Smaragdgrau. Severin Perrig

Smaragdgrau - Severin Perrig


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gerundeten Wall, gar einer stählernen Sternschanze. Dunkle Flecke mit unregelmäßigem Rand legen sich dabei wie Spinngewebe über die Wand von Nichts im Hintergrund. Die hoch liegende, mit einem Mal pulsierende Wolkendecke franst wie ein alter Teppich an den Rändern aus, lässt aschige Fetzen emporschweifen, sich jagen und balgen – es ist fast, als blicke man in den Rauch des Großen Hamburger Brands von 1842 –, um sich dann plötzlich mit den ruhig dahingleitenden, perlfarbig geballten Wolkenpaketen zu verquirlen. Der kühle Wind wellt ihre Kämme wie brüchige Eisschollen immer höher übereinander, bis sie endgültig in sich zusammenfallen, mal wie massive Brocken und mal wie leichtester Schaum. Auf launisch, wirblige Art fährt das Grauwetter durchs schmutzige Wolkengebirge.

      Wenn so der Westwind geht und das Gewölk von melancholischer Schönheit am Himmel zieht, schlägt den in Träumereien verlorenen Menschen genauso wie verträumten Romanfiguren, etwa Effi Briest in Fontanes gleichnamigem Roman, die ideale Wanderstunde an der frischen Luft, um im »Gefühl des Alleinseins« nach ehelichen oder andern Katastrophen des Lebens mit all ihren aufgewühlten Gefühlen selbst zurechtzukommen. Ein Blick an den wolkenverhangenen Himmel lenkt ab und tröstet zugleich, denn »jedes Wolkengewebe ist eine geheimnisvolle Schrift«, die es zu entziffern gilt, wie 1808 der romantische Philosoph und Staatsrechtler Adam Müller schreibt.

      Und selbst wer diese Schrift nicht beherrscht, wird dort noch die unförmigen Gebilde sehen, an den Rändern von hellerem Licht umsäumt, die sich jederzeit in ein »seltsames Wolkengerüst mit Logen und Galerien« (Eichendorff) oder gar in eine leichte »Wolkenaue« (Droste-Hülshoff) verwandeln können, worauf Fantastisches erprobt und aufgeführt wird. Jedes der derart theatralisch inszenierten Stücke hat »Metamorphosen« im Untertitel: Greisenhafte Wolkenkönige blicken mit ihren patriarchalen Gesichtern streng herab auf die Erdenbewohner, mutieren dabei zu dickbäuchigen, bärtigen Menschenfressern, bevor sie sich in majestätische Botticelli-Schönheiten verwandeln, deren nackte Körperformen sich mit durchsichtigem Flor kaum richtig verschleiern lassen, um dann plötzlich wild verwegenen Heeren Platz zu machen, die mit Ross und Reiter dahinrasen, riesige Wolkenstiere verfolgend, die sich wiederum mit letzter Kraft aufbäumen, bis mit einem Mal eine Art gewaltiger Turban von dunklem Flanell darübergestülpt wird, der anschließend wiederum hinter einem neuartigen, aus dem Nichts auftauchenden, dunklen Raubschloss auf einem Eisberg spurlos verschwindet.

      Das sind Geschichten, die allerhand Unterhaltsames von »unabsehbaren Göttersitzen« (Gottfried Keller) erzählen, wo jede Veränderung am dämmrigen Himmel etwas zu bedeuten hat, egal ob beschützende Wolkensäule oder bedrohliches Wetterzeichen in Windhosenform. Das Numinose ist anziehend wie erschreckend zugleich, wenn es von Zeit zu Zeit aus den trüben Dunstmassen schwergewichtig wetterleuchtet. Dann liegt es wieder still da in schwüler Grauhitze lichtloser Sommernachmittage, bis endlich das bleierne Unwetter donnergrollend aufzieht, in dem bereits trübe Flammen wie über Sodom und Gomorrha grell hervorblitzen.

      Es kann aber auch, weiß aufschäumend am Himmel, den pechschwarzen Qualm als schräges Segel vor sich hertreiben, bis ein Hagel eiserner Speere daraus auf die Erde niedergeht oder sintflutartige Regenfälle eine derart dichte Wand errichten, dass niemand mehr an die leiseste Aufhellung in Zukunft mehr glauben mag. Und doch klärt sich der Himmel stets wieder zu einer Art Röntgenbild von Licht- und Schattengebilden. Denn es ist nicht nur Strafe, die da schwergewichtig vom Himmel auf die Erde niedergeht. »Schnell kommt der Herbst«, schreibt der russische Autor Jewgeni Samjatin 1918, »auf grauen Fledermausflügeln. « Dann steigen und sinken die undurchdringlichen Wassernebel in Wachtelgrau merkwürdig still und doch erfüllt mit einzigartig intensivierten Klängen vom leisen Wispern und Nieseln der Natur. Sie wecken Ahnungen und Hoffnungen zugleich, dass das Göttliche mit all seinen Boten mitten unter uns auf Erden wandeln könnte, um uns mit Liebe und Allwissenheit auf gute Wege zu leiten und bisweilen auch auf Abwege zu verführen. Da vermischt sich allerhand im Nebulösen, ja bisweilen weht das große Unbekannte uns einfach nur an, bläst mitunter gar als Geist in uns das Geistige regelrecht hinein.

      Nur, »wie ist Gott? Wie sieht er aus?«, fragte sich schon Heinrich Heine, »als kleines Kind«, wie er in seinem Buch »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland « von 1834 in der Rückschau schreibt: »Und damals konnte ich ganze Tage in den Himmel hinaufsehen, und war des Abends sehr betrübt, dass ich niemals das allerheiligste Angesicht Gottes, sondern immer nur graue, blöde Wolkenfratzen erblickt hatte. Ganz konfus machten mich die Mitteilungen aus der Astronomie, womit man damals, in der Aufklärungsperiode, sogar die kleinsten Kinder nicht verschonte, und ich konnte mich nicht genug wundern, dass alle diese tausendmillionen Sterne ebenso große, schöne Erdkugeln seien wie die unsrige, und über all dieses leuchtende Weltengewimmel ein einziger Gott waltete.«

      Nun, die antike Götterdämmerung ist auch eine des monotheistischen Gottes geworden, im mausgrauen Wetter aufgeklärter Sachlichkeit. Wir sehen in der dunstigen Natur um uns nicht weniger an Unerklärlichem als unsere Vorfahren, aber es erzählt sich in der Neuzeit einfach wesentlich banaler, indem es sich eben wissenschaftlicher, wenn nicht gar intellektueller anhört. Ein wolkiger, bis zum Horizont nebulös verhangener Himmel ist dann in seiner ganzen Grauheit allein eine Frage der Perspektive auf die durchscheinenden, absorbierten oder reflektierten Lichtwellen, wenn sie auf die entsprechenden Luftmoleküle treffen. Und je nachdem, wie sich diese in Form von Wassertröpfchen, Gas oder Schwebestaub zusammensetzen, sehen wir bloß noch unterschiedlich zu deutende Phänomene der Optik – ebenso am hohen Himmel wie im tiefsten Nebel.

      Der Physiker und großartige Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg schreibt in seinen »Sudelbüchern«: »Die Sehnerven sind doch beständig beschäftigt. Wenn ich in der dunkelsten Nacht im Bette liege, und noch über dies die Augen schließe, so sehe ich doch immer kein volles Schwarz, sondern immer etwas mit Grau meliert.« Die lichtergrauten Vorhänge des Abends bleiben zugezogen und machen die Farben von Tag und Nacht ununterscheidbar. Was soll man dazu eigentlich überhaupt noch weiter sagen? Und doch notiert sich der französische Philosoph und Literaturwissenschaftler Roland Barthes im Hochsommer 1977 »auf die hellere Neige eines grauen Tages «, dass er dabei eine eigentümliche »Schwebe-Euphorie « verspüre: »Alles ist flüssig, luftig, trinkbar (ich trinke die Luft, das Wetter, den Garten). Und da ich gerade Suzuki lese, scheint mir, dass dies dem Zustand verwandt ist, der im Zen Sabi heißt; oder (da ich Blanchot lese) der ›flüssigen Schwere‹, von der er in Zusammenhang mit Proust spricht.« In den schläfrigen, leicht säuerlich anmutenden Stunden des Feierabends kommt das Denken eben doch stets wieder zu erstaunlichen, aufschlussreichen, neuen Assoziationen und Interpretationen, die qualitativ das hellsichtig daherkommende Tageswerk durchaus in den Schatten stellen können.

      Das fahle Licht, wie es der Mensch nach wie vor über den Himmel treiben sieht, ist und bleibt offensichtlich immer noch eines, das auch als Vorbote einer vielversprechenden Frühdämmerung gelten kann – das »Lichtgrau « des Morgens (Goethe) –, indem es alle Dunkelheit verscheucht und einen neuen Tag heraufziehen lässt, der, selbst wenn er gar zu gräulich werden sollte, einer Reihe von unerträglich guten Tagen nicht nachstehen muss. In Franz Kafkas »Gespräch mit einem Betrunkenen« plaudert denn Letzterer daher, sich mit allzu lauten Rülpsern stets von Neuem unterbrechend: »Nicht wahr, auf langen Stangen, überall verteilt, steigen Diener in grauen, frechgeschnittenen Fräcken und weißen Hosen, die Beine um die Stange gelegt, den Oberkörper aber oft nach hinten und zur Seite gebogen, denn sie müssen an Stricken riesige graue Leinwandtücher von der Erde heben und in die Höhe spannen, weil die große Dame einen nebligen Morgen wünscht.«

      Die Faszination des magischen Dämmerlichts bei Tagesanbruch, wenn alles wieder aus der versteinernden Dunkelheit hervortritt, vieles geradezu frühlingshaft neu beleuchtet und belebt wirkt, hat auch etwas von diesem Moment, wo in den Planetarien das Saallicht wieder angeht und den zuvor derart präsenten, nahen Weltraum in einem Grau-in-Grau der Kuppel verschwinden lässt. Wir sind noch einmal davongekommen, sagt unser Inneres dann. Für einen ruhigen Moment sitzen wir auf unseren irdisch harten Stühlen noch wie unbeweglich da, um zu staunen, dass wir doch nicht auf Nimmerwiedersehen aus unserer Welt hinauskatapultiert worden sind. Der Sternenturm steht einfach immer noch unbeweglich da, wie eine Arche Noah eben. Und im Gegensatz zum antiken Astronomen Eudoxos von Knidos sind wir bei der Betrachtung der Gestirne kein Härchen grauer geworden.


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