Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther
der Autoideologie, wie sie bis heute die Autowerbung prägt.
Vom Ende der 50er Jahre an ging der Autobahnausbau in der Bundesrepublik zügig weiter, und der Verkehrsbericht von Georg Leber (SPD) versprach 1970, dass 85 Prozent der Bevölkerung bis 1985 »von dort, wo sie dann wohnen werden, maximal 10 Kilometer bis zur nächsten Autobahn zurückzulegen haben werden.« Zeitlich und finanziell wurde der Plan zwar nicht eingehalten, aber bis heute baute man fast jeden der damals geplanten Autobahnkilometer, obwohl immer deutlicher wurde, in welche Sackgasse man sich hineinbetonierte. Die Klage über die »Springflut der Motorisierung« (Georg Leber) ist jene eines Zauberlehrlings. Bereits Fritz Todt wusste, dass – außer dem materiellen Wohlstand breiter Massen – einzig ein vergrößertes Straßennetz die Motorisierung dauerhaft befördert: »Erst durch den Bau der Reichsautobahnen wurden daher die Voraussetzungen für einen wirklichen Erfolg der Motorisierung geschaffen« (1937).
Kaum waren die ersten bundesrepublikanischen Pläne fertig, kam es zu den abenteuerlichsten Forderungen. Der Generaldirektor der belgischen Straßenverwaltung vertrat auf einer Bonner Tagung die These, der Bau von »Stadtautobahnen« sei »dringender als derjenige der Überland-Autobahnen«. Das Vorhaben, die Pariser Champs Elysée durch den Bau einer Hochstraße »leistungsfähiger« zu machen, kommentierte der WDR-Moderator Alexander von Cube in einer Sendung über die »automobile Gesellschaft« 1972 mit dem lapidaren Satz: »Ach, man kann sich daran gewöhnen.« Der Deutsche Städtetag schwang schon einige Jahre zuvor die Flagge für »die autogerechte Stadt«: Dessen Broschüre zeigte auf dem Deckblatt einen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt in Boston – eine Autobahnlandschaft mit zwölf Fahrspuren. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Mit einer Reihe sentimentaler Autobahngeschichten unter dem Titel »Gib Gas« sollte die Jugend »road-minded« gemacht werden und nebenher lernen, wie »Prof. Porsche die geniale Drehstabfederung« erfunden hat.
Die Verkehrspolitik entglitt schon dem Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU, 1949-1966) und geriet in die Hände der Interessenverbände. Seebohm sah die Motorisierung als »gesellschaftsbildenden Faktor« im »Abwehrkampf gegen eine Vermassung« und gegen den Kommunismus. Als er den zunehmenden Güter- bzw. Lastwagenverkehr als »Irrweg der Motorisierung« erkannte, waren die kampagnefähigen Organisationen von Boulevardpresse und ADAC schon so mächtig, dass es allen Verkehrsministern bis heute nicht einmal mehr in den Sinn kommt, dem alltäglichen Wahnsinn gegenzusteuern – zum Beispiel den Folgen der 1960 (mit Hilfe von SPD und FDP) eingeführten Zweckbindung der Mineralölsteuer oder der seit 1955 geltenden Kilometerpauschale, mit der die tägliche Autofahrt zum Arbeitsplatz steuerlich gefördert wird. Dies allein führte dazu, dass der leistungsfähige Werkverkehr von Ford-Köln, der bis dahin mit ganzen 37 Bussen täglich 2000 Personen auf 2900 Straßenkilometern zur Arbeit und wieder nach Hause transportiert hatte, schlagartig verschwand.
Die Folgen des Geschehens »in einer Welt, in der die Menschen sich mit dem Motor bewaffnet in der Gesellschaft begegnen« (Georg Leber), wurden wissenschaftlich kleingerechnet. Aus der Tatsache, dass auf Bundesstraßen bzw. im Stadtverkehr mehr Menschen umkommen als auf Autobahnen, drechselte das Beratungsgewerbe für die Autoindustrie und das Transportgewerbe ein schlichtes Buchhalterargument: »Hätte man alle 1982 auf den Autobahnen erbrachten Fahrleistungen auf Bundesstraßen abgewickelt, so wären 1982 etwa 2000 Tote mehr zu beklagen.« Ein schwacher Trost für rund eine Million Unfallopfer innerhalb von 15 Jahren in den 15 EU-Staaten. Wo es nichts zu rechnen gibt, bleibt immer noch der Sprachschleier: Eine Studie verpackte den Krieg auf der Straße zu »Aufprallkontakten« zwischen Autos und Fußgängern. Nach wie vor sterben jährlich Tausende von Menschen bei solchen »Kontakten«. Die Zahlen werden schöngerechnet, indem man sie auf das enorm gestiegene Verkehrsaufkommen bezieht. Für solche statistischen Realitäten und Spielchen interessieren sich allerdings nur noch Autoproduzenten, Autonarren und andere Zyniker.
Statistisch gesehen hat jeder Bundesbürger die Chance, 6570 Stunden seines Lebens im stehenden Auto zu verbringen – etwa acht Monate also. Eine BMW-Studie bezifferte 1995 den volkswirtschaftlichen Verlust durch Staus im Straßenverkehr auf jährlich 200 Milliarden oder 6000 Mark pro Arbeitnehmer. Üblich ist eine so offene Sprache nicht. In den Registern vieler Autobahnbücher kommt das Wort »Stau« gar nicht vor. Mit dem Euphemismus von der »mobilitätsinduzierten Immobilität« und dem gutgemeinten Appell des Philosophen zur »Pflicht zu wissen«, was Autofahren an »negativen Folgen« (Walther Ch. Zimmerli) nach sich ziehe, wird sich »die Lust am Auto«, von der der Forschungsleiter bei Mercedes schwärmt, nicht zügeln lassen. Eine wissenschaftliche Studie zu einer »wissensbasierten Diagnose« von Verkehrsstaus kommt zum wenig trostreichen Schluss, dass »es noch keine wissensbasierte Lösungsmethode« gebe. Ins Hochdeutsche übersetzt: Wir wissen, wie man in den Stau hinein-, aber nicht, wie man wieder hinauskommt. Der Expertenverstand getraut sich gar nicht mehr, Alternativen zu denken, geschweige denn vorzuschlagen.
In vielen Studien verflüchtigt sich der Stau zu »Störungen im Verkehrsablauf«, so als ob es den stockungs- und staufreien Verkehrsfluss als Normalfall noch in nennenswertem Umfang gäbe. Die richtigen Enthusiasten der Autobahnerlebnisgesellschaft ficht derlei nicht an. Sie empfinden »die Zeit im Wagen (…) zunehmend nicht mehr als verloren. Immerhin wird sie ganz ähnlich genutzt wie zu Hause im Sessel: mit Medien-Konsum. Radio, Recorder oder CD-Player unterhalten, informieren oder bilden (…) Kühlbox und Telefon machen den Wagen vollends zum Lebensraum.« Der Stau am Sonntagnachmittag bereitete den beiden Journalisten Hermann Engl und Frank Lämmel erst kürzlich »wenigstens das Erlebnis einer mehr oder weniger bewegenden Eigentümerversammlung direkt auf deren Groß-Immobilie.«
Zum Auto und zum Autobahnbau gehören solche ideologischen Überhöhungen wie die notorisch falschen Prognosen. Ein »Landesplanerisches Gutachten zur Autobahn Nord-Süd« rechnete 1950 damit, »dass, wenn überhaupt ein Weiterbau von Autobahnen in Betracht kommt aufgrund der Verarmung Deutschlands, nur noch eine Nord-Süd-Linie in Niedersachsen Aussicht auf Verwirklichung hat.« Bis 1984 wurden weitere 6000 Kilometer Autobahn hinzugebaut, was freilich einen Franz Josef Strauß nicht beeindruckte: »Von einem Straßennetz kann noch lange keine Rede sein.« Drohte der ADAC 1971 der sozialliberalen Regierung noch damit, wer »des Bundesbürgers liebstes Kind vergraule«, bekäme dafür »bei der nächsten Wahl die Quittung«, gab er sich jetzt moderat angesichts der Pläne, bis zur Jahrtausendwende 3000 Kilometer Autobahnen ins Land zu setzen. Dem ADAC hätten 2000 Kilometer genügt, tatsächlich wurden bis heute 4000 dazugebaut. 1996 waren es rund 12 000 Kilometer.
1985 prognostizierte eine Shell-Studie für das Jahr 2000 30 Millionen Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik. Die Zahl wurde bereits 1990 überschritten, 1995 gab es bereits 38 Millionen, man wird sich am Ende dieses Jahres »nur« um etwa 40% verrechnet haben. Solche Prognosen ignorieren die schlichte Tatsache, dass mehr Straßen sicher nur eines garantieren – mehr Verkehr, und die Prognosen kaschieren ihre Chaosblindheit mit hemmungslosem Fortschrittstaumel oder forschen Forderungen. Auf dem »Stuttgarter Straßentag« 1964 verkündete der mit dem Zug angereiste ADAC-Präsident Hans Bretz, »dass wir heute (…) sehen können, wie dieses 20. Jahrhundert daran geht, alle Menschheitsträume in technischer Hinsicht zu vollenden.« Entsprechend zackig trat ein weniger prominenter Redner auf: »Eine Straße, die den Namen Autobahn verdienen will, ist heute nur mit drei Fahrspuren und einer Abstellspur in jeder Fahrtrichtung denkbar.« Es war die Zeit, als in der Schweiz, wo der Autobahnbau später begonnen hatte, Wohnungsinserate erschienen, in denen Käufer mit dem Hinweis »freier Blick auf die Autobahn« angelockt wurden.
Zwischen 1986 und 1994 wurden 1,4 Milliarden DM allein für das Forschungsprogramm »Prometheus« (wörtlich: der Vorausdenkende) aufgebracht; ein Programm, mit dem man »das Auto und die Straße intelligent« machen und »per Bordcomputer am Stau vorbei« leiten möchte. Der Appell an den unverschämten Feuerdieb, dessen Name für »Program of an European Traffic with Highest Efficiency and Unpreadented Safety« steht, wirkt wie ein Schrei aus dem stockdunklen Wald, in den man mittlerweile geraten ist. Nun soll es der Titan in letzter Minute richten. Mit branchentypischem Schwung meldet die Auto-Lobby schon einmal einen Investitionsbedarf von 190 Milliarden Mark bis ins Jahr 2010 an.
Wo sich Prognosen über die Verkehrsentwicklung und Hausmittel zur Abhilfe gegen »Verkehrsstockungen« gleichermaßen diskreditiert haben, müssen Ideologie und Propaganda aushelfen. Die Zeitschrift »Motorwelt« drohte der Bundesregierung schon 1950