Alternativlos?. Helmut Fischer

Alternativlos? - Helmut Fischer


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       8.8 Zur mystischen Dimension von Religiosität

       8.9 Zur ethischen Dimension von Religiosität

       8.10 Zur integrativen Dimension des Religiösen

       9 Zusammenfassende Schlusssätze

       Verzeichnis der zitierten Literatur

       Bücher von Helmut Fischer

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      Einführung

      Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Religion in immer kürzeren Abständen von den einen für überflüssig und tot erklärt und von den anderen als notwendig bezeichnet und lebendig gesprochen. Die Kritik an der Religion ist nur wenig jünger als die Religion selbst. Nur sagt sie wenig über das Phänomen Religion und deren Zukunft. Viel hingegen sagt sie uns über das Verhältnis der Kritiker oder Verteidiger von Religion zu ihrem Gegenstand. 1992 verbreitete »Der Spiegel« die Ergebnisse einer Befragung der Deutschen zur Religion mit der Schlagzeile »Abschied von Gott«. Im März 2001 horchte die Welt auf, als die Taliban die berühmten alten Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan zerstörten. Nach dem islamischen Anschlag des 11. Septembers 2001 kam das Thema Religion auf unerwartete Weise in die öffentliche Diskussion. 2004 veröffentlichte Friedrich Wilhelm Graf, Professor der Systematischen Theologie und Ethik an der Universität München, seine Untersuchungen zur Religion der Moderne unter dem provozierenden Titel: »Die Wiederkehr der Götter«. Seit 2006 erregte der »Gotteswahn« des Evolutionsbiologen und bekennenden Religionsgegners Richard Dawkins die Gemüter. Richard Schröders Einspruch dagegen (»Abschaffung der Religion?«) von 2008 und andere Apologien des Christentums haben das Gespräch belebt. »Rückkehr des Religiösen?« fragte auch der Religionssoziologe Detlev Pollack und setzte im Titel seines Buches ein Fragezeichen.

      Ein Blick auf die unterschiedlichen Aussagen zur Religion zeigt, dass die abwertenden Äußerungen über sie ebenso wie die entsprechenden Verteidigungsschriften gleich mehrere Merkmale gemeinsam haben, die den Absolutheitsanspruch der jeweiligen Positionen relativieren: |8|

       Sie gehen von einem je unterschiedlichen Verständnis von Religion aus.

       Sie betrachten Religion aus unterschiedlichen Perspektiven.

       Sie halten je ihr Verständnis von Religion und ihre Perspektive der Betrachtung für normativ, für objektiv und für das Wesentliche des Phänomens.

       In den pauschalen Aussagen über Religion werden Begriffe und Assoziationen dazu, die getrennt werden müssen, oft unreflektiert miteinander verbunden, vermischt oder gleichgesetzt. So z. B. Religion als Lebensäußerung, als kultische Organisation, als Lebenspraxis, als Reflexionsprozess, als Theologie, als Spiritualität, als Frömmigkeit, als Mystik, als Ideologie, als Aberglaube, als Magie, als Kult, als Ritus u. a. m.

       Die Vorgaben der eigenen Position und die interessengeleitete Sicht werden oft nicht offengelegt, sondern den Lesenden als selbstverständlich und als geboten vorgesetzt.

      Ein so vielschichtiges Phänomen wie Religion, das in allen Bereichen der menschlichen Kultur gegenwärtig sein kann, muss zu Recht aus unterschiedlichen Perspektiven und in seinen unterschiedlichen Funktionen wahrgenommen werden. Insofern sind alle religionskritischen Analysen den Religionshütern zur Selbstreflexion dringend zu empfehlen. Andererseits gilt auch für die Religionsforscher zu beachten, was der Psychoanalytiker Fritz Riemann zu den Äußerungen der Fachleute über die Liebe gesagt hat: »Über die Liebe zu sprechen oder zu schreiben sollte eigentlich den Liebenden und den Dichtern vorbehalten bleiben, denen also, die von ihr ergriffen sind. Wenn sich hingegen die Wissenschaft ihrer bemächtigt, bleibt von der Liebe oft wenig mehr übrig als Triebe, Reflexe und scheinbar machbare oder erlernbare Verhaltensweisen, als biologische Daten, messbare physiologische und testbare psychologische Reaktionen, die alle auch zum |9| Phänomen Liebe gehören, mit denen wir es aber nicht erfassen.« (Riemann 13)

      So wenig man der Liebe mit der Erklärung nahekommt, dass der Mensch, gesteuert vom Diktat seiner Gene und Hormone, in seinem Triebleben umherirrt, so wenig kommt Religion in den Blick, wenn man die religiösen Menschen, von finsterer Magie getrieben, in absurden Ritualen gefangen sieht. Testosteron und Phenylethylamin mögen bei geschlechtlicher Liebe eine Rolle spielen, sie sagen aber über liebendes Verhalten genauso wenig wie ein Cocktail bestimmter Monoamine über die menschliche Fähigkeit aussagt, sich selbst zu transzendieren. Wer Liebe im Drang zur Fortpflanzung aufgehen lässt und Religion als Vorteil für das Überleben der Gruppe deutet, der hat wohl übersehen, dass Liebe auch abgesehen von Sexualität und Fortpflanzung existiert und die Religion selbst dort eine zentrale Rolle spielen kann, wo ihretwegen sogar die physische Existenz des Einzelnen oder einer Gruppe riskiert wird. Reduziert man Liebe oder Religion auf neuronale Erregungen im Gehirn, so folgt man der Logik, wonach das Klavier die Musik produziert. Hier lässt sich einiges entwirren, ordnen und klären, damit die Lesenden sich ihr eigenes Urteil bilden können.

      Das gegenwärtige Erscheinungsbild von Religion lässt sich, wie alles geschichtlich Gewordene, nur verstehen, wenn man sich der Wege und Weichenstellungen bewusst wird, die zu ihrem aktuellen Stand geführt haben. Die gegenwärtige Krise der Religion in Europa ist ohne Frage auch durch kulturelle, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen mitverursacht. Aber für die christliche Religion entscheidender ist die selbstkritische Frage nach den von den Kirchen selbst zu verantwortenden Faktoren, die zu dieser Krise geführt haben und sie weiterhin verstärken.

      Die unterschiedlichen thematischen Schnitte, die in dieser Arbeit gelegt werden, bedingen die gelegentlichen Wiederholungen. Gerne wiederhole ich auch in diesem Buch meinen Dank für |10| die Hilfe beim Erstellen eines ordentlichen Typoskripts an Frau Bärbel Behrens und Frau Dietlind Wienen sowie an die kürzlich verstorbene Frau Marianne Stauffacher für das exzellente Lektorat aller meiner Bücher im Theologischen Verlag Zürich.

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      1 Was mit Religion gemeint sein kann

      Jede sinnvolle Aussage über die Zukunft von Religion muss vorab klären, was unter »Religion« verstanden werden soll. Bereits bei dieser Frage stoßen wir auf das Grundproblem aller Äußerungen über Religion. Denn für das, was unter Religion zu verstehen sei, hält sich jeder und jede für zuständig und für kompetent, und zwar die Religionsgegner wie die Fundamentalisten, die im Volksglauben Beheimateten nicht weniger als die theologisch Gebildeten.

      1.1.1 Eine Schöpfung der römischen Kultur

      Religio ist eine Wortbildung der lateinischen Sprache in vorchristlicher Zeit. Man bezeichnete damit in der altrömischen Kultur das gewissenhafte Erfüllen der Pflichten. Im kultischen Bereich betraf das die kultischen Pflichten gegenüber den Göttern.

      In seinem Werk »Über das Wesen der Götter« definierte der Philosoph und Rhetor M. D. Cicero Religion als Götterverehrung (Cicero II,8) und er leitete das Wort religio von dem Verb relegere (sorgfältig auswählen) ab. Religio meinte, »dass das gewissenhaft bedacht und immer wieder beachtet wird, was die Götter wollen« (Ratschow 634).

      Cicero hatte bei seinem Wortverständnis die römische Kultpraxis seiner Zeit vor Augen. Diese Kultpraxis war nicht die Privatsache des Einzelnen, sondern eine kollektive und öffentliche Angelegenheit des Gemeinwesens, zu dem der einzelne Bürger der Stadt das Seine beizutragen hatte, vor allem bei der Finanzierung


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