Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther
Erfindung der Schienenbahn« gegenüber dem Straßenverkehr bevorzuge. Während des Kalten Krieges rückten Autobahn und Motorisierung zu Synonymen für Unabhängigkeit und Freiheit auf, bei Werner Mackenroth, einem Vorstandsmitglied der »Deutschen Straßenliga«, wuchsen sie zu »elementaren Naturgewalten. Selbst in Notzeiten, wenn Menschen nicht mehr Wein, sondern Wasser trinken und statt Kuchen Brot essen, werden sie Automobil fahren.« Für die ADAC-»Motorwelt« war »unser Automobil« schon 1948 »ein kleines Haus auf Rädern, (…) ein Heim, in dem wir uns viele Stunden des Tages aufhalten«. Eugen Diesel, ein Sohn des Erfinders des Diesel-Motors, ging 1956 ins Grundsätzliche: »Wir sind nun einmal – sehen wir es getrost biologisch – durch eine Symbiose mit dem Automobil zu Lebewesen geworden, die auf Räder gesetzt sind.« Prälat Caspar Schulte war 1958 »als Christ unterwegs« auf deutschen Autobahnen und bog ab ins Theologische: Er erklärte »Auto und Motor« zu »Helfern des großen Menschseins«, die Christen obendrein zu »Optimisten des Autos«. Jeder Tote auf der Autobahn, hupt ein anderer frommer Autor der automobilen Gemeinde ins Ohr, ist auch »ein Glockenklingen aus der Ewigkeit«. Amen. An diese »Bruderschaft der Straße« dürfte wohl auch der ehemalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) gedacht haben, als er 1995 von der Pächterin einer Raststätte als der »Mutter der Autobahn« in der »Autobahnfamilie« sprach. Das Ende der Bescherung?
2 1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich
Im Februar 1906 herrschten im nördlichen und nordwestlichen Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände, in deren Verlauf im flandrischen Städtchen Boeschèpe ein Mensch ums Leben kam. Die Bauern und kleinen Leute griffen zu Gabeln, Sensen, Pickeln und ähnlichem Gerät, um »ihre« Kirche vor den staatlichen Steuereinnehmern zu schützen. Diese sollten die Kirchengüter inventarisieren, um sie danach zu sozialisieren. Genau genommen tobten damals zwei Kriege gleichzeitig: jener gegen die Erfassung der Kunstwerke und »die Öffnung der Tabernakel«, der Schreine, in denen die Hostie aufbewahrt wurde, sowie jener »zwischen Priestern und Lehrern«, die um die Seelen und Köpfe der Kinder fochten. Das Land erlebte die dramatische Endphase der Trennung von Kirche und Staat – eines unerbittlichen Kampfes, der im 18. Jahrhundert mit Voltaire und der Aufklärung begann, und im Mai 1902 mit der von Émile Combes (1835-1921) geführten Regierung dem Höhepunkt zutrieb. Das Jahr 1902 war das Schlüsseljahr, das direkt auf die rechtliche Trennung von Kirche und Staat drei Jahre später vorauswies.
Die Gegner von Combes Regierung bezeichneten diese als Herrschaft des »Antiklerikalismus«. Dieser Neologismus schloss sich an das 1852 erstmals nachgewiesene Adjektiv »antiklerikal« an. Combes selbst und seine Leute verstanden sich als Laizisten und ihr Programm war die laizistische Republik. Mit der Revolution von 1789 und ihrem Laizismus bekam die Religion den Status einer Privatsache. Das Individuum konnte sich aus vielerlei traditionalen Bindungen – darunter jene an die Religion – befreien. Naserümpfend halten hierzulande viele Laizismus für einen Anachronismus, doch an der Pariser Sorbonne existiert auch heute noch ein Lehrstuhl für »Geschichte und Soziologie der Laizität«.
Mit seinem zornigen »écrasez l’infame superstition!« (»rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!«) reagierte schon Voltaire auf die Gängelung der Menschen durch die staatliche Zensur unter dem Ancien Régime, klagte aber auch die Institution Kirche an. Diese hatte zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil daran, dass Jean François La Barre so lange gefoltert wurde, bis er gestand, gottlose Lieder gesungen, ein Kruzifix zerstört und bei einer Prozession den Hut aufbehalten zu haben. Zur Strafe für diese »Albernheiten« (Denis Diderot) schnitt man ihm am 28.2.1766 zuerst die Zunge und dann den Kopf ab, bevor der Restkörper verbrannt wurde.
Die Exzesse während der revolutionären Entchristianisierung (1793/94) sind nicht zuletzt auch Reaktionen auf solche Erfahrungen unter dem Ancien Régime. Bereits 1795 kehrten viele der durch die Revolution vertriebenen Priester zurück, und die Kirche erhielt wieder volle Bewegungsfreiheit. Napoleon schloss 1801 mit Papst Pius VII. ein Konkordat, dem ein Jahr später die »organischen Artikel« folgten, mit denen Kirche und Staat nach dem Zerfall des Staatskirchentums und der revolutionären Enteignung der Kirche einen Weg zu friedlicher Koexistenz fanden. Der beiderseits ungeliebte Kompromiss zwischen »dem freien und dem katholischen Frankreich«, wie sich der Schöpfer des »Code Napoléon« – Jean-Étienne-Marie Portalis – 1802 ausdrückte, hielt bis 1905.
Zwar scheiterten in der Zeit der Restauration die Bemühungen, im Geiste des konterrevolutionären Traditionalismus von Louis de Bonald (1754-1840) und Joseph de Maistre (1753-1821) »die Revolution (zu) töten« und die vorrevolutionären Verhältnisse wiederherzustellen, aber der hohe Klerus errang dennoch wieder eine dominierende Stellung, die er auch unter Louis-Philippes Bürgerkönigtum zu verteidigen vermochte. Nach 1830 begann »die Zeit der Ordensgemeinschaften« (Denis Pelletier): Bis 1880 wurden nicht weniger als 400 neue Gemeinschaften gegründet, die etwa 180 000 Mitglieder besaßen – rund zehnmal so viele wie 1808. Die meisten Kleriker waren als Lehrer tätig. Die Mädchenausbildung lag fast vollständig in der Hand von Nonnen. Im Zweiten Kaiserreich (1851-1870) Napoleons III. galt eine Schulsatzung, der zufolge es die erste Pflicht der Lehrer war, »die Kinder religiös zu unterweisen«. Von daher erklärt sich die republikanische Gegenparole: »Schreiben, lesen, rechnen, das ist alles, was man lernen muss«, meinte Adolphe Thiers.
Die Haltung Napoleons III. zur Kirche war eher taktischer Natur, obwohl er sich zeitweise überlegte, sich in der Kathedrale von Reims kirchlich zum Kaiser salben zu lassen. Ein Fanal setzte jedoch seine fromme Frau, die den Papst als Patenonkel des Thronfolgers gewann. Beim hohen Klerus galt der Staatsstreich vom 2.9.1851 schon zwei Wochen danach als »Staatsstreich Gottes«. An die Stelle des alten Bundes von »Thron und Altar« trat nun jener von »Säbelherrschaft und Weihwasserwedel«, d. h. »die fürchterliche Allianz zwischen jenen, die niederkartätschen und jenen, die Kartätschen segnen«, wie Léon Gambetta, der Verkünder der Republik von 1870, sagte.
In den 50er und 60er Jahren startete die Kirche in Frankreich eine Rekatholisierungskampagne, mit der sie 1856 den Herz-Jesu-Kult wiederbelebte und die Wunder- und Marienverehrung sowie Wallfahrten – dank der Eisenbahn – in großem Stil organisierte. Den Höhepunkt bildete die Weihe der Grotte von Lourdes mit 100 000 Pilgern. Mit den Enzykliken »Syllabus« und »Quanta Cura« (8.12.1864) wurden Religions- und Gewissensfreiheit als »Freiheit des Verderbens« gebrandmarkt und zusammen mit anderen achtzig »modernen Irrtümern« vom Rationalismus über den Liberalismus bis zur Aufklärung kirchlich verdammt. Während die liberale Presse und die republikanische Opposition unter Napoleon III. verfolgt oder ins Exil gejagt wurde, konnte der militante Katholizismus ungehindert auftreten. Louis Veuillot von der Zeitschrift »L’Univers« beklagte 1867 den Fehler des Kaisers, Luther nicht verbrannt zu haben, denn »dieser und seine Komplizen haben der Kirche 40 Millionen Menschen weggenommen«, was bei zwölf Generationen seit dem 16. Jahrhundert »480 Millionen Menschen« zu »Verdammten« gemacht habe – einzig deshalb, »weil man diesen Prediger der Häresie nicht rechtzeitig beseitigt hat.«
Die »offen zur Schau gestellte Entente mit einem Regime [der Kirche, RW], das die bürgerlichen Freiheiten unterdrückte« – so der Historker François Caron –, stärkte die laizistische Bewegung, die sich freilich noch nicht öffentlich zeigen konnte. 1870 kapitulierte zwar das Kaiserreich vor Bismarcks Truppen, aber in Gesellschaft und Politik herrschten danach nicht die Republikaner, sondern Monarchisten, Bonapartisten, Konservative und Klerikale, die durch die Angst vor der demokratischen Republik zusammengeschweißt wurden. Wie unter der Restauration nach 1815 sollte unter der Präsidentschaft Marschall MacMahons »die moralische Ordnung« (»ordre moral«) wieder aufgerichtet werden. Der Bischof von Nantes sah die Pariser Commune als »eine göttliche Züchtigung«. Zwei Jahre nach der Niederlage in der Schlacht von Sedan propagierte eine französische Lehrerzeitschrift die deutsche Schule als Vorbild, da diese »Gehorsam und nicht Revolution« lehre. Zu einer Verschärfung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche kam es 1876/77, als sich Papst Pius IX. vom jungen italienischen Staat bedroht fühlte und mehr oder weniger offen französische Militärhilfe forderte. Die französischen Republikaner, noch von der Niederlage im Krieg gegen Preußen gezeichnet, witterten ein Komplott von Monarchisten und Jesuiten, die das Land in einen Krieg für den Papst stürzen wollten. Seit Gambettas Rede vom 4.5.1877 galt deshalb als Schlachtruf der Republikaner: »Le cléricalisme? Voilà l’ennemi!« (»Der