Praxisbuch psychologische Kinesiologie. Dr. Christa Keding
Gefühlsäußerungen sehr linear mit dem Körper in Verbindung bringen, stehen hinter vielen Erkrankungen ebenfalls oft komplexere seelische Lasten, die es aufzudecken und zu bearbeiten lohnt.
Der dritte Schlüssel: „Herauskristallisieren“
Die größtmögliche Wirkung beim Stress Release scheinen wir zu erzielen, wenn nicht möglichst vieles oder gar „alles“ in Angriff genommen wird, sondern wenn sich die Problemsituation eines Patienten verdichten lässt auf das Kernproblem, das hinter seinen Schwierigkeiten steht. Wenn man mittendrin steckt, wie das ja bei Betroffenen der Fall ist, „sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Wir können hundert Tipps von Eheexperten beherzigen, uns eine gemeinsame Auszeit zu gönnen oder jede Woche einmal 15 Minuten miteinander frei zu reden, aber wir werden in der Regel nur selten einen wirklichen Durchbruch schaffen, solange wir nicht unser verstelltes Reaktionsmuster erkennen, durch dessen Brille wir den Partner sehen.
Die therapeutische Aufgabe, mit dem Patienten immer wieder auf den „springenden Punkt“ zuzuarbeiten, profitiert von Hilfsmitteln wie:
●Zusammenfassen: „Verstehe ich es richtig, dass Sie sowohl bei Ihrem Chef wie bei Ihrer Schwiegermutter und bei Ihrem Sohn immer wieder erleben, dass Sie wie ein Kleinkind behandelt werden?“
●Überspitzen: „Könnte man sagen, dass Sie sich von allen untergebuttert fühlen?“
●(Wohlwollende) Provokation: „Und Sie wären glatt bereit, nicht nur sich selbst, sondern nun auch noch Ihr Kind von Ihrem Mann verprügeln zu lassen?“
Es würde hier zu weit führen, auf diese Aspekte einzeln näher einzugehen. Da aber gerade das Verdichten, Konkretisieren und Überspitzen im richtigen Rahmen und auf entsprechender therapeutischer Basis dem Patienten oft überhaupt erst seine eigene Haltung deutlich macht, sollten diese Gesprächswerkzeuge hier zumindest erwähnt sein.
Der vierte Schlüssel: Den Blick wenden
Ein letzter Aspekt der Gesprächsführung wendet sich in eine andere, aber im wahrsten Sinn des Wortes „entscheidende“ Richtung. Haben wir bislang angesprochen, was den Patienten belastet oder ihm im Wege zu stehen scheint, und uns bemüht, sein problematisches Reaktionsmuster konkreter und deutlicher werden zu lassen, so öffnet sich der Blick jetzt nach vorn, in Richtung auf eine wünschenswerte Alternative. Wenn diese aus der Wurzel des Problems heraus, nämlich aus den eigenen Prägungen und Erlebensweisen, entwickelt werden, wird die gewünschte Veränderung umso stimmiger und nachhaltiger sein.
Während wir in einem späteren Kapitel noch konkrete Begleitmaßnahmen ansprechen werden, die einem angestrebten Ziel zuarbeiten, soll hier die Tür zu Lösungsmöglichkeiten zunächst nur einen Spalt breit geöffnet werden. Mit einer solchen Blickwendung müssen noch keine konkreten Perspektiven zum Problem selbst aufscheinen, aber es sollte ein erster Beitrag erkennbar werden, den der Patient auf einem möglichen Lösungsweg leisten könnte.
In diesem Sinne gehören hierher Fragen nach stärkenden Ressourcen – wobei sich als Minimum vielleicht die Entscheidung für eine verbindliche therapeutische Begleitung anbietet, aber auch das wäre schon ein erster Schritt, ein „Halteseil“ für den weiteren Prozess. Den meisten Menschen fallen jedoch bei dieser Blickwendung noch weitere Möglichkeiten ein, sich in einem Veränderungsprozess bestärken zu lassen.
Gesprächsleitfäden
Wenn wir beim Bild der Schlüssel bleiben, möchte ich Ihnen an dieser Stelle noch einen „Spezialschlüssel“ in zwei Varianten vorstellen, nämlich Gesprächsleitfäden, wie ich sie einmal im Rahmen unserer Ausbildungskurse entwickelt habe. Damit wollte ich eine Verbindung von freiem Gespräch und leitender Struktur anbieten. Was als Übungsgrundlage begann, wurde dann aber sogar von einigen Teilnehmern in ihre therapeutische Praxis übernommen. Denn ein solcher Leitfaden leistet beispielsweise dann gute Dienste, wenn wir ungeplant auf eine akute seelische Notlage eines Patienten eingehen müssen (was üblicherweise unseren gesamten Terminplan zu sprengen droht). Aber mit dem Einsatz von zehn bis maximal zwanzig Minuten können wir einen Menschen in der Regel aus dem gröbsten Tief erstaunlich gut herausholen, wenn wir ihn „an die LEINE“ nehmen.
Die Abkürzung LEINE ist eine Eselsbrücke und steht für die Abfolge der folgenden Gesprächsbausteine:
L: Was ist los? (Den Patienten gefühlte 3 Minuten frei sprechen lassen)
E: Emotion: Was empfinden / fühlen Sie dabei? Wie geht es Ihnen damit?
I: Intensität: Was ist gerade am schlimmsten daran?
N: Nützliches, „Notwendendes“: Was hat Ihnen in ähnlichen Krisen geholfen?
E: Ermutigung (Ausdruck von Empathie; Empfehlen konkreter Maßnahmen)
Als Beispiel dokumentiere ich hier einen Auszug aus einem 20-Minuten-Gespräch inklusive Stress Release:
„Möchten Sie darüber reden?“
Bei einem Routinetermin zum Besprechen von Laborbefunden bricht es aus einem Patienten heraus: „Wenigstens das ist in Ordnung – wenn schon meine ganze Welt gerade zusammenbricht!“ Mit dem Angebot „Möchten Sie darüber reden?“ lade ich ihn ein: „Erzählen Sie mal, was los ist!“
Der Mann erzählt, dass sein erwachsener Sohn sein Examen wiederholt nicht bestanden habe und ihm immer noch auf der Tasche liege, dass er wohl seinen eigenen Arbeitsplatz wegen Umstrukturierung der Firma verlieren werde, die Raten des Hauses dann nicht mehr abtragen könne und dass er sich nicht traue, mit seiner Frau über all das zu reden.
Nachdem durch das Aussprechen der erste Druck genommen ist, stelle ich die Frage nach den Emotionen: „Und wie geht es Ihnen damit?“ Oder: „Und wie fühlen Sie sich bei all dem?“ – Er spricht daraufhin von Verzweiflung, Sorgen, Ausweglosigkeit, Ohnmacht.
Meine nächste Frage, ob er benennen könne, was ihm davon am meisten zu schaffen mache (Intensität), beantwortet er mit der Angst, dass er all dem nicht gewachsen sei und dass daran seine Beziehungen zerbrechen könnten. (Gerade an diesem Punkt ist es meist sinnvoll, etwas länger zu verweilen, weil er zum Ansatz der nötigen Veränderung führt.)
„Ich kann gut verstehen, dass Sie das fertigmacht. Lassen Sie uns deshalb Ausschau halten, was Ihnen im Moment weiterhelfen könnte. Bestimmt haben Sie in Ihrem Leben auch zu anderen Zeiten schon Schwieriges erlebt oder Krisen durchgemacht – was hat Ihnen dabei geholfen?“ (Frage nach „Not-wendendem“, Nützlichem)
Er besinnt sich, dass in Krisen immer ganz besonders wichtig war, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Dabei fällt ihm ein Freund ein, mit dem er einiges durchsprechen könnte, aber auch der Gedanke, sich kurzfristig therapeutisch unterstützen zu lassen. Außerdem erinnert er sich an sein grundsätzliches Gottvertrauen und will daran wieder anknüpfen. Und er entscheidet, dass er doch, vielleicht mithilfe eines Therapeuten, das Gespräch mit seiner Frau suchen wolle. Er atmet auf.
Ich versichere ihm noch einmal, dass ich seine Lage verstehe, dass ich aber auch die Hoffnung aus seinen letzten Gedanken heraushöre (Ermutigung). Seinen noch vagen Entschluss, eventuell professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, unterstütze ich (Ermutigung) mit dem Angebot, einen weiteren Gesprächstermin zu vereinbaren (oder Kontakte zu Therapeuten herzustellen).
Es ist schon erstaunlich, in wie vielen Fällen eine solche „LEINE“ genau das Seil ist, mit dem sich ein Patient vor einem Absturz „gesichert“ fühlt! Dabei sind die von mir angegebenen zwanzig Minuten nur ein ungefährer Anhaltspunkt. Oft reichen schon zehn Minuten, um zu einem guten Punkt zu kommen. Andererseits kenne ich einige Therapeuten, die die meisten ihrer Sitzungen an diese Gesprächsstruktur anlehnen, auch wenn sie wesentlich mehr Zeit einräumen. Denn das Prinzip bewährt sich in vielen Situationen:
Aus einer Komplexität von Ereignissen und Umständen führt die Frage „Wie fühlen Sie sich dabei?“ zum Erleben des Patienten zurück. Damit wird er sich seiner selbst im gesamten Geschehen wieder bewusst. Die Frage