Die verschollene Beute. Wolfgang Wiesmann

Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann


Скачать книгу

      

      Die Verschollene Beute

      Wolfgang Wiesmann

OCM Verlag

      © November 2020 OCM GmbH, Dortmund

      Alle Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und haben keinen Bezug auf lebende oder verstorbene Personen.

      Umschlagmotiv: Bildmaterial © Wolfgang Koehler, © Wolfgang Wiesmann

      Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

      Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

      ISBN 978-3-942672-85-6

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      September, 1918

      „Flambert, Jacques, links.“

      Jacques verkniff sich ein Grinsen. Hätte er andernfalls wohl teuer bezahlen müssen. Vielleicht mit Karzer oder einer Monatsration Wasser statt Linsensuppe. Ohne Holzschuhe zur Zwangsarbeit war auch möglich. Gerüchte, aber er war besser auf der Hut.

      Der dusselige Deutsche hatte nicht gemerkt, dass er vor jedem Neuen strammstand, während er Kostproben seines unfähigen Französischs mit seinem schlechten Atem in die überfüllte Wartehalle skandierte. Die Namen klangen, als würgte er bei jeder Silbe sauren Cider seine Kehle hinunter.

      Stramm, Hacken zusammen, Knie gerade im Streckverbund und Kopf in Linie mit dem Rückgrat, Schultern nach hinten. So kam die Brust von allein raus. Alle Achtung, auf die Deutschen war Verlass. Sie standen stramm, sogar vor ihren Gefangenen.

      „Der nächste Camenbert!“, trichterte der uniformierte Buchhalter in den Pulk der Wartenden. „Vortreten! L’Autreque, Pierre. Rechts.“

      Jacques prustete in seine offenen Hände und spuckte, als hätte er sich verschluckt, stolperte nach vorne und rempelte den in der Reihe vor ihm stehenden unsanft an.

      „Excusez moi“, sagte er beherrscht, um sein Amüsement über den zuverlässig unkorrekten Gebrauch seiner Muttersprache zu verschleiern.

      Ein adjutierender Soldat schritt auf ihn zu und rammte ihm seinen Gewehrkolben in die Rippen. Jacques heulte auf, suchte Halt bei seinem Vordermann, riss an dessen Hose und fiel dennoch zu Boden, allerdings nicht ohne den Bund der Hose nach wie vor mit seiner Faust zu umklammern. Ihm blieb der Mund offen stehen, als er sich den nackten Hintern ansah. Der Anblick wurde nicht weniger peinlich, als der Mann sich umdrehte, ihm den Bund seiner Hose entriss und sich wieder bekleidete.

      „Never mind“, nuschelte der Betroffene und reichte Jacques die Hand. Er nahm das Angebot an und wunderte sich, als sein Gegenüber sich mit Liam O’Flaherty vorstellte.

      Sie waren allerdings noch nicht aus der Gefahrenzone heraus. Das Gerangel hatte die Wachen alarmiert, aber das Sprachgenie von deutschem Buchhalter gab Entwarnung, nicht ohne auf das Schild „Ruhe“ hinzudeuten.

      „O’Flaherty“, flüsterte Jacques, „die französische Provinz muss noch entdeckt werden, wo Kerle wie du herkommen. Siehst aus wie ein normannischer Abtrünniger. Die Schlacht von Hastings habt ihr gewonnen, aber bei den Briten gab’s nur Fisch und Kartoffeln, nichts für einen Gourmet aus … woher?“

      „Eire, wenn dir das was sagt. Du redest viel. Warum lebst du noch?“

      „Lass mich raten. Ein verdammtes Tal im Saarland, das niemand kennt. Ihr braut Bier, statt gepflegte Weine zu verköstigen. Ich würd’s auch Eire nennen, damit man nicht gleich draufkommt, dass mein Land nicht dazugehört, zu den normalen Ländern. Unbekannt ist besser als bekannt und seelenlos.“

      „Mein Land gehört nicht dazu und wird es nie.“

      „Du redest, als wärst du überzeugt von dem Quatsch. Spuck endlich aus, woher du kommst.“

      „Wo sind wir hier?“

      „Ist es so schlimm?“, betonte Jacques. „Elsass? Normandie? Bretagne? Ist gewiss nur Spaß, dein Eire. Das wette ich. Bist du nicht stolz auf dein Vaterland? Wer kämpft auf unserer Seite, für die Trikolore, die Freiheit und das schönste Land Europas, und kommt aus Eire? Du bist kein Franzose. Sommersprossen auf dem Nasenrücken und rote Pferdehaare auf dem Kopf. Ein schottisches Langhorn, namens O’Flaherty. Warum reichst du kein Gnadengesuch ein? Ein Eire ist versehentlich in die Schützengräben der Franzosen geraten.“

      „Wo sind wir hier?“, fragte Liam erneut mit Gleichmut in der Stimme.

      „Er tendiert sich zu wiederholen, der Mann aus Eire. Mein Arsch möchte ein warmes Bad. Seit Sonnenaufgang sitz ich auf dem verdammten Karren. Jedes Schlagloch ein Schuss die Wirbelsäule hoch. Der Kutscher hat gepennt, die ganze Zeit. Wir sind in Wesel los, gestern über den Rhein. Heute hier. Irgendwo stand Haltern, frag mich nicht, was das bedeutet. Barbaren leben hier nicht. Ihr Kirchturm ragt hoch in den Himmel. Sie haben es nötig, Abbitte zu leisten, fallen über ihre Nachbarn her. Gepflegte Stadt, ich sah ein Mädchen über den Marktplatz gehen. Sie winkte mir. Fast hätte ich mich vergessen. Wüsste gern, ob die deutschen Frauen auch so lecker schmecken unter ihren Rö­cken. Weiße Schenkel und ein bisschen weiter oben, dazwischen, du weißt, was ich meine. Zöpfe hatte sie mit Schleifen an den Enden.“

      Jacques warf einen verträumten Blick ins Innere des schäbigen Gebäudes, aber seine Augen verrieten, dass seine Gedanken weit entfernt um etwas kreisten, nach dem er sich sehnte. Vielleicht sein geliebtes St. Germain, vielleicht seine Familie, die er unter Tränen verlassen hatte, vielleicht seine Genevieve, die ihm in der letzten Nacht vor seiner Fahrt nach Verdun alles geschenkt hatte, was sie geben konnte, ihre Seele und ein Strumpfband eingeschlossen.

      „Sieh dich um“, hauchte er Liam entgegen, „dann weißt du, wo du bist: Am Ende der Welt. Baracken, so weit das Auge reicht und hier drin ein Versailles aus verdreckten Verschlägen, von Pisse zerfressene Holzkisten, die sie Betten nennen und schmierige Decken, an denen Siff aus Seiber und Ergüssen klebt. Bist du nun zufrieden? Das ist dein neues Zuhause. Bleibt zu hoffen, dass eine Seite den Krieg schnell gewinnt. So oder so, wer will Kriegsgefangene durchfüttern? Jetzt bist du dran.“

      Liam bewegte sich einige Schritte in der Reihe nach vorne, ohne etwas zu sagen. Jacques trottete mit Frust im Gesicht hinter ihm her. Es würde dauern, bis sie mit Reinigen und Desinfizieren dran waren und mit Einheitskleidung ausstaffiert wurden. Zu Hose und Hemd gab es eine mantelartige Jacke und am wichtigsten: ein Paar Holzschuhe. Alles von Wert hatten sie ihnen direkt nach der Gefangennahme abgenommen und nun war die Uniform dran. Der Ehering, den er schon gekauft hatte, wäre jetzt weg gewesen. Zum Glück hatte er ihn zu Hause gut versteckt. Sicher war er sich allerdings nicht, ob seine Genevieve ihm treu sein würde.

      Er ärgerte sich über seine neue Bekanntschaft. Der Mann aus Eire mit seinem roten Filz auf dem Kopf brach sich lieber die Zunge ab, als mit ihm zu reden. Was konnte man Falsches sagen über dieses Nest aus Hunger und Siechtum? Wer aus den Schützengräben kam, wusste jedoch, dass hervorstehende Wangenknochen immer noch besser waren als ein Bajonett im Rücken oder Granatsplitter im Bauch. Wäre Liam nicht einen Kopf größer gewesen, hätte er ihn erneut angerempelt, damit sofort klar war, wer hier das Sagen hatte. Manche Kerle musste man provozieren, um sie zum Sprechen zu bringen.

      „Sag ‚aujourd’hui‘“, stichelte Jacques. „Wenn du das Wort richtig aussprichst, bist du entweder Belgier oder Franzose. Mach schon!“

      Liam


Скачать книгу