Unklare Verhältnisse. Inga Brock
eine Weile, in der die beiden vollauf damit beschäftigt waren, ihre Kinder abzufüllen und ruhigzustellen. Ich saß alleine auf dem winzigen Balkon, trank das Glas Rotwein, das die Frau mir gebracht hatte, schaute in den wunderschönen Abendhimmel und hörte Mark zu. Die Wolken sahen ganz zart und leicht aus, rosa und weiß und gelb, und ich spürte, wie nahe Gott mir war und wie viel Mut er mir machte.
So fing es an mit Mark und mir.
Er heißt übrigens wirklich Torani, sein Vater ist Italiener. Sein richtiger Vorname lautet allerdings „Marco“, aber die Plattenfirma fand Mark irgendwie besser. All so was findet sich auf seiner Homepage: seine Biografie, seine Veröffentlichungen, seine Tourpläne, seine Fan-Adresse, seine Merchandisingprodukte, sein Gästebuch, sein Forum. In der Mehrzahl sind es natürlich Frauen, die ihm schreiben, und es ist unglaublich, was diese Schlampen sich erdreisten. Es scheint sie auch nicht zu stören, dass jeder LESEN kann, was sie gerne mit ihm machen würden. Es gibt wohl keine, die nicht mit Freude für ihn ihr Höschen zur Seite schieben würde. Als ob Sex das wäre, wonach er suchte. „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ Aber von so was haben diese Weiber natürlich nicht die leiseste Ahnung.
Das erste Mal geschrieben habe ich ihm etwa vor einem Jahr. Wie viel mir seine Musik bedeutet und wie tief mich seine Stimme berührt, dass alles, was er singt, auf mich geschrieben zu sein scheint, wie wichtig seine Musik für mein Leben ist und so weiter. Ich bin nicht blöd, ich weiß, dass er viele solcher Briefe bekommt. Jede dieser Schreckschrauben, die ihm täglich in sein Gästebuch sülzen, fühlt sich auserkoren und schreibt das Gleiche. Der Unterschied ist allerdings, dass ich tatsächlich meine, was ich schreibe, und vor allem, dass diese Tanten an seine Mailadresse schreiben oder an die Anschrift des Fanclubs, was lachhaft ist. Jeder weiß, dass er diese Briefe nie zu lesen kriegt.
Ich habe ihm gleich beim ersten Mal nach Hause geschrieben und den Brief persönlich eingeworfen. Was war ich doch glücklich! Schon allein das Gefühl, das ich hatte, als ich die letzten paar Schritte auf seine Haustür zuging – genau den Weg, den er sonst immer geht, ER, immer, mit seinen Füßen, die seinen Körper tragen. Es ist unbeschreiblich schön gewesen.
Mark lebt in Stuttgart, das ist über die Autobahn nicht mal eine Stunde von hier. Eine Studienkollegin von mir arbeitet dort am Institut für Organische Chemie und Mark hat vor ein paar Jahren, so steht es übrigens auch in seiner Biografie, ebenfalls in Stuttgart studiert. Chemie nicht, natürlich nicht, das passt nicht zu ihm. Außerdem hätten wir uns dann nie so gut ergänzt. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Er war für vier Semester am Institut für Erziehungswissenschaften und Psychologie eingeschrieben und hat es geschafft, neben seiner Musik auch den einen oder anderen Schein zu machen. Wer seine Musik und seine Texte hört, weiß, dass er kein Dummer ist. Die meisten Musiker haben wohl schlichtere Gemüter als Mark. Vermute ich.
Ich traf mich also mit meiner Bekannten der guten alten Zeiten wegen, ließ Chemikergequatsche über mich ergehen und fragte irgendwann, ob sie für einen Kollegen von mir nicht die Adresse eines alten Schulfreundes rausbekommen könnte. Marco Torani hieß er und habe wohl auch mal an ihrer Uni studiert. Es war so was von einfach! Eine Woche später hatte ich seine Anschrift. Er wohnte noch immer in der Paulinenstraße, Paulinenstraße 12, 2. Stock.
Es ist ein altes, sehr schönes Haus. Gründerzeit oder Jugendstil, keine Ahnung, mit Architektur kenne ich mich nicht aus. Die Fassade entlang der Fenster ist mit girlandenartigen Rahmen versehen, in der Mitte des Hauses sitzt eine Art Erker. Es ist riesig, fünf Stockwerke. Die einzelnen Zimmer haben hohe Decken und auch die sind mit Stuck verziert. „Herrschaftlich“, kam mir in den Sinn, als ich das erste Mal davorstand. Das Haus grenzt direkt an die Paulinenstraße und damals war ich froh darüber. Es fällt nicht besonders auf, wenn jemand vorbeigeht, einen Blick in die Räume wirft und dann noch einen Brief in den Kasten steckt. Es wäre schrecklich gewesen, wenn er mir dort schon beim ersten Mal begegnet wäre. Nicht, dass ich das nicht gewollt hätte, im Gegenteil! Aber es wäre zu früh gewesen. Ich wollte, dass Mark die Chance hat, auf mich vorbereitet zu sein. Ich hatte mich schließlich mein ganzes Leben lang auf ihn vorbereiten können.
Gibt es etwas, das mehr über einen Menschen aussagt als die Handschrift? Nicht vieles. Ich habe mir deshalb die Mühe gemacht, einige Schriftproben von mir beizufügen. Damit Sie etwas zu tun haben.
Ich habe sofort gespürt, dass dieser erste Brief tatsächlich von Mark persönlich stammte, obwohl das von außen erst mal nicht zu merken war. Den von mir frankierten und adressierten Rückumschlag hatte er mit einem Stempelabdruck versehen, auf dem sein Profil zu sehen war. Überflüssig zu sagen, dass er im Profil sehr schön ist. Den Brief selbst hatte er mit schwarzer Tinte geschrieben. Ich füge ihn diesem Bericht bei. Ich bin mir sicher, dass es nur wenige Männer gibt, die eine ähnlich sanfte Handschrift haben, leicht nach links geneigt (Stärke!), mit langen Bögen und winzigen I-Punkten. Und erst, was er geschrieben hatte: wie sehr er sich gefreut habe, wie anspornend mein Brief gewesen sei und dass er sich von Herzen wünsche (von Herzen!), dass ich ihm auch weiterhin gewogen bleibe. So schön altmodisch konnte er sich ausdrücken! Und kein Wort der Verwunderung oder des Ärgers darüber, dass ich ihm zu nah gekommen war, indem ich den Brief bei ihm eingeworfen hatte. Ich schwebte im siebten Himmel und wurde noch ein bisschen mutiger.
Beim nächsten Mal schickte ich ihm (zusammen mit einem wirklich sehr guten Foto von mir sowie einer Einladung) mein Lieblingszitat aus der Bibel – das mit Gott und der Liebe und „Gott bleibt in ihm“ (1. Johannes 4, 16). Ich weiß nicht, was ihn letztlich dazu veranlasst hat zuzusagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es das Zitat aus der Bibel war.
Das Foto von mir ist vor ein paar Jahren bei einer Feier am Institut gemacht worden (Abzug liegt bei) und zeigt mich in sehr ausgelassener Stimmung: Ich tanze, lache und habe dabei die Augen geschlossen. Meine Haare umgeben mich wie ein Kranz, meine Zähne blitzen, sogar meine Zunge ist zu sehen. Ich trage ein weißes Top und eine enge blaue Jeans. Auf der Einladung stand: Wollen wir uns sehen? Sonst nichts. Reicht ja auch.
Mit Prominenten ist es doch so: Kein Mensch, jedenfalls keiner, der nicht ebenfalls Sänger ist oder sonst irgendwie bekannt, traut sich, einen „Star“ so zu behandeln, als wäre er der nette Typ von nebenan. Und wie soll so jemand sicher sein, dass sein Gegenüber nicht ausschließlich den Star in ihm sieht, das Geld und den Ruhm? Nach meinem ersten Brief an Mark behandelte ich ihn also „ganz normal“. In der Liebe ist alles erlaubt, heißt es doch, oder? Mark biss natürlich an und hatte das Glück seines Lebens direkt vor seiner Nase. (Und das meine ich jetzt kein bisschen zynisch. Dass er sein Glück mit Füßen treten würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht.)
So einfach war das also. Prominente sind eben auch nur Menschen, ähnlich einsam und gestört wie wir alle, verloren, bis Gott uns findet und wir ihn.
Im Radio, sofern deutsche Titel gespielt werden oder Englisch für den Zuhörer kein ernsthaftes Verständigungsproblem darstellt, wimmelt es von versteckter und direkter Anmache. Schon mal darauf geachtet? Menschen, die einsam sind, kann das schwer zusetzen, keine Frage, und insofern hatte Ihre Kollegin (die Polizeipsychologin) natürlich recht. Aber ich war das letzte Mal einsam, als ich noch in Marschalkenzimmern lebte und den Weg zur St.-Nikolas-Kirche noch nicht kannte. Danach nie wieder. (Hallo Gutachter! Dick markieren!)
Zunächst dachte ich, ich sei in meinem zweiten Brief zu weit gegangen, denn er meldete sich sehr lange nicht. Erst hinterher habe ich erfahren, dass sein Vater in dieser Zeit im Sterben gelegen hatte, und dann schämte ich mich für meine Ungeduld. Es ist schlimm, wenn die eigenen Eltern sterben. Für die meisten jedenfalls.
Sein Antwortbrief (liegt nicht bei) war gar kein Brief, sondern eine Postkarte. „Wann? Bald?!“ stand darauf und „M.“ Die Vorderseite war die Schwarz-Weiß-Fotografie eines Seesterns. Sie hing lange Zeit gerahmt über meinem Bett.
Mit meiner dritten Nachricht habe ich mir dann Zeit gelassen. Er hatte angebissen und, so leid es mir tat, ich musste ihn zappeln lassen. Das alte Spiel. In der Liebe und im Krieg ...
Nach zwei Wochen, in denen ich, abgesehen von der Zeit, in der ich an der Uni war, fast ununterbrochen seine CDs hörte, schrieb ich ihm ebenfalls eine Postkarte.
Vorn