Verschwunden. Sylvia Kabus
er unterschrieben habe.
»Die Frau vom Jugendamt saß da und legte mir das hin, und ich musste unterschreiben. Es war halb verdeckt. Sie setzen nur den Namen drunter, hier! Entweder Sie unterschreiben oder Sie gehen ins Gefängnis. Das war das Einzige, was ich denken konnte. Gefängnis.«
Methoden von Jugendämtern, die zu Unterschriftsleistungen führten, nicht nur in diesem Fall. »Ich war so fertig und hatte solche Angst, dass ich alles machte, was er wollte. Er legte einen Brief hin, gab mir einen Kugelschreiber und diktierte«, berichtete die Mutter eines angeschossenen und infolgedessen ertrunkenen dreiundzwanzigjährigen Flüchtlings an der Berliner Sektorengrenze, der die Unterschrift sogar unter die Genehmigung einer sofortigen Einäscherung abgepresst wurde.3
»Ich hab gesagt: Ich habe jetzt mein Todesurteil unterschrieben. Das weiß ich noch.«
»Und die Frau?«
»Und die Frau: Ja, Sie können gehen. Das hat sich erledigt.«
Ich bin beschäftigt mit dem, was sich für das Amt »erledigt« hatte. Mit der Eile, der brutalen Selbstverständlichkeit. Der Überrumpelung.
»Das war eine schlaflose Nacht danach, der Kopf wie ein Hubschrauber, es hörte nicht auf. Was heißt eine? Es ging immer so weiter. Danach hat sich keiner mehr Gedanken darum gemacht. Das war die DDR. Nach Neunundachtzig haben sie die Frau rausgeschmissen.
Die Kleine kam zuerst in ein Kinderheim, drei war sie da. Am Straßenbahnende Rosental, dann links, eine Villa. Sie hing mir am Herzen. Ich habe sie noch jeden Tag besucht, nach der Arbeit bin ich hingefahren, die kannten mich dort schon. Es war sauber, sie waren höflich, es war nicht abgeschottet. Soweit. Aber ...«
»Hat Ihnen niemand geholfen? Beigestanden?«
Das Wort, höre ich selbst, mag hinpassen, wo immer es will, doch gewiss nicht zu der damaligen Situation.
Sofort sieht er mich mitleidig an.
»Das war so. Margot Honecker. Das werden Sie doch wissen. Die war die Schlimmste. Damals brauchte bloß einer sagen, gucken Sie mal dorthin, und die kamen vom Jugendamt, so war das.«
»Die gnadenlose Staatsgouvernante« und ihr Ministerium für Volksbildung waren für das System von zentraler Bedeutung und rangierten gleich hinter der Staatssicherheit, urteilte Uwe Hillmer.4 Der Schrecken, den ihr Wirken verbreitete, führte dazu, dass fast jeder ihren Namen kannte. Zusammen mit dem Zentralen Jugendhilfeausschuss beherrschte sie die Volksbildung von 1963 bis 1989: zehn Personen, die sie jeweils persönlich berief, mit denen auch die rechtsverbindlichen Richtlinien für die Jugend»hilfe« geschmiedet wurden. Unter ihnen Eberhard Mannschatz, Leiter der zentralen Abteilung Jugendhilfe und Heimerziehung, von dem zu sprechen sein wird.
»Wie sie aussah? Ich weiß, wie: Eine kleine, niedliche Person. Ganz kurze Haare, braun, wie meine. Wenn ich kam, war das Erste, die Arme vor – und gedrückt.
Sie war glücklich, wenn ich kam. Auszustehen hatte sie soweit erst mal nichts, es waren viele dort. Ich ging hin, immer wieder. Aber auf einmal war sie fort.«
Hinbestellt, gezwungen. Unterschrieben.
Ein kleiner Plastikhund mit Wackelkopf steht auf dem Tisch. Ich tippe ihn an. Aus einem Billigladen in Reudnitz, sagt Herr K.
Angeblich »nicht ausreichende Sozialität« oder »Asozialität« Einzelner war für den Staat unter Umständen schnell zur Hand. Eine Dunkelzone, bei der es um anderes ging als es scheint: nicht um Überforderung von Eltern durch Haushalt und ihre Beziehungen im Alltag, nicht um Schwäche von Menschen, die Unterstützung brauchten und nicht erhielten. Dem Staat ermöglichte dieser Vorwurf, Grundrechte und Pflichten zu verletzen, unliebsame Personen einzuschüchtern, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Zwang, Erpressung, Anschnauzen, Belügen, dabei Gleichgültigkeit, kalt. Versagen praktizierte der Staat.
Er hinterließ Menschen, deren Lebensbeschädigung und Beraubung keinen Lärm hervorruft, die auf Menschenrechte nicht hoffen konnten, auch wenn diese offenkundig auf ihrer Seite waren. Ein Merkmal von Sozialismus: Die schwer überwindliche Entfernung des Einzelnen zu dem, was einem Menschen zustand.
Jahrzehntelang ist Herr K. damit allein geblieben. Ist niemals, fünf, zehn, fünfzehn Jahre nach Ende der DDR, jemand zu ihm gekommen?
»Nein.«
Ein schlechter Lebensstart, problematische, doch nicht unbedingt »asoziale« familiäre Bedingungen, die schmerzliche Benachteiligung, nicht bei den eigenen Eltern oder einem Teil von beiden aufgewachsen zu sein, diese Not ist vom sozialistischen Staat weit seltener als behauptet durchbrochen worden. Paul Ingendaay schreibt von »sogenannten Asozialen«, die in die Mühlen des Terrors nach 1933 gerieten und die »für die Historiker und Gedenkverbände ohnehin selten eine Rolle gespielt« haben.5 Was er für die Epoche des Nationalsozialismus konstatierte, fand in der DDR eine Fortsetzung in autoritären Vertretern von Staat oder Verwaltung, deren Macht, anstelle des vom Volk beauftragten Dienstes, lähmte und in chronische Beunruhigung versetzte.
»Ich hatte Angst vor der Polizei. Das war das Einzige, was ich denken konnte. Die Frau kam mir vor wie von der Stasi. Ich habe mir das hinterher überlegt. Sie war sich sicher, dass ich unterschreiben würde, ihr Gehabe war genau so. Abfällig bis zum Letzten, die ganze Zeit über. Ich fühlte mich wie ein Stück Müll.«
Eine Diktatur, die jene verschreckte, für die sie angeblich arbeitete und »kämpfte«. Trotzdem. Seine Unterschrift. Unterschrieben, und ein Kind dahin und weg?
»Das Gefängnis«, wiederholt er nach einer Weile.
Unruhe ist ihm anzumerken. Vielleicht sehen wir uns wieder, denke ich, vielleicht kann ich später noch einmal danach fragen.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei dem, was Sie suchen, nun nicht helfen kann«, sagt er noch einmal freundlich.
Es spiele keine Rolle, verglichen mit dem, was ihm geschehen ist, erwidere ich. Ihm geschehen, seiner Tochter.
»Das Jugendamt hätte Ihnen helfen müssen.«
»Die haben gar nicht gewartet«, antwortet er, »ob sich das mal wieder ändert und wir einen Weg finden mit den Kindern. Weg! Ich hab dann viel getrunken, bin abgerutscht, weil ich so eine Wut auf das Jugendamt hatte, das war schlimm. Später erst habe ich mir langsam wieder eine Familie aufgebaut.«
Die Tür zum Balkon steht auf. Draußen die breite Straße zwischen sanierten Wohnblöcken, licht, hier und da alte, belassene Laubbäume. Hinterher werde ich das fotografieren. Ich muss. Ich darf es nicht vergessen, denke ich, und: Warum? Warum muss ich ewig fotografieren, was ich doch kenne?
Das früher düstere Areal des Rabet-Volksparks zwischen den Leipziger Stadtteilen Neuschönefeld und Volkmarsdorf ist umgestaltet. Grundstücke und Straßen wurden entwidmet, Tausende Bäume angepflanzt. Kletterschiffe, Treffpunkte mit grellbunt gesprayten Fassaden. Im Wind zittern junge Baumkronen. In den Neunzehnhundertachtzigerjahren lief ich regelmäßig durch das Viertel, zu alleinstehenden Rentnern und Sterbenden und betreute sie nebenberuflich im Wechsel mit der Gemeindeschwester. Beharrliche, widersprüchliche Erfahrungen. Erschrockene Anspannung, ständige Sorge, dazu etwas Unbestimmtes, vielleicht weil es eine Arbeit fast ohne institutionellen Rahmen war. Mensch. Und Mensch. Sonst nichts. Mein Roman darüber durfte nicht erscheinen, erst 2009.6 Manchmal, wenn ich von den »Betreute« genannten Alten in ihren halbdunklen Wohnungen kam, war ich grundlos froh. Sie waren nur für den Moment versorgt, sie konnten morgen sterben oder in derselben Nacht, das Zusammensein hatte aber dennoch die Kraft, dass ich stärker durch die Straßen ging. Durch diese Straßen. Da draußen. Vor dem Fenster.
Herr K. arbeitete nach der Anstellung im Gartenbau fast das ganze Leben in der Leipziger Wollkämmerei, sagt er, bis er nach Neunzehnhundertneunundachtzig erfuhr, dass er nicht mehr gebraucht würde. Heute fährt er Werbung aus, um etwas dazu zu verdienen. Das Austragen mit dem schweren Wagen war eine Umstellung, manchmal steckte er die Werbung bei jedem Mieter ein, ohne zu wissen, wer inzwischen ausgezogen war, dann fehlte das am Ende. Er muss ziemlich weite Strecken abfahren. Vor kurzem ist er bei einem Zusammenstoß voll über das Fahrrad gestürzt und hat sich dabei das Knie zerstört.