Rotzverdammi!. Reiner Hänsch
bloßen Erinnerung an die Zeit mit Henni pumpt mein armes Sauerlandherz ein wenig hektischer, um das Gehirn in diesem Moment auf keinen Fall ohne kostbares Blut zu lassen.
Wie albern. Ist doch Jahrhunderte her, Heinz-Nobätt!
Henni, Henni. Was die wohl heute macht? Meine Güte, was war um die früher immer ein aufgeregtes Gedränge, weil sie eben so super aussah. Wir Jungs sind in unseren Hormonen fast ersoffen, wenn Henni ins Jugendheim oder auf einer Fete so voll erotisch hereinspazierte. Sie konnte das. Und wie sie tanzte! Sie bewegte irgendwie jedes Körperteil einzeln. Sagenhaft. Mir wird jetzt noch ganz schwindelig, wenn ich mir das vorstelle. Mit Henni wollten alle … gehen und so … aber mit mir hat es dann geklappt. Eigentlich unglaublich, besonders für mich, vor allem, wenn man an den Andrang denkt, der bei ihr herrschte – aber genau so war es.
Und das lag nur an der Gitarre.
Wenn wir damals alle irgendwie um ein Lagerfeuer oder auch nur um zwei, drei Kisten Bier herumsaßen, wenn die balzenden Männchen ihre dringende, unaufschiebbare Paarungsbereitschaft lautstark signalisierten, die Weibchen langsam, aber erstaunlich bereitwillig rollig wurden und man fast schon riechen konnte, worauf das finstere Treiben hinauslief, dann hatte ich meine Gitarre und natürlich alle Hände voll zu tun mit ’ner ganzen Menge von Akkorden. Und während dann alle irgendwann anfingen zu fummeln und zu knutschen, was das Zeug hielt, spielte ich „Blowin’ in the Wind“ oder so was. „Michelle“ oder „Girl“ von den Beatles kamen auch immer richtig gut.
Auch wenn jeder dachte, dass ich mit meiner zwar künstlerisch wertvollen, aber eher besonnenen Zurückhaltungstaktik auf jeden Fall schlechter fuhr als alle anderen, saß doch spätestens bei den letzten Tönen eines der schönen Lieder auch eines der schönen Mädchen neben mir und himmelte ein wenig an mir rum. Und das war schön. Und eines Abends saß Henni da, die schönste von allen, und ich habe sie nicht wieder weggelassen. Drei Jahre lang nicht, es war eine wunderbare Zeit mit ihr und dann lief leider eben was schief mit uns beiden. Mist gebaut, Missverständnisse, Streit und Gemeinheiten … und sie ist dann, von einem Tag auf den anderen, mit einem … BMW-Fahrer abgehauen.
Das tat weh. Ich hasse … BMWs. Ich habe sie nie wiedergesehen seit damals. Meine Henni. Aber vergessen habe ich sie auch nie. Ich denke nur nicht mehr so oft an sie. Habe ja auch schließlich genug um die Ohren.
„Ach, is’ doch auch egal, oder?“, sacht dat Sauerland jetzt wieder. „Mensch, Flottmann, wat geht denn da ab bei dir inne Birne? Is’ doch alles längst vorbei! Henni Heggemann? Vergiss es!“
Moment mal, Sauerland, ich frage mich ja nur, was die wohl jetzt so macht. Ist der … BMW-Fahrer wohl noch mit ihr zusammen? Fährt er immer noch … BMW? Wohnen beide vielleicht sogar noch hier, haben schon drei Kinder und er eine Tuning-Werkstatt und jeden Abend schwarze Finger und ein Goldkettchen um den Hals? Das sind doch interessante Fragen!
Aber das interessiert Sie jetzt wahrscheinlich überhaupt nicht.
„Boah, biss du dreckig, Onkel! Un ganz nass.“
Das Kind mit der soeben vernommenen Stimme, gerade mal einen guten frechen Meter groß und schätzungsweise sechs, sieben Jahre alt, stellt sich direkt vor mir in den Weg und scheint sich gehörig zu wundern, dass erwachsene Onkels so dreckig wie Pottsäue, triefend nass und abgerissen, durch öffentliche Straßen laufen dürfen.
„Bisse auffe Fresse gefallen? Oder bisse arm?“
Ja, das Sauerländisch wird hier von der Pike auf gelernt.
„Ich bin … arm“, antworte ich und hoffe, damit erst mal aus der gefährlichen Fragezone heraus zu sein.
„Deine Joppe is’ kaputt“, sagt das kleine Mädchen und zeigt erschrocken auf den zerrissenen Ärmel meines verdreckten Sakkos.
„Un du hass ’ne Beule, ’ne Beule“, singt sie grinsend und tanzend und zeigt jetzt in Richtung meiner Stirn. Sie stellt sich sogar auf die Fußspitzen und will die Beule anfassen. Fast kommt sie auch dran.
„Lena, getz komm!“, ruft da der Mann in unserer Nähe und das Mädchen blickt sich ertappt um. „Komma wech da! Lass den armen Onkel ma in Ruhe … un fass den ja nich an!“
Fass den ja nich an!, sagt dieser … Kerl. Ja, hör mal! So ganz habe ich die Pennerrolle ja noch nicht angenommen, bloß, weil ich so aussehe. Der grobe, unmögliche Kerl kommt jetzt auf uns zu … und mir doch irgendwie bekannt vor. Obwohl ich noch eben bereit war, ihn zur Rede zu stellen und möglicherweise auch handgreiflich zu werden, wenn es wirklich nötig sein sollte – natürlich vor dem Kind in einigermaßen angemessener Form und möglichst ohne Blut – starren wir uns jetzt beide ungläubig und nachdenklich an. Wer bist du, fremder grober Kerl, den ich kenne? Und er ist dann der Erste, der was sagt. Dieses seltsame, mir inzwischen völlig fremde Wort.
„Heino?“, sagt er.
Und ich sage: „Klaus?“
Dann sagt er wieder: „Heino?“
Ich sage dann erst mal nichts mehr. Aber es stimmt. Beide haben recht. Ich bin Heino und er ist Klaus. Und Klaus Klüter ist der Bassist unserer Band. WAR der Bassist. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren.
„Kennze den Onkel?“, fragt die kleine Lena Klaus Klüter, weil sie uns intensiv beobachtet.
„Jou“, sagt Klaus, „den kennich.“ Und dass er das „den“ so gefährlich dehnt, lässt nicht unbedingt auf Wiedersehensfreude schließen. Gleich geht er doch noch auf mich los nach all den Jahren. Grund genug hätte er eigentlich. Er hat damals seine junge Familie verlassen, um mit uns, der Band, auf Tour zu gehen und natürlich reich und berühmt zu werden, wie wir das alle wollten. Das mit der verlassenen jungen Familie war da eher weniger schön. Susanne, seine damalige Freundin, hat ihn vor die dramatische Entscheidung gestellt: „Ich und das Kind“, das ja damals noch ganz frisch war, „oder deine Mucke“, hat sie gesagt. Ich war dabei. Ich hab’s gehört. Und ich habe Klaus dann überredet, auf jeden Fall „Mucke“ zu antworten und das hat er auch gemacht und ist mit uns gezogen.
Und dann habe ich kurz darauf alles geschmissen mit der Band, und für ihn und die anderen war die Sache mit „reich und berühmt“ dann erst mal gelaufen. Und als er dann zurückkam von unserer letzten Tour, da war seine Familie nicht mehr da.
„Siehs’ besskhissen aus“, sagt er dann und sieht abschätzend an mir herunter. Der Klaus wohnt hier schon seit Hunderten von „Gahren“, also Jahren, müssen Sie wissen, und hat als menschliche Sprache überhaupt noch nie etwas anderes als diesen Dialekt wahrgenommen. Dat cheht nie wieder wech.
„Besskhissen, besskhissen!“, singt die kleine Lena und tanzt dazu um mich herum. „Und du sti-hinks’!“
„Na, Lena!“, wird sie sofort von Klaus ermahnt. „Wenn dat deine Mutta höat.“
Dann wendet er sich wieder an mich und grinst.
„Meine Chüte“, sagt er, „wat ham wir uns lange nich cheseh’n.“ Ja, da hat er recht. Und dann wird er etwas übertrieben ernst.
„Wegen dä Beärdigung, nä …? Wir war’n auch da aum Fritthoff. Hass mich abba nich geseh’n, woll? Ja, tut mir leid, dat mit deine Mutta, aber einma’ stärb’n se alle. Wat willze machen? So is’ dat ehm. Einer nach’em ander’n, wie die Fliegen kippen se um. Dann cheb’n se den Chriffel ab. Heute noch munter und morgen schon inne Wicken.“
Klaus war schon immer etwas gröber. Und direkt. Und recht hat er natürlich.
„Un wat is’ mit dir passiert?“, fragt er dann regelrecht besorgt. „Cheht et dir nich chut? Brauchsse Cheld? Biss ja total abcherissen.“
„Nee, nee“, sage ich eilig, „es ist nur … ach, mein Auto und ... mir geht’s gut. Danke, Klaus.“
„Du hass ’ne sskheiß Beule da“, meint er und nimmt das kleine Mädchen vorsichtshalber an die Hand, weil ich wahrscheinlich doch sehr gefährlich aussehe.
„’ne sskheiß Beule, ’ne sskheiß Beule!“
Das