenden, Ferien autonom zu gestalten. Die CGT bestellte bei Jean Renoir einen Film (»La Marseillaise«), der zum Film des Volkes für das Volk wurde. Paul Nizan kommentierte Lichtbilderveranstaltungen unter freiem Himmel, Louis Aragon leitete die »Maison de la culture«, André Malraux berichtete über den Bürgerkrieg in Spanien, Charles Trenet und Jean Gabin wurden zu Volkssängern bzw. -schauspielern. Neue Formen des Lebens und Handelns »haben die Physiognomie der Nation dauerhaft verändert« und »es war eine kulturelle Revolution«, stellt die Pariser Historikerin Danielle Tartakowsky fest.
Die staatlich geförderten Freizeitaktivitäten (Sport, Wandern,