Praxisbuch psychologische Kinesiologie. Dr. Christa Keding

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bestimmte Vorarbeiten mit dem Muskeltest, aber auch Augenstellungen, Farbwirkungen und Reflexzonenbehandlungen, und wegen dieser verschiedenen Komponenten fielen mir Erklärungen noch schwerer. Darüber hinaus forderte die komplexe Methode von mir, eine Fülle von Abläufen im Kopf zu haben und rechtzeitig an alles zu denken, was es beim Stress Release zu tun galt, um auch nichts falsch zu machen. Das war für mich im Rahmen einer Praxis voller Patienten mit Husten, Rückenschmerzen und Bluthochdruck meist nicht zu bewältigen.

      „Notgedrungen“ ließ ich mich dann doch hin und wieder darauf ein, mit Patienten auf diese Weise zu arbeiten, vor allem, wenn sie schon eine therapeutische Odyssee hinter sich hatten und für jede mögliche Hilfe dankbar waren. Dabei ertappte ich mich dann das eine oder andere Mal dabei, dass ich irgendetwas aus der Komplexität der Abläufe beim Stress Release vergessen hatte – und es wirkte trotzdem. Irgendwann griff ich schließlich auch einmal ganz ohne sonstige Vorbereitungen zum Halten der Stirnpunkte – und auch das wirkte! Auf diese Weise „verlor“ sich über die Jahre hinweg ein Behandlungselement nach dem anderen; Bestand hatte als einziges die symmetrische Berührung der Stirnbeinhöcker.

      Erstaunliche Wende

      Auf Empfehlung seiner Frau, die meine Arbeit kannte, suchte mich Gerd P. auf. Von sich aus war er eigentlich therapiemüde, litt aber wie schon seit Jahren unter erheblichen Minderwertigkeitsgefühlen. Oft glitt er in Ängste und Depressionen ab, weil ihm zwar klar war, dass er als Gartenbauarchitekt viele kreative Ideen hatte, er sich jedoch nie traute, damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Wegen dieser seelischen Belastung hatte er bereits drei Jahre Psychotherapie hinter sich. Er kam zu mir mit den Worten: „Ich weiß doch, wodurch ich mich so entwickelt habe, ich kenne meine Geschichte in- und auswendig – es nützt mir nur nichts!“ Natürlich mussten wir sein Thema noch einmal aufgreifen, „durchkauen“, mussten es in den Gehirnzentren aktivieren, allerdings diesmal mit der Absicht, dieses erneute Auffrischen der Erinnerung in ein Stress Release zu überführen. Was dann auch geschah.

      Zwei Jahre später rief Herr P. mich an mit der Bitte um einen neuen Termin. Die Zeitplanung war schwierig, weil er zu dieser Zeit ständig auf Vortragsreise (!) war. Bei unserem Treffen erzählte er mir, dass wider Erwarten seit dem Stress Release etwas Entscheidendes anders geworden sei: „Meine Erinnerung an die alten Geschichten ist immer noch dieselbe, aber sie belastet mich nicht mehr, ich bin freier geworden.“

      Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ohne die lange therapeutische Vorarbeit wäre es wohl kaum allein durch Stress Release in einer einzigen Sitzung zu solch einer Wende gekommen. Doch das Stress Release hatte offenbar etwas bewirkt, was die Einsicht in die Zusammenhänge allein nicht bewirkt hatte.

      Gerd P. war nicht der Einzige, mit dem ich Ähnliches erlebt habe, aber bei ihm war der Prozess durch die Kürze der Intervention besonders eindrucksvoll. Man stelle sich vor, was gewonnen werden könnte, wenn dieses Stress Release in psychotherapeutische Praxen Einzug halten würde, wenn also die eine oder andere Sitzung nach einem Gespräch mit der Stress-Release-Technik abgeschlossen würde, die offenbar „irgendwie“ eine andere Ausgangsbasis herstellt … Das sollten wir uns genauer ansehen.

      Hier stellen sich zwei Fragen: Zum einen wäre zu klären, wieso mir etliche Elemente meiner ursprünglichen Ausbildung „verloren gehen“ durften, ohne dass offenbar – soweit man das überhaupt vergleichen kann – die Ergebnisse darunter gelitten hatten. Auf diesen Aspekt, der vermutlich besonders diejenigen interessieren dürfte, die in Ausbildungen oder als Patienten bereits andere Arbeitsweisen kennengelernt haben, gehe ich im Kapitel „Die Psyche in Resonanz bringen“ ein, weil sich erst dort die von mir vermutete Erklärung erschließt.

      Zum anderen wäre natürlich (und hauptsächlich) zu überlegen, wie wir die Erfahrungen mit Stress Release neurophysiologisch erklären können. Dem soll unsere nächste Betrachtung gelten.

      eine synaptische Weichenstellung?

      Wie erwähnt wurde nachgewiesen, dass sich bei längerer Berührung gewisser Punkte am Kopf die Durchblutung korrespondierender Gehirnareale verändert. Es liegt nahe, dass vermehrte Hirndurchblutung einhergeht mit gesteigerter neuronaler Aktivität; das heißt, dass das, was in diesen verstärkt durchbluteten Gehirnregionen repräsentiert ist, währenddessen sehr rege ist. Eine Grundlage von Stress Release ist also, dass wir von außen, nämlich durch Berührung, vorsichtig gesagt Einfluss auf innere Vorgänge nehmen.

      Für unsere gewünschte Wirkung setzen wir voraus, dass es nötig ist, die Therapiepunkte am Kopf (in unserem Fall nur die Stirnbeinhöcker) seitengleich, symmetrisch zu berühren. Folglich dürften dann in beiden Gehirnhälften korrespondierende Zonen aktiviert werden. Welchen Sinn aber sollte das haben, warum „bewirkt“ das etwas Wesentliches?

      Grob vereinfacht (aber als therapeutische Grundlage ausreichend) lässt sich sagen, dass ein Schlüsselverständnis für das Stress Release in der unterschiedlichen Funktionsweise unserer beiden Gehirnhälften liegt. Beide arbeiten mit sehr spezifischen Qualitäten, die man in aller Kürze so auf den Punkt bringen könnte: Von der Aufgabe der motorischen Steuerung und der Verarbeitung von Sinneseindrücken einmal abgesehen, funktioniert die linke Hemisphäre in ihrer Arbeitsweise denkend-analytisch, die rechte bildhaft-synthetisch; die linke eher linear-logisch, die rechte komplex-assoziativ; die linke sprachlich, die rechte empfindend; die linke mathematisch, die rechte musisch.

      Jede der beiden Hemisphären geht mit dem, was im Leben geschieht, qualitativ anders um, und da kann es schon einmal zu Differenzen oder Kollisionen kommen. Wenn das passiert, leidet der Mensch unter einem Konflikt oder unter anderen Nöten. Doch wie kommt es dazu?

      Üblicherweise brauchen wir für alle Fähigkeiten und Tätigkeiten unseres Alltags ein synchrones (also zeitgleiches) Zusammenspiel beider Hemisphären, mal ein wenig mehr rechtslastig, mal ein wenig mehr linkslastig. Durch Einüben und Wiederholen werden dann mittels zunehmender synaptischer Verknüpfungen Schaltkreise im Gehirn aufgebaut, die Gewohnheiten schaffen und rasche, automatisierte Handlungen ermöglichen.

      Nun kann es – weiterhin vereinfacht ausgedrückt – zu Situationen kommen, in denen in einer Hirnhälfte ein Schaltkreis bereits (einseitig) ausgebildet ist, ohne dass die andere Hemisphäre davon „weiß“. Das gilt ganz besonders für die sehr frühen Erfahrungen unserer Lebensgeschichte, die wir nur empfindend, fühlend, ganzheitlich erleben – wie es die rechte Gehirnhälfte abbildet. Die Fähigkeiten der linken Hälfte entwickeln wir erst später, wenn wir bewusst zu denken beginnen und schreiben und rechnen lernen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind aber schon viele Schaltkreise angelegt und verstärkt worden, die unabhängig von der Mitwirkung der linken, denkenden Seite eine Art Eigenleben führen. Wir sind – was unser Gefühlsleben angeht – in unseren Reaktionsweisen längst geprägt, bevor wir uns darüber Gedanken machen können.

      Daran ist an sich noch nichts Verkehrtes, ja, viele „Schaltkreise“ und damit verbundene psychosoziale Prägungen sind ausgesprochen nützlich als Grundlage für unser menschliches Miteinander – wir nennen das „Erziehung“. Aber nicht jeder Einfluss aus unserem Umfeld dient uns, manches verletzt nachhaltig, manches wird unserem individuellen Charakter nicht gerecht, mancher „Stempel“ aus früheren Jahren steht einem gesunden Selbstgefühl oder liebevollen und förderlichen Beziehungen im Wege. (Das Thema Prägungen wird uns noch ausführlicher beschäftigen.) Fortan werden in ähnlichen Situationen durch Reizworte oder bildhafte Auslöser geradezu automatisch dieselben neuronalen Spurrillen abgefahren und somit immer wieder dieselben negativen emotionalen Reaktionsweisen angestoßen – ein Dominoeffekt der Neuronen, der oft unbemerkt vom Bewusstsein abläuft.

      Wenn wir dann eines Tages in Bedrängnis geraten, weil unser Wollen und unsere Einsicht ausgebremst werden durch Ängste, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Beziehungskonflikte oder selbstzerstörerische Verhaltensweisen, geraten wir vielleicht an einen guten Therapeuten, mit dem wir unsere Lebensgeschichte aufarbeiten und hinter unseren heutigen Reaktionsweisen die Wurzeln frühkindlicher Erfahrungen entdecken. Doch wie viele Menschen haben es nicht schon erlebt, dass sie zwar nun


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