Verschwunden. Sylvia Kabus
existentiell, psychologisch und moralisch so umfassend, dass sie bei den meisten Menschen ernste Folgen verursachen mussten.«10 Die Stiefmutter bleibt eine Angstgegnerin. Doch warum beraubte sie sich des eigenen Stiefenkels? Zerstörungsdrang? Gehörte er zum Halbdunkel des Lebens in der DDR? Weckte die allgegenwärtige Nötigung zum »Mitmachen« derartig paradoxe, selbstschädigende Regungen?
Selbst in einem entschlossenen Menschen wie Frau S. lebt Angst nach erlittener Denunziation weiter. Schatten dieser Art haben eine lange Halbwertzeit; auch wenn bekannt ist, wer jemanden bezichtigte, bleibt etwas Gesichtsloses. Diese intensive Nachwirkung ist nur mit einem Lebensalltag zu erklären, in dem Recht hinter aufgezwungene Ideologie zurücktrat und selbst bei Beweisen staatlicher Fehleinschätzungen und -urteile keine Korrektur erfolgte. Edith Könze, ehemalige Journalistin und jahrzehntelang Mitarbeiterin der Arbeiter- und Bauerninspektion, einem DDR-Kontrollorgan mit Wurzelmyzel in viele Alltagsbereiche des Lebens hinein, bestätigte mir in zahlreichen persönlichen Gesprächen, dass es im Jugendhilfe-Bereich regelmäßig Denunziationen gab und danach »nicht lange gefackelt« worden sei. »Wenn da einer was sah, in der Nachbarschaft oder irgendwo, ging es ruckzuck. Das war rabiat, lange gefragt wurde nicht.« Oftmals sei die tatsächliche Situation gar nicht klar erwiesen gewesen und wurde nicht nachgeprüft, Anschuldigungen genügten für das, was sie »kurzen Prozess« nennt: fehlendes Gespräch und Vergewisserung, Entzug von Erziehungsrecht, Heimeinweisung, erzwungene Adoption.
Bürger wurden ebenso heftig zur »Mitwirkung« geworben wie bei Widerspruch sanktioniert. Eine Stunde Null des Vertrauens brachte der Sozialismus nicht mit sich. Zur Ausforschung von Familien hingegen, bei der Privates durchwühlt wurde auf der Suche nach der politischen Gesinnung von Menschen, waren Amt und »ehrenamtlichen Kräften« keine rechtlichen Grenzen gesetzt, wie sich aus den Akten erschließen wird. Das galt für Schule wie Betrieb, »Jugendhilfe« und ihre Kommissionen, Gewerkschaft und Wohnbezirksausschuss, für jede Organisation, jeden Bürger und jede Bürgerin. Ungute Vermischungen entstanden, aus Pathos und Revolutionsgehabe, aus Zwang und Verwundung. Eine Perversion von »Gemeinsamkeit«, die verhinderte, dass Lebensbereiche souverän gelebt werden konnten. Die charakteristische diffuse Verunsicherung im Inneren betraf nicht Ausnahmen, sondern war allgemein.
Hinter Glas. Lachen
Beschränkte Auskünfte
Im Stadtarchiv erfahre ich von der Leiterin, sie habe die Akten des DDR-Jugendamtes vernichten lassen. Die aus den Stadtteilen Südost oder Ost seien in einem Keller untergebracht und schimmlig gewesen, »das ging nicht mehr«. Einen Moment lang fällt mir nichts ein, das ich darauf sagen könnte. Auch sie schweigt. Schimmel? Schimmel sei gesundheitsschädlich. Sie wird ein wenig rot im Gesicht.
Anruf im Jugendamt und Frage nach dem Archiv. Das stimmt erst ratlos, »aber ich gebe Sie mal weiter«, heißt es, so lande ich bei einer Mitarbeiterin, die es betreue.
»Bei mir lesen Sie gar nichts! Alle vor Sechsundvierzig Geborenen sind im Container. Sie finden nichts. Fünf Jahre nach der Volljährigkeit kam alles weg in der DDR. Adoptionen: sechzig Jahre nach Geburt. Das ist der heutige Stand. Wenn ich nach bin mit DDR in zwei Jahren, gibt es überhaupt nichts mehr.«
Sie mag meine Fragen nicht, antwortet abgehackt.
»1994 bis 1998 ist alles weggekommen. Das Stadtarchiv hat sein Okay gegeben.«
»Wohin kamen die Akten? Was heißt weg?«
»Das wurde im Neuen Rathaus vernichtet. 1996 ist das Turmzimmer geräumt worden.«
Ich frage nach Adoptionen.
»Selbst das kriegen Sie nicht raus.«
»Das glaube ich nicht.«
»Viele Adoptionsakten sind wegen Zecken weggeschmissen worden. Sie waren verzeckt.«
»Verzeckt?«
»Verzeckt, und Wasserschaden.«
»Wer hat das entschieden?«
»Das Stadtarchiv. Sie können ruhig in die Adoptionsvermittlungsstelle gehen, Sie finden nichts.«
Ich sage, ich hätte den Eindruck, dass sie das freut.
»Von mir kriegen Sie gar nichts.«
Sie lässt keine nachdenkliche Ebene zu. Zwei Dinge verstärken sich gegenseitig: Die Breitseite der Verweigerung und der Grobianismus der DDR, authentisch wie am ersten Tag. Es scheint kein Gespräch möglich.
»Alles ist weg. Sie finden nirgends was. Es hat in der DDR keine Zwangsadoptionen gegeben. Es gab eine einzige, in Berlin. Eine. Gab es nicht. Hat’s nicht gegeben.«
Im allgemeinen Sozialdienst der Stadt explodiert eine Stimme, als ich frage, wie ich Frau N., das damalige amtliche Gegenüber von Herrn K. und Frau S., finden könne.
»Das dürfen Sie nicht, solche Fragen. Was weiß ich denn, wer Sie sind! Das ist alles Datenschutz. Sie dürfen gar nichts. Nichts.« Sie schreit. »Das Personalamt bewahrt Personalakten nur fünf Jahre nach Ausscheiden auf.«
Sie ist aufgeladen mit neuem Recht, versucht es laut bellend mit Einschüchterung. Neues Recht, neue Angst? Davor, die Demokratie nicht korrekt zu handhaben, ertappt, erkannt zu werden, die in der DDR innegehabte und heute fortgeführte Anstellung zu verlieren?
»Eine öffentliche Verwaltung gestattet zumindest Anfragen, auch nach einer ehemaligen Mitarbeiterin!«
»Gehen Sie zum Ordnungsamt. Zum Einwohnermeldeamt.«
»Mit nur einem Nachnamen?«
»Hier bekommen Sie nichts.«
Die lange zurückliegenden Geschichten von Herrn K. und Frau S. treiben mich an. Sie sind frisch, stechend, nichts daran ist abgeschliffen. Ich dränge, insistiere, frage weiter. Ignoriere, dass ich abgestoßen werden soll. Absurd. Nach all den Wagnissen, Verfolgungen, illegalem und offenem Widerstand in der DDR möchte man lieben, nicht erneut ankämpfen. Außerdem gibt es doch gar keine Gegenseite mehr. Oder?
Ein Überfall. Den Archivaren ist entgangen, dass sie mir Aktenkopien über Immobilienbewegungen in der DDR ausgehändigt haben. Aufzeichnungen über Verkäufe, zweifelhafte staatliche Vorgänge, politischen Druck, der ausgeübt wurde, um zu Grundstücksaneignungen zu gelangen. Nun haben sie es entdeckt. Überstürzt werde ich aufgefordert, zwei Mitarbeitern zu folgen. Es geht in eine enge Glaskabine, die ansonsten der Überwachung des Lesesaals zu dienen scheint. Hocherregt folgt eine Belehrung. Ich dürfe nichts »verwenden« von dem Gelesenen, keinen der Namen nennen, vor allem nichts über Immobilien. Ich verweise auf meine Bücher über die Friedliche Revolution und über vertriebene Juden der Stadt Leipzig, um Vertrauen herzustellen. Ein langjähriger Leiter des Archivs hat Letzteres positiv rezensiert, die Titel sind ihnen bekannt, scheinen die Bestürzung aber noch zu steigern. Ich muss an Jürgen Fuchs denken, dessen Mitarbeit in der Gauck-Behörde wegen »zu erwartender Veröffentlichungen« und »Indiskretionen sattsam bekannter Art und Weise«11 verhindert werden sollte. Und wie er selbst sich sah mit den Augen der Gegenseite: »Staatsfeind«, »schriftstellernder Dissident«, »Einzelkämpfer«, »einer von denen, die gefährlich waren und vielleicht noch sind«,12 »Menschenrechtler, leidgeprüfter Federfuchser«,13 »selbsternannter Stasijäger von der Straße«14.
Die Atmosphäre in dem Glaskasten bleibt irrational. Ich mache darauf aufmerksam, dass nicht ich verantwortlich sei für Akten, die mir ausgehändigt wurden. Wir kleben in der Vitrine, erstickend für alle, physisch und psychisch, wobei ich offenkundig die weniger Erschrockene bin. Angespannte Menschen. War die Freundlichkeit, Gelöstheit aller Offiziellen nach dem Herbst 1989 tatsächlich nur eine Momentsache? Ein historischer Augenblick, wie es so schön hieß, und jetzt ist nervöse Angst historisch?
Institutionen. Diese deutsche Lehre über Unmöglichkeit.
Als der Himmel am Nachmittag grau wird nach der weißen Sommerglut, hellgrau wie das Archiv, als draußen endlich Wind aufkommt, frage ich am Desk, ob man die Fenster im Lesesaal öffnen könne. Schweigend wird überlegt. Ziemlich lange. Tiefernste Augen sehen mich an. Jemand gestattet eine halbe Stunde Durchzug.
Ich