Die Kraft der Präsenz. Richard Moss
Andererseits ist das Ganze vielleicht doch nicht so geheimnisvoll, wie es zunächst scheinen mag: Sie kämpft nicht gegen den Tod an, sondern gibt sich dem hin, was ist. Und das bedeutet, im Bett zu bleiben und ein bewusster Teil des Sterbeprozesses zu sein, wenn er denn ansteht. Sie hat sich selbst gefragt, welche Art von Tod sie sich wünscht, und gründlich darüber nachgedacht. Ihre Entscheidung lautet: „Ich will bis zum Ende alles liebend annehmen.“ Kürzlich sagte sie zu mir: „Das Leben hat vielleicht seine eigenen Pläne – wer weiß schon, wie ich wirklich gehen werde. Aber ich habe immerhin das Recht, meine Meinung zu äußern.“ Der Krebs scheint bei dieser Frau von ihrem Zustand tiefer Annahme und dem achtungsvollen Hören auf sich selbst in gewisser Weise in Schach gehalten zu werden. Für sie ist das Ja zum Leben gleichbedeutend mit dem Ja zum Tod.
Wirklichkeit bildet sich ständig neu
Wir leben in einer Welt, die von Kausalität regiert zu werden scheint; aber auf einer fundamentalen Ebene (derjenigen der bewussten Beziehung zu unserer Erfahrung in jedem Moment) greift das „Gesetz“ von Ursache und Wirkung offenbar nicht. Stattdessen gibt es dort eine in Entwicklung begriffene Realität, eine ständige Dynamik von Sein und Entdeckung. Nehmen wir beispielsweise Krebs: Krebs ist nicht nur bei jedem Menschen eine andere Krankheit, es ist auch bei jedem Menschen in jedem Moment eine andere Krankheit, denn wie bereits erwähnt organisiert sich der Körper – in Abhängigkeit davon, wie präsent eine Person ist – in einem geringeren oder stärkeren Grad von Ganzheit neu.
Wenn Sie das verstehen, können Sie sich vom Konstrukt der Kausalität verabschieden: dass irgendetwas Sie krank gemacht hat und Sie auf eine bestimmte Weise leben und spezielle Medikamente nehmen müssen, um wieder gesund zu werden. Natürlich ist dies manchmal zum Teil der Fall, aber wenn Sie nichts anderes tun, als den Anweisungen Ihres Arztes zu folgen, dann übergehen Sie Ihren inneren Arzt, der wesentlich klüger ist und eventuell sogar wirkungsvoller heilen kann.
Beispiel: Nackenschmerzen
Neulich besuchte mich eine gute Freundin, die unter chronischen Nackenschmerzen leidet. Diese hatten sich mittlerweile so sehr verschlimmert, dass es ihr weder möglich war, am Computer zu sitzen und zu arbeiten, noch konnte sie lesen oder fernsehen. Selbst im Bett zu liegen brachte keine Erleichterung. Im Laufe der Jahre war sie bei vielen verschiedenen Ärzten gewesen, die zahllose Tests und Untersuchungen durchgeführt hatten. Sie wusste, dass sie eine degenerierte Bandscheibe hatte. Einige Ärzte schlugen ihr vor, zu operieren; andere bezweifelten, dass dies helfen würde. Sie durchforstete das gesamte Spektrum der Schul- und Alternativmedizin. Manchmal war sie ein paar Stunden schmerzfrei, manchmal sogar ein paar Tage, aber die Schmerzen kehrten immer wieder zurück und wurden nach und nach schlimmer.
Als wir an diesem Tag beisammensaßen, schlug ich ihr vor, dass sie – anstatt die nächste Behandlungsmöglichkeit zu erörtern oder mir die medizinischen Gründe für ihre Schmerzen darzulegen –, einfach versuchen sollte, sie als Ausgangspunkt für eine Reise in die Gegenwart zu nehmen. Ich bot ihr an, sie intuitiv auf dem Weg in den Schmerz zu begleiten.
Als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schmerz lenkte, bat ich sie, die gesamte Konstellation dessen, was sie in ihrem Kopf, im Nacken und den Schultern spürte, ganz leicht mit einem inneren Blick zu „berühren“ und gleichzeitig einen Teil ihres Gewahrseins auf ihren gesamten Körper und in den Raum hinein auszudehnen. Diese letzte Komponente, das Ausdehnen des Gewahrseins, ist besonders wichtig, denn wenn man sich auf den Schmerz fokussiert, dann neigt er dazu, sich zu verstärken, sofern man nicht gleichzeitig ein Gefühl der Ausdehnung oder Weiträumigkeit hinzunimmt. Als sie den Schmerz fühlte, schlug ich ihr vor, damit so in Kontakt zu gehen, als spüre sie ihn zum ersten Mal und mache somit eine ganz neue Erfahrung.3
Plötzlich hatte meine Freundin eine Vision von einem dichten, dunklen Wald aus „Bäumen“, die aus etwas bestanden, was sie nicht beschreiben konnte. Die ganze Szene spielte sich in einer Unterwasserlandschaft ab und sie empfand an dem Ort eine merkwürdige Kraft. Nach einigen Minuten konnte ich spüren, dass sie nicht mehr in der Gegenwart war. Ich fragte sie, wohin sie abgedriftet sei, und sie erklärte, sie versuche, eine Verbindung zwischen dem Schmerz und der Vision herzustellen. Anders gesagt, sie analysierte und hatte sich damit von der Unmittelbarkeit der Vision entfernt. Außerdem hatte sie sich von ihrem Verstand in die Vergangenheit befördern lassen. Also forderte ich sie auf, zu ihrem Bild und der „seltsamen Kraft“ zurückzukehren. Ich sagte, sie solle jede Erwartung in Bezug darauf, wohin dies führen könne, loslassen und einfach nur bei ihrem inneren Erleben bleiben. Kurz darauf begann sie, leise zu schluchzen. Sie sprach von einem Gefühl der Wärme, das in ihr hochstieg, speziell im Brustraum, und die Vision des Unterwasserwaldes löste sich auf. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Schmerzen komplett verschwunden waren.
Die Schmerzen blieben nahezu eine ganze Woche lang aus und während dieser Zeit fühlte sie sich emotional erstaunlich gut. Es war keine komplette Heilung, aber es macht etwas sehr Wichtiges deutlich: Das grundlegende Glaubenssystem meiner Freundin baute darauf auf, dass sie nur die richtige Ursache für das Problem und die richtige Therapie finden müsse, um wieder gesund zu werden. Dies versetzte sie ständig in eine erdachte Zukunft, in der es ihr nach dem Finden der richtigen Behandlung wieder gut gehen würde. In ihrer Vorstellung würde sie wieder so sein, wie sie sich in Erinnerung hatte, bevor die Schmerzen einsetzten.
Nun jedoch hatte sie gelernt, dass eine Reise in ihr Erleben in vollem Gewahrsein und unter Zurücklassen der Vergangenheit und der Zukunft ebenfalls eine Erleichterung bringen konnte. Ein weiterer interessanter Aspekt war, dass dies auch zu einem besseren emotionalen Gleichgewicht führte. Sie hatte einen neuen Weg eingeschlagen – einen Weg der Nähe zu sich selbst im Jetzt –, bei dem die Ursache ihres Problems unwichtig und das Erzielen eines gewünschten Ergebnisses sogar kontraproduktiv waren.
Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass sich meine Freundin auf einem Weg der emotionalen Befreiung und vielleicht auch der körperlichen Heilung befindet – sofern sie lernt, diese Reise zum Gewahrsein jedes Mal anzutreten, wenn Schmerzen oder andere schwierige Gefühle ihren Verstand dazu bringen, in die Vergangenheit oder Zukunft abzuschweifen.
Symptome lassen sich mit Präsenz umwandeln
Die Beispiele von den beiden Frauen, die ich hier geschildert habe, zeigen, wie man mit jedem Gefühl umgehen kann, indem man präsent ist und mit Gewahrsein Zugang zur Unmittelbarkeit des eigenen Seins findet. Auch wenn Ihnen viele Ihrer Empfindungen Probleme bereiten, sollten Sie sie nicht einfach als Krankheitssymptome bezeichnen, denn dadurch berauben Sie sich der Möglichkeit, sie unmittelbar in der Gegenwart zu erleben. Wenn Sie auf unvoreingenommene Weise bei Ihren Empfindungen präsent sind, haben Sie wesentlich mehr Kontrolle darüber, wie diese sich auf Sie auswirken – und vor allem darüber, wohin sie Sie führen.
Der Schlüssel liegt darin, mit Ihrem Gewahrsein bei Ihren Empfindungen zu sein und sie zu spüren, anstatt über sie nachzudenken. Oder anders gesagt: Überlassen Sie Ihre Empfindungen nicht Ihrem Ego, sondern lernen Sie stattdessen, ihnen mit Gewahrsein zu begegnen. Das eröffnet die Möglichkeit, Ihre Symptome zu transformieren, sodass sie sich in neue Bilder, Erkenntnisse oder Gefühle verwandeln können und Sie nicht mehr so stark entmutigen oder einschränken. Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die einfach nur ihre vorhandenen Empfindungen beobachten, anstatt ihnen das Etikett eines Krankheitssymptoms aufzudrücken, eher glauben, ihr Leben im Griff zu haben, und dass sich dies positiv auf ihre Lebensdauer auswirkt.4
Als ich vor Jahren einmal an Felsen kletterte, machte ich meine erste persönliche Erfahrung mit dem Umwandeln von Empfindungen. Mir fiel auf, dass ich mich bei dem Gedanken, ich würde aufgrund der empfundenen körperlichen Erschöpfung gleich herunterfallen, sozusagen automatisch nicht länger halten konnte. So beschloss ich irgendwann, diese Empfindung einfach nur zu beobachten und sie von der Annahme, dass ich gleich fallen würde, abzutrennen. Dabei stellte ich fest, dass ich mich – auch nachdem mein Verstand mir gesagt hatte, ich könne nicht mehr – manchmal noch minutenlang am Fels festklammern und sogar weiter hinaufklettern konnte.
Ein noch weiter führender Schritt gelang mir bei meinen Meditationsübungen;