Praxisbuch psychologische Kinesiologie. Dr. Christa Keding
Aussagen von Patienten nach dem Stress Release beschreiben das Ergebnis dieses inneren Vorgangs recht einheitlich – so, wie es bereits bei der Selbsthilfeversion von Stress Release anklang: Sie geben an, sich ruhiger, klarer, stabiler, zuversichtlicher, geordneter zu fühlen. Oder noch allgemeiner könnte man sagen: Sie sind jeweils ein Stück mehr zu sich gekommen, „bei sich“. Das kann sich sogar darin ausdrücken, dass jemand nach dem Stress Release weint oder auf andere Weise emotional betroffen ist, wenn bis dahin eine solche persönliche Besinnung noch nie zugelassen wurde.
Tiefe emotionale Wirkung
Ich begleitete eine Patientin schon eine Weile durch sehr kritische Zeiten in beruflichen und familiären Umbrüchen. Sie arbeitete unter schwierigen Umständen in einer verantwortungsvollen Position, hatte drei kleine Kinder und kaum praktische Unterstützung in der Bewältigung des Alltags. Immer wieder ging es um die Entscheidung über den richtigen Weg für sie, damit sie unter der Last nicht völlig zusammenbrach.
Nach einem Stress Release, das wir an ein Gespräch zu einem eher alltäglichen Thema anschlossen, brach sie in Tränen aus. Einen Augenblick lang war ich verunsichert, weil ich damit nicht gerechnet hatte. Mein erster Gedanke war, dass ich ihr in dieser Sitzung vielleicht nicht gerecht geworden war und unterschwellig ganz andere Fragen angestanden hätten. Auf meine Nachfrage sagte sie, dass sie während der letzten Minuten zum ersten Mal in aller Deutlichkeit gespürt habe, wie sehr sie jede Art von Selbstfürsorge über Jahre hinweg ignoriert habe. Sie sah, wie wenig sie sich zugestand, dass sie unter der maximalen Überforderung litt. Sie war erschüttert – aber sie stand kurz darauf erfrischt auf mit den Worten: „Jetzt weiß ich endlich, worum ich mich kümmern muss!“
Ziel und Ergebnis des Stress Release ist also keineswegs ein oberflächliches Wohlbefinden, sondern ein Zu-sich-Kommen. Und das kann sich durchaus unterschiedlich ausdrücken, eben auch durch emotionale Betroffenheit.
Die praktische Durchführung
Wenn auch Sie sich nun angeregt fühlen, das Stress Release in therapeutische Begleitungen zu integrieren und erste Erfahrungen bei Ihren Patienten zu sammeln, dann sollten wir an dieser Stelle noch zwei Dinge konkret ansprechen: die möglichen Gelegenheiten zur Anwendung und vor allem den Ablauf und die Rahmenbedingungen.
Wegen seiner ordnenden und ausgleichenden Funktion hat das Stress Release breit gefächerte „Indikationen“:
– als Selbsthilfe in aufwühlenden oder belastenden Situationen (wie bereits angesprochen). (In diesem Sinne kann ein kurzes Stress Release den Patienten auch schon vor der eigentlichen Bearbeitung angeboten werden, falls sie angespannt, nervös oder hektisch zum Termin erscheinen.)
– als Abschluss einer Gesprächssitzung – damit sich alles Bearbeitete setzen, ordnen und verankern kann.
Das Vorgehen:
● Grundsätzlich erkläre ich meinen Patienten vorab Sinn und Ablauf der Stress-Release-Technik. Meist nutze ich dafür das Erstgespräch, wenn ich sie mit meiner Arbeitsweise vertraut mache; selten muss ich es unmittelbar vor der Durchführung erklären. Dann allerdings spreche ich nur ganz kurz davon, „das Gehirn zu unterstützen, die besprochenen Dinge durch eine Reflexbehandlung zu ordnen“ – um die Aufmerksamkeit nicht zu sehr vom Thema abzuziehen.
● Für meine Patienten habe ich einen bequemen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne und Fußteil angeschafft, auf dem sie die ihnen angenehmste Position wählen können. Natürlich lässt sich das Stress Release auch auf einer Liege durchführen (oder notfalls im Sitzen, wie bei der Selbsthilfe vorgeschlagen). Aber der „Stress-Release-Stuhl“ war eine lohnende Investition, weil sich die Patienten jederzeit, auch während des „Gesprächs auf Augenhöhe“, gut aufgehoben fühlen und bei Bedarf in eine fast liegende Position gleiten können.
● Ich informiere die Patienten über die ungefähre Dauer des Stress Release, damit sie sich auf diesen Zeitrahmen einstellen können.
● Dann bitte ich sie, während der Dauer des Stress Release all das, was in unserer Sitzung angesprochen wurde, und alles, was ihnen dazu einfällt oder in ihnen aufsteigt, ohne Bewertung wirken zu lassen. Das können Gefühle sein, Gedanken, Erinnerungen, Bilder – oder auch Leere. Ich betone, dass man dabei nichts falsch machen kann, weil das Gehirn durch unsere Vorarbeit schon alle entsprechenden Zonen aktiviert hat.
● Ich empfehle, währenddessen die Augen zu schließen, damit man besser „bei sich“ ist. Wenn jemand sich dadurch geängstigt fühlen sollte, funktioniert es grundsätzlich auch mit offenen Augen.
● Schon während meiner einleitenden Worte lege ich Daumen und Zeige- / Mittelfinger meiner Hand ohne Druck auf die Zonen der Stirnbeinhöcker und belasse sie ruhig in dieser Berührung – bis zum Schluss.
● Während des Stress Release wird in der Regel nicht gesprochen, weil das Reden ein tieferes Eintauchen in die inneren Prozesse verhindert, und es finden auch keine sonstigen parallelen Interventionen statt.
● Mit dem einhändigen Selbsttest der freien Hand (siehe „Essentials zum Muskeltest“ im Anhang) teste ich wiederholt, ob das Stress Release noch fortgesetzt oder beendet werden soll. (Alternativen hierzu spreche ich weiter unten an.)
● Das Stress Release beende ich, indem ich vor dem Lösen der Hand von der Stirn kurz die Schulter des Patienten berühre, um darauf aufmerksam zu machen, dass sich jetzt etwas ändert. (Für manche fühlt es sich etwas unangenehm an, wenn das Berühren der Stirn ohne Vorankündigung plötzlich aufhört.)
● Abschließend frage ich nach dem Befinden und gebe, wenn es gewünscht wird, kurz Gelegenheit, etwas zu dem Erlebten zu sagen (zwei bis drei Minuten). Um den Eindruck des Stress Release nachwirken zu lassen, gehen wir aber nicht noch einmal ins Gespräch, sondern fassen die Verabschiedung kurz.
Die Dauer der Stress-Release-Anwendung
Bei der Selbsthilfeanwendung des Stress Release habe ich bereits erwähnt, dass sich in meiner Praxis und in unseren Seminaren eine Maximalzeit von etwa zehn Minuten herauskristallisiert hat. In meiner Anfangszeit der Anwendung der psychologischen Kinesiologie kamen allerdings auch deutlich längere Zeitspannen vor, bis zu zwanzig Minuten. Wenn ich die Situationen rückblickend vergleiche, fällt mir als wesentlicher Unterschied auf, dass ich anfangs noch „breiter“ gefächert gearbeitet habe. Ich versuchte damals, alles mögliche, was für meinen Patienten als Stress infrage kommen könnte, innerhalb einer Sitzung ins Lot zu bringen. Das kostet natürlich auch das Gehirn eine längere Zeit des Ordnens. Die Ergebnisse waren jedoch nicht so befriedigend, wie ich es erhofft hatte; sowohl die Patienten wie auch ich selbst gingen aus einer solchen Begegnung oft eher angestrengt oder sogar verwirrt hervor.
Schließlich reduzierte ich die Themen unserer Sitzungen. Entweder erkannten wir hinter mehreren „Baustellen“ ein verbindendes Thema – was sehr häufig der Fall ist –, gingen dem nach und bearbeiteten diesen zentralen Knotenpunkt (– für das Gehirn übersichtlich und beim Stress Release weniger zeitintensiv). Oder wir beschränkten uns auf einen Themenbereich, der gerade besonders „pressierte“ – womit der Verarbeitungsvorgang für das Gehirn auch wiederum handlich wurde. Im Gesamtergebnis waren solche Sitzungen weitaus effektiver als meine frühere komplexe Herangehensweise, wir waren nach der Sitzung nicht erschöpft, sondern geklärt und erfrischt, und die weitere Entwicklung konnte viel konkreter anhand des umrissenen Themas beurteilt werden.
Sobald Sie den Muskeltest beherrschen, können Sie mit seiner Hilfe natürlich die individuellen Empfehlungen zur Dauer des Stress Release vom Patienten selbst einholen (siehe Anhang, „Dialogtest“). Oder Sie nutzen (wie ich selbst) den Selbsttest. Solange Sie nicht mit dem Muskeltesten vertraut sind, sind Sie mit pauschal zehn Minuten im Prinzip auf der sicheren Seite.
Und was ist mit der Alternative, dasselbe Entscheidungskriterium anzuwenden, das ich beim Selbsthilfe-Stress-Release empfohlen habe?: Sie könnten Ihren Patienten bitten, die Augen von sich aus zu öffnen, wenn sich der Eindruck festigt, dass es „gut“ ist oder dass die anfänglichen Bilder und Gedanken zurücktreten.