Breiter bis wolkig. Bernd Neuschl
keinen Kaffee abbekommen hat? Nachher fliegen uns die Kondensatoren um die Ohren, das ist mir zu riskant.“
„Sie haben völlig recht, ich wäre genauso umsichtig wie Sie“, beschwichtigt mich der Marktleiter.
Ohne große Widerstände bekomme ich 499 Euro bar auf die Hand. Stolz und glücklich fahre ich nach Hause.
Fragen Sie mich bitte nicht, ob ich jetzt einen Gewinn gemacht habe. Bilanztechnisch ist in Sachen ausgleichender Gerechtigkeit die schwarze Null von entscheidender Bedeutung.
Das habe ich auch Esther so erzählt. Sie meint, ich sei trotzdem ein Ladendieb. Viel schlimmer in ihren Augen jedoch ist, dass ich die glänzenden Nuancen ihrer neuen Haarfarbe nicht bemerkt habe. Kein Mann ist in der Lage, ein elegantes Kastanienbraun von einem sinnlichen Haselnusston zu unterscheiden.
Abends kann ich nicht einschlafen. Mir wird klar, ich habe Mist gebaut.
Auerbach hatte Recht: Der brave Mensch grämt sich weit mehr über ein Unrecht, das er getan hat, als über ein solches, das ihm angetan wurde.
Und weil ich ein braver Mensch bin, werde ich am Montag in den Media Markt fahren und die Angelegenheit klären.
Vorher aber hole ich mir mein Eigentum, Gerät Nummer eins, aus der Asservatenkammer der Polizei zurück. Schließlich habe ja ich den Fernsehapparat beim Entpacken und Verladen auch an den entlegensten Stellen mit meinen Fingerabdrücken als mein Eigentum markiert.
Da soll mir einer erst einmal das Gegenteil beweisen. Und außerdem habe ich ja jetzt endlich einen Kassenzettel vorzuweisen.
Ich bin doch nicht blöd.
Alaaf und Miau
Samstag. Mein erster Arbeitstag als Dirigent. Kaum zu glauben. Es ist Karneval in Köln und ich muss arbeiten. Habe Angst, heute Abend die Musikkapelle im Kölner Sartory-Saal bei einer Prunksitzung leiten zu müssen. In der Musikbranche kennt jeder jeden, da kann es schon einmal vorkommen, dass Profis aus dem Orchestergraben grelle Karnevalsveranstaltungen akustisch veredeln müssen.
Erwartungsvoll sitze ich im Büro des Musicalproduzenten Marc Elton. Er beachtet nicht mich, sondern tippt wichtigtuerisch auf seinem Tablet herum. Im Hintergrund läuft heißer Latin-Jazz.
Ich räuspere mich rhythmisch zur Musik. Marc beachtet mich immer noch nicht. In diesem Business ist jeder mit jedem per Du. Das ist also Marc, mein neuer Chef. Ich beobachte ihn. Leicht beleibt und schwer verlebt. Garantiert hat er seine Haare dunkler getönt. Immerhin haben das mit Brillanten bestückte Brillengestell, sein maßgeschneidertes Sakko aus Samt als auch seine lässigen Sneakers die gleiche Farbe. Mintgrün. So künstlich wie sein Lächeln. Das aufdringliche Aftershave raubt mir den Atem.
„Ben, schön dass du an Bord bist.“ Marcs Gebiss glänzt plötzlich mit den Platinschallplatten hinter seinem Schreibtisch um die Wette, ehe er mit dem stotternden Staccato einer AK47 regelrechte Informationssalven auf mich abfeuert, die von seinem basslastigen Lachen zyklisch unterbrochen werden: „So. Bevor wir im Frühjahr mit ,Hairspray’ und im Jahr darauf mit ,Bodyguard’ so richtig loslegen, habe ich sozusagen eine kleine Bewährungsprobe für dich als unseren neuen, zweiten Kapellmeister. Hahaha. Unser Chefdirigent möchte über Karneval lieber feiern und hat wie jedes Jahr Urlaub eingereicht. Und. Das. Ist. Deine. Chance: Wir spielen am Rosenmontag eine kleine Gala für unseren Hauptsponsor. Baulöwe Roland Specht. Der ist wiederum ein ausgesprochener Karnevalshasser und froh, der zivilisierten Zwangsbelustigung mit einem Ausflug in die Welt des Musicals entgehen zu können. Nichts Wildes. Hahaha. 80 Gäste. Beginn für dich ist 21 Uhr, vorher sind Reden und ein Essen angesagt. Bla, bla, bla. Das ganze Elend startet im Bürgerhaus Stollwerck. Meine Sekretärin Sandy, du hast sie ja eben bereits kennengelernt – hahaha – gibt dir die Adresse. Geprobt wird am Rosenmontag 11 Uhr in der Philharmonie, denn da haben die Schlagwerker ihr ganzes Geraffel.“
Ich nicke stumm. Klingt einfach.
Marc reicht mir das geplante Programm.
„Sponsor Specht möchte ausschließlich englische Musicalhits. Das machst du mit links. Hahaha. Kitsch-Balladen aus ,Phantom der Oper’, ,Les Misérables’, ein paar Hits aus ,Hair’, Evergreens aus ,Grease’ und ,Mamma Mia’ und zum Finale Afro-Glamour mit ,Der König der Löwen’ et cetera peng peng. Die Orchesterbesetzung steht auf Seite zwei. Noch Fragen?“ Er wirft mir das Programm zu.
„Nein, alles klar“, nuschle ich entwaffnet und erhebe mich erleichtert zum Gehen.
„Eine Kleinigkeit noch.“ Ein grell glänzendes Gebiss grinst mich an. „Die Bläser und Streicher haben keine Noten. Ist was schiefgelaufen. Hihihi. Sei so lieb und schreibe gut spielbare Stimmen. Auch für den Drummer. Sandy gibt dir die Klavierauszüge. Und jetzt: Husch, husch!“
Klasse. Es ist eine Sache, vor einem Musicalorchester zu stehen und einfach mit den Armen im Takt zu wedeln. Aber in der kurzen Zeit auch noch ein ganzes Meer an Einzelstimmen schreiben, das macht nicht wirklich Spaß, zumal unfassbar vielseitige stilistische Vegetationen zu berücksichtigen sind.
Sandy überreicht mir einen ansehnlichen Stapel Klaviernoten. Ich will schleunigst raus hier, aber sie ruft mir hinterher: „Halt, Ben. Du brauchst noch die Adresse für die Show. Bürgerhaus Stollwerck. Dreikönigenstraße 23. Soll ich dir das aufschreiben?“
„Danke, aber DAS kann ich mir merken“, zwinkere ich zurück und bin froh, endlich das Büro verlassen zu können.
Bis zur Probe in der Philharmonie habe ich jetzt genau einen Tag. Karneval ist gelaufen.
Zuhause am Schreibtisch nehme ich mir die Klaviernoten vor. Der Stapel aus einem Londoner Verlagshaus ist durchweg handgeschrieben und unleserlich. In der vagen Hoffnung, mein sündhaft teures Notationsprogramm würde mir hilfreiche Dienste leisten können, scanne ich eine Seite testweise ein. Fehlanzeige. Mist. Hinzukommt, dass die Druckerpatrone leer ist. Also ist ehrliche Handarbeit angesagt. Der hochbegabte Wolfgang Amadeus Mozart soll die Ouvertüre zur Oper „Don Giovanni“ angeblich eine Nacht vor der Premiere geschrieben haben. Immerhin bleibt mir mit halbem Talent ein ganzer Tag.
Ich blättere durch die Noten. Das Trompetensolo von „Aquarius“ kennt fast jeder Mensch. Und so ist es bei jedem Stück. Immer gibt es irgendwo ein Vorspiel oder einen Übergang mit instrumentalem Ohrwurmcharakter. Dazu noch die üppige Besetzung: Klavier, Keyboard, E-Bass, gleich zwei Gitarren, ein Schlagzeug, ein Pauker, zwei Schlagwerker mit einem ganzen Arsenal an perkussiven Effekten in ihren Schießbuden, sechs Holzbläser, fünf Blechbläser, eine Harfe und vier Streicher.
Mogeln geht nicht. Als Erstes schreibe ich zu jedem der siebzehn Lieder einen satt orchestrierten Schlussakkord, der – je nach Stück – mal knackig kurz, mal episch ausladend ausfällt.
Jetzt sind die Intros dran. Dann die Zwischenspiele. Läuft. Nach einem Tag bin ich tatsächlich fertig, aber zu kaputt, um in den unzähligen Einzelstimmen auch noch Taktzahlen, Pausenlängen und Wiederholungszeichen einzutragen. Wird schon schiefgehen.
Es ist Rosenmontag und ich bin bereits um fünf Uhr früh aus den Federn raus, damit ich für den Schlagzeuger noch Noten aufschreibe. Um zehn Uhr überreiche ich ihm stolz seinen Stapel, dessen Empfang er vor der Bühne der Philharmonie mit den Worten quittiert „Ich brauche keine Noten, ich spiele alles auswendig.“
Der Rest der Truppe ist dankbar für meine gut leserliche Handschrift, bemängelt aber das Fehlen von Taktziffern und Pausenlängen. „Einfach zu mir schauen, ich gebe alle Einsätze“, beruhige ich jeden Musikus einzeln. Dann betrete ich das Dirigentenpodest.
Die Gesangssolisten sind der Hammer, das Orchester spielt routiniert, aber trotzdem neugierig. Und es klappt mit allen Einsätzen. Ich schwebe. Das wird der Knaller. Mit dem Ergebnis werde ich als zweiter Kapellmeister bestimmt flugs zum Musikdirektor ernannt.
Jemand tippt mir auf die Schulter. Ein älterer, etwas grotesk wirkender Herr mit langen Haaren und grauem Stoppelbart starrt mich fischäugig an und blubbert mit schüchtern-nasaler Stimme: „Entschuldigen Sie die Störung, Maestro, aber ich habe in der Philharmonie heute Abend eine Show zu spielen. Meine Band würde jetzt ganz gerne einmal hier aufbauen.“