Wie ich behandelt werden will. Anna Gerber

Wie ich behandelt werden will - Anna  Gerber


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Für immer? Ein Moment, kaum aushaltbar.

      Er überlebte die Nacht, aber es dauerte bis Donnerstag, bis die Diagnose klar war: FSME (Frühsommer-Meningoenzephalitis) aufgrund eines Zeckenbisses. Adrien konnte nicht mehr richtig gehen, schreiben ging gar nicht mehr, seine Kommunikation war die eines anderen, nicht von dem Mann, den ich kannte. Würde er genesen, würden Schäden, würden Persönlichkeitsveränderungen bleiben? Die Zukunft war ungewiss. Hatten wir, außer dem tiefen Vertrauen, dass sich alles – auch Sterben – zur rechten Zeit ereignet, etwas Schriftliches? Irgendetwas, wo er – nicht nur für mich, sondern auch für seine Töchter, Schwestern und Eltern – seine Wünsche und Werte geäußert hätte? Nein, nur Adriens mündliche Anmerkung an mich: »Falls ich je ein Pflegefall werden sollte, so habe ich keine Ansprüche an dich, dass du mich pflegen musst. Du kannst mich in ein Pflegeheim geben. Und, falls ich sterbe: Bitte bleib nicht lange allein. Such dir wieder einen Mann, gehe wieder eine Partnerschaft ein.«

      Weil ich eine Familie habe

      Ich selbst trug mich schon seit Längerem mit dem Gedanken, eine Patientenverfügung zu verfassen. Doch alle Verfügungen, die mir bisher bekannt waren, entsprachen nicht meinen Vorstellungen. Für mich waren sie zu wenig differenziert, zu wenig persönlich. Wo konnte ich meine Wünsche so festhalten, dass sie verständlich und vor allem auch rechtskonform sind? Nicht dass ich eine pathetische Seite hätte, aber es liegt mir tatsächlich am Herzen, wie ich mein Leben in seinen letzten Zügen gestalten möchte. Auch die Verbindlichkeit und Umsetzbarkeit sind eine nicht zu vernachlässigende Sache, ich habe sowohl in meinen beruflichen Funktionen als auch privat zu viele nicht wirklich verbindliche Patientenverfügungen gesehen, und was daraus resultiert: Unsicherheit. Und dies nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Fachleute. Es muss also eine verbindliche Lösung geben, die dennoch meine persönliche Handschrift trägt.

      Im Sommer 2018 las ich erstmals von Advance Care Planning, und je mehr ich darüber las und mit Leuten sprach, die eine ACP-Beratung in Anspruch genommen hatten, desto mehr kam ich zum Schluss: Das passt, das mache ich auch. Denn zusätzlich zu diesen beiden einschneidenden Erlebnissen häuften sich auch zahlreiche Todesfälle in meinem unmittelbaren Umfeld. Das führte mir vor Augen: Man weiß nie, wann man stirbt. Warum also zögern? Und so machte ich mir die ACP-Beratung zum Geschenk. Auf die Frage, warum ich – gesund, wie ich bin – eine ACP-Beratung in Anspruch nehme, kommt mir das Zitat von Dr. Ira Byock in den Sinn: »I have a healthcare directive not because I have a serious illness, but because I have a family.« Ich habe ein Patientenverfügung – nicht weil ich ernsthaft krank wäre, sondern weil ich Familie habe.

      Ohne schriftliche Handhabe war nichts dagegen zu machen

      Mit Unterstützung des Hausarztes brachten wir unseren Vater vom Spital zurück ins Pflegeheim. Ich war sehr froh, den Hausarzt an unserer Seite zu haben. »Ich hätte Ihren Vater schon viel früher wieder verlegt. Das Spital ist nicht der Ort, wo er sein möchte«, brachte er es auf den Punkt. Der Hausarzt kannte meinen Vater schon viele Jahre. Daher wusste er auch um die zahlreichen Zwischentöne, die zwischen »gesund«, »krank«, »lebensmüde« und »sterben« in der Biografie meines Vaters mitschwangen. Während mich mein Vater im Spital noch erkannt, ja sogar noch das eine oder andere Wort mit mir gewechselt hatte, zog er sich – wieder im Pflegeheim – immer mehr in sich zurück. Er war sterbend. Für mich passte das so, wir hatten zuvor alles besprochen, Worte waren nicht mehr nötig. Wir sprachen mit unseren Herzen. Doch was tun, wenn sich Familienangehörige über Vaters expliziten Wunsch, keinen Pfarrer an seinem Sterbebett haben zu wollen, hinwegsetzen? Diesen Wunsch hatte er nur mündlich uns Kindern gegenüber geäußert. Das sind Momente, die vermutlich etliche kennen: In solchen Ausnahmesituationen benehmen sich Menschen nicht immer so, wie sie es eigentlich könnten, sondern handeln oftmals wenig klar und ihren eigenen Gefühlen ausgeliefert. Aber trotzdem!, dachte ich damals. Es wäre schon schön gewesen, seine Wünsche zu achten und zu befolgen – aber ohne schriftliche Handhabe war da nichts zu machen.

      »Gell, wir können nichts tun? Nun, aber beten können wir«

      Einer der schwierigsten Momente war für mich, Adriens Familie klarzumachen, dass er keinen, aber auch wirklich keinen – auch mich nicht! – sehen wollte. »Bitte halte mir alle vom Leib«, war seine große Bitte an mich. Er hatte während des Spitalaufenthalts noch stärkste Schmerzen, sodass ihm am wohlsten alleine war. An Adriens Wunsch, allein zu sein, sollte sich auch während des anschließenden sechswöchigen stationären Reha-Aufenthalts kaum etwas ändern. Was für mich, seine Eltern und seine Geschwister leistbar war, war für seine erwachsenen Töchter kaum auszuhalten. Vor allem für seine jüngere Tochter nicht, sie arbeitete ja in genau dem Spital, in dem ihr Vater Patient war. Sie besuchte ihn täglich, bis ich einschritt und auf Adriens Autonomie pochte, die gewahrt werden sollte: Kein Besuch! Mir war in diesem Moment bis ins Innerste bewusst, dass ein Schwerkranker so sehr ausgeliefert ist, dass andere – in diesem Falle ich – für ihn und seine Bedürfnisse einstehen müssen. Dass ich Adriens zweite Frau und nicht die Mutter seiner Töchter bin, machte die Situation nicht einfacher. Denn so sehr ich den Wunsch der Töchter nach Nähe zum Vater verstand, so sehr verstand ich Adrien, dass er alleine sein wollte. Wie froh wäre ich um etwas Schriftliches gewesen! Konflikte ließen sich in solchen Ausnahmesituationen schnell entschärfen. Was mir in dieser Zeit enorm half, war die tägliche Mediationspraxis. Als praktizierende Diamantweg-Buddhistin habe ich über die Jahre gelernt, meinen Geist weit werden zu lassen und so bestmöglich nicht auf die aufsteigenden Gefühle aufzuspringen, sondern sie vorbeiziehen zu lassen. Dieses Aushalten, wenn man nichts tun kann, außer abwarten, ist eine große Herausforderung. Die Worte von Adriens Mutter diesbezüglich waren Balsam: »Gell, wir können nichts tun? Nun, aber beten können wir.« Sie verstand es als eine der wenigen, das in klare Worte zu fassen, um was es ging. Grenzerfahrungen bieten viel Erfahrungsspielraum für Spiritualität. Heute weiß ich, dass auch eine erweiterte Patientenverfügung Raum dafür bietet, das festzuhalten, was man sich in Grenzmomenten wünscht.

      Wo ACP draufsteht, soll auch ACP drin sein

      Bei der Suche nach der passenden ACP-Beratung war mir vor allem wichtig, dass sie von einer qualifizierten Fachperson gemacht wird. Ich wollte keine »verwässerte« oder »leicht adaptierte ACP«, sondern dass »wo ACP draufsteht, auch ACP drin ist«. Ich habe recherchiert und mich umfassend informiert. Fündig wurde ich bei palliative zh+sh, genauer gesagt bei ihrer Geschäftsführerin Monika Obrist. Mit ihr habe ich die Fachperson gefunden, die meinen Anforderungen entspricht: Auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, engagiert und vernetzt mit weiteren Fachleuten und gesegnet mit einer großartigen Beratungskompetenz. Sehr wichtig war mir auch, dass ich alles fragen kann, was mich beschäftigt oder wo ich Unklarheiten habe. Fragen wie zum Beispiel »Wie stirbt man an einer Lungenentzündung?« Meine Erwartungen in der Beratung bei Monika Obrist wurden vollumfänglich erfüllt. Kein einziges Mal hat sie Suggestivfragen gestellt und kein einziges Mal hat sie meine Antworten kommentiert oder gewertet. Vielmehr hat sie einfach das entgegengenommen, was ich gesagt habe, es aufgeschrieben oder nachgefragt, bis sie meine Antworten richtig verstanden hatte und entsprechend in der Patientenverfügung erfassen konnte. Das sei in einer ACP-Beratung so üblich, erklärte sie mir auf mein Nachfragen hin. Was ich an dieser Patientenverfügung «plus» sehr gut finde, ist, dass ich darin meine Werte festhalten und dass ich an ihr jederzeit Änderungen oder Anpassungen vornehmen kann. Auch schätze ich, dass die Fragen nicht auf Ja oder Nein ausgerichtet sind, sondern dass sie der Ambivalenz, die mit dem Sterben einhergehen kann, genügend Raum lassen, ohne dass deswegen meine Aussagen unbrauchbar wären. Das zeichnet die Patientenverfügung «plus» aus, das macht es möglich, dass sich darin mein Wille ganzheitlich widerspiegelt.

      Er habe keine Angst gehabt

      Mein Vater starb altershalber knapp einen Monat nach der Diagnose seiner Rückenverletzung. Wir hatten uns gegen eine Operation ausgesprochen und beschlossen, ihn konventionell behandeln zu lassen, mit Schmerzlinderung als oberstes Gebot. Sein Hausarzt unterstützte uns, ebenso das Team des Pflegeheims. Diese Tage waren äußerst wertvoll für mich. In seiner zweitletzten Nacht wachte ich an seinem Bett. Er erkannte mich nicht mehr. Ich schlief wenig, schaute dann und wann zu ihm, saß einfach da und formulierte in meinem Inneren gute Wünsche für ihn. Zwischendurch kam eine Pflegefachfrau und wollte dies und das wissen, ansonsten war es


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