Bahnfahring. Thomas C. Breuer
gewinnt der Wagen an Höhe, schon sind wir raus aus dem Tunnel, nun rasch den Kopf gedreht, voilà, der östliche Teil des Bodensees, Bregenz, Lindau, Friedrichshafen, alles ganz nah und doch beruhigend weit weg. Höher und höher geht es, an sich wäre es an der Zeit für Sauerstoffmasken. Das ist das klassisch urschweizerische Erlebnis: Natürlich könnte man es sich drunten im Rheintal gemütlich machen, den Bürgern von Rheineck, Altstätten oder Buchs gelingt das schließlich auch. Doch dann stehen sie vor einem Massiv und denken bei sich hin: Da sollten wir dringend eine Bergbahn hochklöppeln, um mal zu sehen, was die Appenzeller von Ausserrhoden so treiben, besser, man hat ein Auge auf diese Menschen. Umgekehrt denken die Ausserrhoder: Besser, wir hängen da mal so ein Adlernest ins Gestein, dann können wir die da unten besser beäugen, von oben herab, man weiß ja nie. Also haben sie ein Zweitausendseelendorf an den Steilhang geklatscht, wie Reisterrassen, nur halt mit Häusern. Sie nennen es „Balkon über dem Bodensee“, und der schwebt 300 Meter über dem Rheintal und sie sind stolz, leben sie doch in einem der wenigen Dörfer mit eigener Bahnlinie. 1,96 Kilometer sind das, damit erreicht man zwei Drittel des Zugnetzes von Laos. Vom Frühstücksraum des Hotels sieht es aus, als würde die Bahnlinie drunten im Tal in der wirklichen Welt von Autobahn und Rhein ins Unendliche verlängert.
Die Rückfahrt. Das Bähnli steht einsam und verlassen im Bahnhof Walzenhausen Grand Central Metroplex. Wie von Zauberhand – zehn Minuten vor der Abfahrt – springt das Licht an. Der Wagenführer erscheint: „Sie hätten ruhig schon einsteigen können! Hinten ist der Gepäckraum!“, sagt er freundlich und schnappt sich meinen Koffer. Keine Ahnung, ob das zum täglichen Service gehört oder ob ich heute morgen so alt aussehe, wie ich mich fühle (und tatsächlich auch bin). Als Nächstes kontrolliert er die Billette, bevor er sich an seinen tatsächlichen Arbeitsplatz begibt. Das ist so, als würde die Flugbegleiterin auf dem Pilotensitz Platz nehmen bzw. der Pilot den Tomatensaft bringen. Ich erfreue mich noch an dem Schild „Das Betreten des Geleises ist verboten!“ und schon setzen wir uns in Bewegung. Das Arbeitsaufkommen erscheint übersichtlich, vorsichtshalber haben sie aber vorne unter dem Fenster einen Fahrplan angebracht.
Mit knapp fünfzehn Stundenkilometern lassen wir uns herab, der Tacho würde allerdings bis 45 km/h reichen. Die Armaturen sehen so aus, als wären sie von den Herren Brown und Boveri noch persönlich eingebaut worden. Ein weiteres schönes Schild: „Türnot-Entriegelung“, die beiden Wörter stehen untereinander, so sieht es verheißungsvoller aus: Hier kann man ggf. seine Türnot entriegeln lassen. Im Tunnel, der Wagenführer meint wohl, da merkt es keiner, gibt er Gas, legt einen Stundenkilometer drauf, wir rasen, aber das ist noch gar nichts, kaum haben wir uns unten bei der Garage ausgeklinkt, tickt die Tachonadel unerbittlich weiter, 18, 20, 22, 25 Kilometer, jetzt 27 – aber die Schallgrenze von dreißig erreicht sie nicht. Halt: Die branchenübliche Formulierung lautet wohl: „Die Tachonadel zittert!, ja, sie zittert, und noch während man diesen Gedanken nachhängt, hat sie sich auch schon wieder eingekriegt, denn jetzt steuern wir entschlossen den Bahnhof von Rheineck an, mittlerweile, wunderbare Metamorphose, als S26 der St. Galler S-Bahn.
Rigibahn und Schüttelbecher
Akkurat blau-weiß lackierte Triebwagen. Der Zugführer trägt einen weiß-blau gestreiften Kittel, mit dem auch ein Metzger nicht auffallen würde. Das Wetter ist schwer einzuschätzen, zumal es sich in den Bergen alle zehn Minuten ändert. Wir setzen uns in Bewegung. Mit mir eine helvetische Reisegruppe, dem Dresscode nach Pädagogen. Vor einiger Zeit durfte ich vor vierhundert Vertretern dieser Gattung im Kanton St. Gallen auftreten, die auf einer Tagung über Kultur und Erziehungsauftrag diskutierten. Mein Vorredner war Jean Grädel vom Theater an der Gessnerallee in Zürich, der u.a. erzählte, wie sie früher in Theaterkreisen darüber gelästert hätten, dass man Lehrer stets an ihrer Kleidung erkennen könne. Bei uns Künstlern, erlaubte ich mir im Anschluss auszuführen, verhielte sich das natürlich komplett anders. Egal was, Hauptsache es bewegt sich zwischen hellschwarz und dunkelschwarz. Meine Reisegefährten müssen aber tatsächlich Lehrer sein, sie haben sich in die hintere linke Ecke des Raumes verkrochen – wie Schüler.
Dazu gesellen sich ein paar versprengte Einheimische, die sich zu ihren Arbeitsplätzen in Gastronomie oder Landwirtschaft expedieren lassen. Man kennt sich, aber in der Schweiz kennt man sich generell. Begegnen sich Eidgenossen im Ausland, haben sie mit affenartiger Geschwindigkeit gemeinsame Bekannte ausgemacht, die helvetische Version des Beschnupperns. Auf der Rigibahn haben wir es mit wettergegerbten Hinterwäldlern zu tun, aber was heißt das schon, Hinterwäldler habe ich überall getroffen, sie kommen rum in der Welt, nicht wenige von ihnen leben in New York, Berlin oder San José. Sowieso: Ist das Leben als Vorderwäldler einen Deut besser? Interessanter? Hier und jetzt jedenfalls bin ich der einzige „Usländr“, ein „fremder Fötzel“.
Spektakuläre Wasserfälle, von bald venezolanischer Grandeur, vor allem der vorm Pfederntunnel ist geradezu beängstigend, insofern hat der Dauerregen der letzten Tage sein Gutes gehabt. Vor die atemraubendsten Ausblicke aber haben vorausdenkende Köpfe den Mischwald gepflanzt, damit die Menschen nicht abheben oder Herzinfarkte bekommen vor lauter Glückseligkeit. Auch die Baustellen entlang der Piste dienen lediglich dazu, die Stimmung nicht allzu saumselig geraten zu lassen. Denn, wohin das Auge schaut, verstellt die Endung -li den Blick. Gerade ist es die Firma Käppeli, die draußen mannhaft ihr Entromantisierungsprogramm durchzieht. Sie bietet zur Fahrgastbelustigung einen Bagger auf, der sein Standbein einfach nach hinten klappen kann. Gute Performance. Am Fruttli auf 1.150 Metern steigt die Schaffnerin auf den Gegenzug um, der einen Güterwagen mit ca. 15 fein säuberlich aufgereihten Milchkannen hinter sich herzieht, m. E. ein bisschen arg dick aufgetragen. Das nächste -li kommt bei Klöster-. Dass überall Autos an den Haltepunkten stehen, nimmt der Reise etwas von ihrer Einzigartigkeit. Dieses Tripli ist eindeutig agrarischer und somit schweizerischer als vergleichsweise die Gornergratbefahrung. Das mag daran liegen, dass ich früh dran bin, es ist halb zehn, die Touristen müssen ja erst von sonst woher herbeigeschafft werden. Vielleicht bin ich einfach ein Alpenignorant, der nicht weiß, dass man Gipfeln nie vor 12 Uhr mittags seine Aufwartung macht. Jedenfalls hänge ich hoch droben tief drin in der Dunstzone, mit beschlagenen Scheiben als Dreingabe.
Angenommen, meine Nebeltheorie träfe zu, wieso bietet dann die Rigi Bahn Erlebnisreisen wie „Sonnenaufgangsfahrten mit Frühstücksbuffet“ an? (Goldau ab 04:30 h) Den Schriftzug „Rigi First 1.484 müM“ kann ich gerade noch erkennen, ebenso den Umkleideraum für Langläufer. Rigi First? Gibt es verschiedene von ihnen und wenn ja, wieso haben sie die auf Englisch durchnummeriert? Wie aus dem Nichts eine Holsteiner Kuh auf einer Steilweide, für diese Rasse hat man sich entschieden, weil man sie im Nebel halbwegs ausfindig machen kann. Die blinde Kuh bin heuer ich. Wäre ich ein verantwortlicher Tourismusmanager, würde ich dafür Sorge tragen, dass irgendwo ein riesiges Gebläse installiert wird, das Wolken und Nebel zum Buochsenhorn hinüber weht, das in einem anderen Kanton liegt. Um dann mit garantiert freier Aussicht werben. Schleierhaft, wieso noch niemand auf die Idee gekommen ist, die Schweizer sind doch sonst so findig.
Jetzt vereinigt sich die Trasse mit der, die von Vitznau herauf eilt. Zur besseren Unterscheidung tragen die Waggons ein knalliges Rot, eine nette Geste. Nun aber: Rigi-Kulm. Hat sich was mit Vierwaldstätter See, bei den Schweizern liegt die Betonung übrigens auf dem „stätter“. Ein Urschweizer Erlebnis wird das trotzdem nicht, das einhergehen könnte mit tiefgreifenden Erkenntnissen über die Befindlichkeit der nationalen Seele. Das Klima lädt einfach nicht zum Klippensitzen ein, nicht einmal zu weitschweifenden Gedanken. Es ist so kalt, dass ich mich mit dem Händetrockner in der Herrentoilette aufwärme. Draußen verhöhnt mich ein Gruyère-Werbeplakat: „Fondue gäbt e gueti Luune!“ Fondue, um zehn Uhr morgens, na lecker. Das ganze Tal ist ein verdammtes Fondue. Drum herum muss die Hölle los sein, ein unglaubliches Gebimmel, mittlerweile ist die Suppe dermaßen dicht, dass sie nicht einmal mehr von den schwarz-weiß gescheckten Holsteinern durchdrungen wird. Das Farbmuster habe ich in einem der wenigen lichten Momente erkennen können.
Längst fühle ich mich wie ein Charakter eines Thrillers von David Lindsay: „Er war der Mittelpunkt, ja mehr noch, er war die eigentliche Natur und Substanz des Nebels.“ Auf der Hotelterrasse soll es sogar Schaumelker geben, die ich schon gerne gesehen hätte bei der Verrichtung ihres Handwerks. Mit demselben Zugführer fahre ich wieder zu Tal, 20 Minuten später. Er hat ein kleines Radio dabei, hört Rap, was nicht so