Unklare Verhältnisse. Inga Brock
Rahel nenne ich mich seit meiner Freiburger Zeit. Der Name stammt aus dem Alten Testament. Rahel war Jakobs Lieblingsfrau, aber es hat eine Zeit gedauert, bis er sie „haben“ konnte. Gottes Werk. Natürlich. Davon abgesehen passt der Name wirklich perfekt zu meinem Äußeren.
Er kam. Und es wurde ein unglaublicher Abend. Ich hatte Tage damit zugebracht, mir über meine Kleidung Gedanken zu machen. Und dann trugen wir beide das Gleiche! Jeans und ein weißes Hemd. Wir lachten, als wir uns trafen, wir strahlten, wir umarmten uns, drückten unsere Wangen aneinander und noch ein bisschen mehr und verteilten Luftküsse. Es war von Anfang an so einfach zwischen uns.
Zum Botanischen Garten gehört außer einem altehrwürdigen Gewächshaus ein wunderschöner Garten, der von schmalen Kieswegen durchzogen wird. Dorthin schlenderten wir als Erstes. Sogar das Wetter machte mit. Es war ein Bilderbuch-Sommertag, noch wunderbar warm, aber nicht mehr zu heiß. Ich zog meine Riemchensandalen aus und lief barfuß auf dem kurz geschnittenen Gras neben den Wegen. Vom Botanischen Garten führte ein lang gezogener Weg in den Garten des Karlsruher Schlosses. Viele Leute waren unterwegs: Studenten, die Frisbee spielten, Leute, die eben ihre Decken zusammenpackten und die umliegenden Biergärten ansteuerten, Jogger, Spaziergänger, Hundebesitzer und Mütter, die Kinderwägen schoben. Wir redeten und redeten, ich weiß beim besten Willen nicht mehr, über was genau (es spielt ja wohl auch keine Rolle mehr). Jedenfalls war keine Sekunde verkrampft, langweilig oder befangen.
Ich fragte ihn, ob er Durst hätte. Daraufhin öffnete er seine dicke schwarze Tasche und deutete lächelnd auf den Hals einer Champagnerflasche. Sogar langstielige Gläser hatte er dabei, eingepackt in etwa zwei Kilometer Toilettenpapier! Darüber mussten wir so lachen, dass wir uns fast nicht mehr einkriegten. Wir saßen mittlerweile am Ende eines Steges, der in den Seerosenteich des Schlosses ragte, hatten die Hosenbeine unserer Jeans hochgekrempelt, ließen die Füße ins Wasser baumeln und wickelten aus und wickelten aus und wickelten aus. Wir krümmten uns vor Lachen, wir hielten uns die Bäuche und stützten uns gegenseitig. Wir waren beschwipst, keine Frage, aber noch bevor wir den ersten Schluck getrunken hatten! Er hielt mich fest und dann, ja, dann küsste er mich zum ersten Mal. Mark konnte wunderbar küssen.
Im Grunde ist die Geschichte für mich genau hier beendet. Alles, was danach kommt, tut noch zu sehr weh. Aber ich nehme an, dass das genau das ist, was jetzt alle wollen, oder? Mir wehtun.
Wie Sie sich sicherlich schon gedacht haben, endete dieser erste Abend in meinem Bett. Mark war ein guter Liebhaber, aber ich machte den Fehler, sein Können vor allem auf mich zu beziehen. Noch als er längst gegangen war, wärmte mich das Gefühl, mit der Liebe meines Lebens geschlafen zu haben. LIEBE MEINES LEBENS, verstehen Sie? Ich kann nichts dafür, dass dieser Begriff mittlerweile so dermaßen abgedroschen klingt.
Er meldete sich nicht. Nicht am nächsten Tag, nicht in der nächsten Woche. Ich machte mir entsetzliche Sorgen. Sein Handyanschluss war nicht erreichbar und bei ihm daheim schaltete sich nicht mal der Anrufbeantworter ein. Ich wurde halb wahnsinnig vor Angst. Am Mittwoch, nachdem fünf qualvolle Tage vergangen waren, erkundigte ich mich in den umliegenden Krankenhäusern nach ihm, aber nirgendwo zwischen Karlsruhe und Stuttgart war ein Mark Torani eingeliefert worden. Ja, ja, ich weiß, SIE ahnen es bereits. Aber Sie liebt AUCH keiner, stimmt’s?
Am Donnerstag musste ich an der Uni mehrere Klausuren beaufsichtigen, also konnte ich mich erst am Freitag krankmelden und auf den Weg nach Stuttgart machen. Zum Glück, kann ich nur sagen: Ich hatte einige Meter entfernt von seiner Wohnung parken müssen, kam aber gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie die Haustür von innen geöffnet wurde, Mark erschien, sich lachend noch einmal umdrehte, um einer blonden Frau in Unterwäsche einen langen, innigen Kuss zu geben und dann abrupt innezuhalten, als er mich entdeckte. Ich war stehen geblieben und starrte die beiden fassungslos an. Gleichzeitig suchte ich in meinem Kopf fieberhaft nach etwas, was dieses Missverständnis ganz leicht aufklären könnte, wusste aber im selben Augenblick, dass mein Herz brach.
Mark fing sich schnell wieder. Er grinste.
„Ist sie das?“, flüsterte die Blondine (sie heißt Vera, war ein Fan von Mark und stammt aus Leipzig, Sie können das den Unterlagen entnehmen).
Mark nickte feixend. Er ging zwei Schritte auf mich zu und kam mir so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte, als er „Verschwinde“ zischte.
Vera aus Leipzig warf verlegen kichernd den Kopf in den Nacken, trat einen Schritt zurück, nickte Mark vielsagend zu und schloss die Tür von innen. Er ging an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen. Dann muss er wohl in sein Auto gestiegen sein, richtig mitbekommen habe ich es nicht, weil ich mich nicht umdrehen konnte. Ich hörte nur seine Schritte und ein bisschen später das Geräusch eines startenden Autos.
Ich fühlte mich wie versteinert. Versteinert, verflucht, geschlagen, gedemütigt, missbraucht – suchen Sie sich was aus. Das Allerschlimmste war aber: Auch Gott war fort. Zum allerersten Mal. Und Sie wissen ja, was passiert, wenn Menschen gottlos handeln?
Mein erster Impuls war, nachdem ich, weiß Gott, wie lang (HAHAHA), dort vor der Tür gestanden hatte, diese Vera zu töten. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Eben. Sie war sein Opfer, genau wie ich.
Ich ging zu Fuß in die Innenstadt, an die eigentliche Strecke kann ich mich aber nicht mehr erinnern. Ungewöhnlich warm war es für den relativ frühen Morgen, das weiß ich noch. Ich suchte nach einem Geschäft, in dem man Messer kaufen konnte, und hielt nach einem Waffenladen Ausschau, betrat dann aber ein Studio für Designerküchen und -zubehör. Ich glaube, es war ein japanisches Messer (Beleg liegt bei). Dann marschierte ich wieder zurück und wartete. Es war heiß und drückend in meinem Auto, trotz der offenen Fenster, aber ich hatte keinen Durst und auch keinen Hunger. Niemand verließ das Haus und keiner kam.
Als Mark kam, war bestimmt eine Stunde vergangen. Er kam zu Fuß, mit gesenktem Blick und einer Tüte im Arm, aus der ein Baguette ragte. Er ging genau auf mein Auto zu.
Ich stieg aus, er schaute auf, grinste wieder, und ich stach zu. Schnell, denn angenehm ist so was nicht und ich wollte es möglichst schnell hinter mich bringen. Es fühlt sich merkwürdig an. Erst ganz schwer und dann ganz leicht. Ich habe siebenunddreißig Mal zugestochen, aber das wissen Sie natürlich.
Es kommt mir so vor, als hätte Marks Tod mich befreit von der Last, ihn lieben zu müssen. Erst jetzt kann ich mich wieder spüren und Gott ganz nah bei mir wissen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und bete für Sie.
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