Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3 - Rudolf Walther


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moderne Frankreich« (Gambetta) vermuteten. Im März 1879 präsentierte der Erziehungsminister Jules Ferry zwei Schulgesetze. Eines enthielt einen Paragraphen, wonach im öffentlichen wie im kirchlichen Bildungswesen nur unterrichten durfte, wer einem staatlich zugelassenen Orden angehörte. Autorisiert waren damals nur fünf Orden. Diese Bestimmung wurde zurückgenommen und ersetzt durch die Vorschrift für kirchliche Lehranstalten, sich staatlich genehmigen zu lassen, ansonsten sie innerhalb eines halben Jahres geschlossen würden. Die katholische Presse empfand das als Kampfansage: »Ab heute gibt es einen unversöhnlichen Krieg zwischen Katholiken und den Umstürzlern, die uns regieren«, schrieb eine Zeitung.

      Die Ordensgemeinschaften weigerten sich einfach, Genehmigungen für ihre Schulen zu beantragen. Der Staat begegnete dem passiven Widerstand damit, dass er im Juni 1880 zunächst 5643 Jesuiten auswies und 261 Klosterschulen schloss. Rund 200 Beamte, die sich den Gesetzen widersetzten, verloren ihre Stelle. Im Juni 1881 und im März 1882 trat Jules Ferrys bis heute berühmte Schulreform in Kraft, wodurch der Schulunterricht für alle Kinder unentgeltlich und obligatorisch wurde. Obendrein sollte im Unterricht das Prinzip der Laizität gelten und eine »moralische und staatsbürgerliche Erziehung« eingeführt werden. Ferry wollte Kinder – entgegen der Behauptung katholischer Propagandisten – keineswegs zu Materialisten und Atheisten erziehen lassen. Sein Ziel war bescheiden: In den Schulzimmern mussten nur die Christusbilder durch jene von Marianne ersetzt werden. Der schulische Religionsunterricht sollte zudem durch »die gute alte Moral unserer Väter« und die Ethik Kants abgelöst werden. Ferry dachte sich die Schule als Ort »ziviler Eintracht«, aus dem er religiöse Zänkerei ebenso verbannen wollte wie ethischen Gesinnungsdruck und fromme Indoktrination – in seiner schlichten Diktion: allein »Unterrichtsfreiheit« sollte herrschen.

      Es ging den Republikanern weniger um die Verbannung der Religion als darum, die Schule gegen klerikale und monarchische Versuchungen patriotisch und national zu imprägnieren. Die Institution sollte gleichsam geimpft werden gegen Viren der Vergangenheit. In der verbogenen Perspektive der Klerikalen wurde der Lehrer dadurch zum Ersatepriester und »König der Republik«. Aus der Defensive heraus ließ die republikanische Regierung für die Feiern des Quatorze Juillet Schülerbataillone aufmarschieren. Die konservative und klerikale Presse denunzierte die Erinnerung an die Revolution pauschal als Feier zum »Fest der Morde«.

      Jene Teile des Klerus, die Eltern gegen »das verbrecherische Gesetz« mobilisierten, setzten sich dadurch ebenso dem Verdacht aus, unpatriotisch zu sein wie die moderateren, die »die Freiheit der Erziehung« oder das Elternrecht betonten. Doch die Wogen glätteten sich in dem Maße, wie sich Kirche und Staat in den 90er Jahren einander annäherten. Entspannung schuf zuerst der Bischof von Algier am 12.11.1890, als er in einem Toast vor versammelten Offizieren dazu riet, die Republik zu achten. Anschließend ließ er die Marseillaise spielen – von einem kirchlichen Musikkorps! Auch Papst Leo XIII. zielte mit der Enzyklika »Inter Sollicitudines« (16.2.1892) auf Befriedung. Dem Papst zufolge sollte jeder in seinem äußeren Verhalten »das Regime akzeptieren, das sich Frankreich gegeben hat«, und durfte aber im Innern darüber denken, was er wollte – eine gesichtswahrende gegenseitige Anerkennung im Dissens.

      Das laue Klima änderte sich schlagartig mit der Dreyfus-Affäre. Der jüdische Offizier wurde 1894 verhaftet und in einem skandalösen Verfahren wegen Landesverrat von einem Militärgericht zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Nichts und niemand rührte sich zunächst, weil Dreyfus’ Schuld erwiesen schien, obwohl die Anklage nur ein Beweisstück vorgelegt hatte. Mitten im Prozess lancierte der Generalstab ein weiteres Indiz, das sich bald ebenso als Fälschung erwies wie das erste. Der Generalstabsoffizier Marie-Georges Picquart und der Journalist Bernard Lazare deckten unabhängig voneinander die Machenschaften des Militärapparats auf. Im Januar 1898 griff der Schriftsteller Émile Zola mit seinem »J’accuse« in den Fall ein. Dreyfus wurde in einem zweiten Prozess 1899 nochmals verurteilt, 1902 begnadigt und erst 1906 vollständig rehabilitiert.

      Gegenüber den 80er Jahren hatten sich die Fronten völlig verschoben: Nun stand den Republikanern ein konservativklerikales Lager gegenüber, das sich im Zeichen von aggressivem Nationalismus und Antisemitismus für die Ehre von Nation und Armee schlug. Nationale Vortrommler wie Maurice Barrès spielten »das umfassendere System der Rasse« und die Bindung an »die Scholle und die Ahnen« ebenso gegen republikanische Freiheit und demokratische Gleichheit aus wie sein Mitspieler Charles Maurras den »pays réel« gegen den »pays légal«. Maurice Muret schließlich erklärte »die Mentalität des modernen Juden« zum Todfeind des Katholizismus. Damit konnte der Laizismus nicht länger patriotisch-national, sondern nur noch demokratisch, republikanisch, sozialistisch und antimilitaristisch auftreten. Die Verteidiger von Dreyfus wurden in den Augen der Nationalisten, Antisemiten, Klerikalen und des Militärs über Nacht zu »Heteern der Unordnung, antikatholischen Sektierern und Vaterlandslosen«.

      Erst im Verlauf der Dreyfus-Affäre spürten die Republikaner, dass in den 90er Jahren in den Schulen eine schleichende Rückkehr zur Konfessionalisierung der Schule stattgefunden hatte. Sie glaubten noch wie Jules Ferry, »Lesen« sei »der Anfang von allem« und aus den Lesern würden automatisch republikanische Wähler. Sie vernachlässigten deshalb nicht nur soziale Reformen, sondern übersahen obendrein, dass – zivil verkleidet – längst wieder zahllose klerikale Lehrer in privaten und öffentlichen Schulen unterrichteten. Schon 1893 besuchten 89 568 Schüler kirchliche Gymnasien – rund 51 Prozent aller Gymnasiasten. Der Sieg der Republik in der Schule war einer auf dem Papier. Schon in einer Grundsatzerklärung von 62 Bischöfen aus dem Jahr 1891 für »das christliche Frankreich« kam das Wort Republik gar nicht vor. Zwischen 1896 und 1898 wurden Ordensgemeinschaften als Schulträger wieder zugelassen und die vorgesehene Verstaatlichung von Mädchenschulen auf Eis gelegt. Freilich war auch der Katholizismus kein homogener Block von reaktionären Ultras. Unter den liberalen und sozial-liberalen Katholiken ragte der Schriftsteller Charles Péguy heraus, der sich 1898 auf Dreyfus’ Seite stellte, weil er sich sein »Vaterland nicht durch eine Lüge entehren« lassen wollte.

      Die verschiedenen Gruppierungen der Radikalen formierten sich 1901/02 zu Parteien, um vereint »den Klerikalismus zu bekämpfen und die Republik zu verteidigen«, wie es im Programm hieß. Zusammen mit den sozialistischen Parteien bildeten sie ab 1902 den »Block«. Das Land wie das Parlament waren in zwei Lager gespalten – die klerikal-nationalistische Koalition und den »Block« aus linken und rechten Republikanern sowie Sozialisten – ein Erfolg von Émile Combes. Er übernahm das Präsidium des Ministerrats nach dem Wahlsieg vom 11.5.1902 und wurde zugleich Innen- und Kultusminister.

      Combes stammte aus Südwestfrankreich, wurde in einem Priesterseminar ausgebildet, wandte sich aber von der Kirche ab und – wie viele aus der Elite der radikalen Politiker – den Freimaurern und Freidenkern zu. Zunächst war er Bürgermeister in Pons, später Senator. Combes bemerkte, dass Ferrys Ruf nach »Unterrichtsfreiheit« den Radikalen längst entwunden worden war. Konservative und Klerikale benutzten das Wort im Kampf gegen die Republik und den »laizistischen Staat, (…) seine Gesetze und seine Souveränitätsrechte« (Combes, 6.10.1902). Er ließ deshalb das Lieblingsbuch aller Schüler – »Tour de France par deux enfants« – ins Republikanisch-laizistische umschreiben. In der Schulgrammatik war jetzt nicht mehr Gott, sondern Paris groß. Sozialisten, mit Ausnahme von Jean Jaurès, hatten zunächst wenig Verständnis für Combes und warfen ihm vor, er wolle das Land mit dem »Appetit nach Freiheit« mit »Mönchsragout« abspeisen.

      Bereits nach dem Vereinsgesetz von 1901 mussten sich Ordensgemeinschaften genehmigen lassen; Mitglieder nicht genehmigter Orden durften nicht länger unterrichten. Im Gegensatz zu früheren Einschränkungen gegen religiöse Schulen und Lehrer setzte Combes nun alles daran, das neue Gesetz auch umzusetzen. Orden erhielten keine Genehmigungen mehr und nicht zugelassene wurden sofort aufgelöst. Bis Oktober 1902 mussten etwa 30 000 Ordensleute ins Exil, 10 000 Schulen wurden geschlossen. Viele Schulen existierten unter weltlicher Leitung fort. Der radikale Politiker und Sorbonneprofessor Ferdinand Buisson stellte 1903 fest: »Die bürgerliche Gesellschaft hat die Leitung aller öffentlichen Dienste wieder übernommen.«

      Der Jubel war verfrüht, denn der katholische Widerstand gegen »die freimaurerisch-jakobinisch-sozialistische Tyrannei« (Jacques Piou) und die laizistische Schulpolitik gingen weiter. Am 5.7.1904 erließ Combes ein generelles Lehrverbot für die Mitglieder aller Orden – auch der


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