Bahnfahring. Thomas C. Breuer

Bahnfahring - Thomas C. Breuer


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sehen: Mir geht jegliches Talent zum Reisen ab. Mark Twain und Victor Hugo, die haben das recht passabel hingekriegt mit der verdammten Rigi-Bahn, und das ist schon ein paar Jährchen her. Twain schrieb: „Als ich noch ein Knabe war, pflegte ich die Treppengeländer hinunterzurutschen und ich fand, dass es recht lustig war. Treppengeländer mit einer Lokomotive hinunterzurutschen kann einem aber Schauer über den Rücken jagen.“ Ich würde in dieser Brühe garantiert nicht mal den Knauf am Ende des Geländers erkennen. Örtliche Tourismusveranstalter preisen in ihrer „Vorschau für Romantiker“: »Auf den Spuren von Mark Twain.« Als Romantiker ist mir der Herr nicht in Erinnerung. Victor Hugo hat die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis gesetzt, er habe einsam auf dem Rigi-Gipfel „une jolie petite fleur“ für seine Didine gepflückt. Derlei Glücksmomente sind mir nicht vergönnt, dazu fehlen Zeit, Mittel und eine Didine. Tierfilmer brauchen halbe Ewigkeiten, um jenen Moment zu erwischen, da der Luchs im Jura das Zicklein reißt und der Bauer den Luchs, sie verfügen über genau die Engelsgeduld, die mir abgeht.

      Mark Twain benötigte allein, d. h. mit seinem Reisemarschall, schon mehrere Tage für den Aufstieg und den berühmten Sonnenaufgang hatte er nicht weniger als zweimal verschlafen. Nebel bekam er gratis dazu, als Spezialität des Hauses sozusagen. Wir werden ja lediglich mit dem Endergebnis der Bemühungen konfrontiert. Die Berge und ich, wir schmieden keine Pläne für die Zukunft, so viel steht schon mal fest, da bin ich rigide. Das Berglerische hat in der Eidgenossenschaft ohnehin etwas Obsessives: Mit der Toblerone fängt es an, jedes Stück eine kleine Spitze. Hörnchen oder auch Croissants müssen sich Gipfeli nennen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Nicht zufällig hat sich der Schweizer stets in der Raumfahrt engagiert, auch an den aktuellen Mars-Projekten der NASA ist er maßgeblich beteiligt. Extraterrestrische Aktivitäten sind allemal tröstlicher als die übliche irdische Pein. Dass der erste Weltumrunder im Ballon ein Schweizer war, gehorcht einer gewissen Logik: Wo der horizontalen Ausbreitung rasch Grenzen gesetzt sind, weicht man in die Vertikale aus. Laut Statistik existieren in der Schweiz 160.000 Fahrstühle, im vergleichsweise erheblich größeren Deutschland „nur“ 575.000. Der Slogan einer Bergbahn verheißt: „Willkommen bei den oberen Dreitausend.“ Meine Initiative zur Erhaltung der Bergwelt wird in Zukunft darin bestehen, dass ich sie ab sofort in Ruhe lasse. Am Kiosk in Arth-Goldau bekomme ich später entgangene Panoramen in den schillerndsten Farben als Druckwerk serviert, in diesem Fall in der neuesten Ausgabe des Magazins Berge. Darin wird ein gewisser Friedrich Wilhelm Ritter von Hackländer zitiert, der 1852 behauptet hat: „Man muss auf dem Rigi gewesen sein, um in Gesellschaft von Reisen sprechen zu dürfen.“ Ja was! Und wenn mich dieser Berg eines gelehrt hat, dann, dass es die Rigi heißt, Herr! Ritter! von! Das Tram, Der Risotto. Das Heidi. Das Bikini.

      Auf der Talfahrt kommt augenblicklich die Sonne raus, als hätte sie nur hinter dem Felsen gelauert, ja, fürwahr, sie lacht, wie man so schön sagt, und zwar: mich aus. Rigi gaga. Regina montium – Königin der Berge? Ich bin kein Royalist. Vielleicht liegt darin das Problem. Das Bahnhofsbuffet von Arth-Goldau entschädigt für vieles, ein wenig Art-Déco klingt an. Ich steige in den Zug nach Zürich, auf dem Nachbargleis setzt sich der nach Luzern in Bewegung, eine Zeitlang zotteln wir nebeneinander her, dann biegt der Luzerner zur Westseite des Sees ab, der Zürcher bleibt auf der Ostseite, sie liefern sich ein Wettrennen über einige Kilometer Luftlinie hinweg, bis der Luzerner plötzlich von einem Hügel verschluckt wird. Die Bergspitzen im Hintergrund sind nun deutlich zu erkennen. Rigi, kiss my ass, und was die Toblerone angeht: Die gehört längst Philip Morris.

      Gornergrat: Nebel, Rigi: Nebel. Da ich nun schon in der Innerschweiz bin, sollte ich vielleicht eine unverfänglichere Route probieren. Vielleicht ist Engelberg ein blicksicheres Ziel. Dabei hilft mir das Tagesbillett der SBB. Es soll Rentner geben, die ihre Tageskarte bis zum Anschlag herunterfahren und deshalb morgens um fünf gestiefelt und gespornt am Zürcher Hauptbahnhof in den Zug hüpfen, ein paar Stunden kreuz und quer durchs Land streifen, dort einkehren, wo es das aktuell schweizweit billigste Tagesessen gibt, das sie mit detektivischer Akribie im Internet aufgespürt haben. (Gibt es wahrscheinlich längst als App: Meat XXL.) Sie verschmähen weder Busse noch Schiffe und kehren gegen Mitternacht ermattet wieder in die Agglo Zürich zurück. Von der Hand zu weisen ist diese Theorie nicht, die Züge am Montagmorgen sind hoffnungslos überfüllt und das Durchschnittsalter biblisch. Die Massen produzieren natürlich Verspätungen, überall ist es zunächst voll, ich bin einer von zwei Millionen Passagieren im Jahr. Aber zum Glück möchte heute außer einem Khaki-Pensionär niemand die ganze Strecke bis zum bitteren Ende fahren. Der Mann hat allerdings gerade zu seinem geschätzt 105. Geburtstag ein Natel bekommen und lässt es eine halbe Stunde lang fröhlich fiepen, bis ihn ein giftiger Blick meinerseits zum Schweigen bringt. Vorerst. Handy sollte man die Quälgeister in der Schweiz nicht nennen, so heißt bereits ein Spülmittel.

      Im Kanton Obwalden wurde vor 30 Jahren – Ohren gespitzt – der erste Luchs in der Schweiz wieder angesiedelt, teilt der aktuelle Tagi mit. Und: „Ein 27-jähriger Obwaldner hat in Neapel einen Trickbetrüger aus Rache niedergestochen und schwer verletzt. Der Händler hatte dem Schweizer Touristen eine Natel-Attrappe angedreht.“ Bin ich unter die Wilden geraten? Ist das Handy meines nervtötenden Mitreisenden womöglich eine Fälschung? Die raubtierfreundlichsten Schweizer, hat jüngst eine Umfrage ergeben, sind die italienischsprachigen: Mit Zweidrittel-Mehrheiten heißen sie Luchs, Wolf und Bär willkommen, was daran liegt, dass sie aus italienischen Quellen mehr erfahren über das Verhalten von Wolf und Bär, die in Italien schon länger wieder heimisch sind. Ähnlich wie beim Luchs in der Schweiz, schreibt meine übliche Quelle, hat sich beim Italiener auch bei anderen Raubtieren ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt. Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, wer dabei an wen gewöhnt werden muss.

      In Odermatt wird der Zug getrennt und in zwei Schüben mit Zahnrädern bergauf geschickt: Einklinken in die Zahnstange und los. Steiler steigt eine Boeing beim Start auch nicht. Die internationalen Nummernschilder auf der benachbarten Straße lassen Schlimmes befürchten. Ebenso wenig ermutigend, dass an den Stationen die Höhenmeter in „feet“ angegeben werden. Das Schild „Welcome to Mt. Titlis“ dürfte alle englischsprachigen Besucher erfreuen, mehr noch: Anlocken. Ein richtiger Luftkurort ist Engelberg, mit einem kleinen Park, dessen Sitzbänke allerdings Rätsel aufgeben: Wieso müssen diese in einer sichtlich wohlhabenden Gemarkung von privaten Gönnern gesponsert werden? Nebenbei nicht meine einzige Frage: Ob es denn in Engelberg eine jüdische Hochschule gäbe, begehre ich wenig später von der österreichischen Bedienung zu wissen, weil ich reichlich Sommerfrischler mit Yamulken und Schäfchenlocken auf den Gassen sehe. Näin, sagt sie, aber im Sommer kämen immer viele jüdische Urlauber. Im Winter weniger, eher im Sommer. Aha.

      Ich sitze in einem Straßencafé, über dessen Eingang großspurig „Ihr Treff in Engelberg“ prangt, dabei trifft sich hier gerade keiner mit niemandem. Das Café ist integriert in einen umfassend scheußlichen Hotelneubau der 80er-Jahre mit wannenförmigen Balkonen, vermutlich von einem cracksüchtigen Architekten aus dem Vorstadtfrankreich entworfen. Ich habe mich mit dem Rücken dazu gesetzt, spendiert diese städtebauliche Ungeheuerlichkeit doch dreierlei: 1. Schatten, 2. Schatten und 3. natürlich Schatten. Meine sonnenverbrannte Haut besteht darauf. Der ebenerdige Hochsitz erlaubt ausgiebige Blicke auf das Treiben in den Gassen, auf den greisen Bergführer beispielsweise, der einer wild gestikulierenden Gruppe von Amerikanern voranschreitet. Einer von ihnen fuchtelt vage in Richtung Berge: „Is that where we’re going?“, der Führer schüttelt den Kopf: „Not so high up!“ Damit keine Zweifel aufkommen, flattern Dollarnoten aus seinem Hutband wie bei den Stripperinnen in West Hollywood aus den Slips. Und so schieben sie los, um sich endlich einen Pennälerwunsch zu erfüllen und den Mt. Titlis zu besteigen. Allmählich beginne ich zu begreifen, warum Luchse so scheu sind. Der Pfiff der Lok vom Bahnhof her tönt wie ein empörtes Murmeltier, aber ich gebe noch eine Stunde zu, will ich doch dem genius loci auf die Spur kommen und herausfinden, warum ausgerechnet hier Stephan Eicher so elysische Alben aufnehmen konnte. Vielleicht ist der Sommer dafür weniger geeignet, seine Musik klingt vielmehr kühltemperiert spätoktobrig, off season on 3.300 ft.

      Ich denke angestrengt nach, als mich folgendes Plakat ablenkt: „Vollmond, Zeit der Gefühle. Dann nichts wie los zum Bürgenstock. Tauchen Sie mit dem bekannten Astrologen Andreas Borbas in die Welt der Gestirne ein. Lassen Sie sich über die Bedeutung des Vollmondes – die schamanische Reise zum Mond – die Meditation – den Urschrei – die


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